Auch Richter sind nur Menschen mit individuellen Meinungen (Hobby? Barfuß! 2)

Markus U., Stammposter, Friday, 16.03.2007, 00:57 (vor 6400 Tagen) @ Oliver S.

Hi Oliver S.!

Ich denke, dass es hier keine deutschlandweit einheitliche Linie aller Richter gibt. Als Anwalt erlebe ich schon tagtäglich, dass innerhalb ein und desselben Gerichts der eine Richter eine bestimmte Frage so, ein anderer ganz anders entscheidet. Und gerade, was Gepflogenheiten vor Gericht angeht, erlebe ich, je weiter ich mich vom Heimatgericht entferne, umso stärker, dass das, was in unserem Gerichtsbezirk gang und gäbe ist, an anderen Gerichten völlig anders gesehen und gehandhabt wird.

Es gibt natürlich gewisse Unterschiede, was die Gepflogenheiten an verschiedenen Gerichten betrifft, aber so crass, wie Du die Unterschiede darstellst, sind sie nicht. Es ist halt so, daß man die Richter, denen man an "entfernten" Gerichten gegenübersteht, nicht kennt. Aber das kann einem am Gericht, an dem man selbst zugelassen ist, auch widerfahren. Vertraute Gesichter verschwinden (Pensionierung, Tod, Versetzung etc.), neue erscheinen. Mit weißem Hemd, Krawatte und Anzug bzw. Kombination oder Stoffhose ohne Jakke an heißen Sommertagen kann man nix falsch machen, und wenn man zudem darauf achtet, wie der Hosensaum fällt, dann läßt sich bei Bedarf sogar die Sokkenloosigkeit verbergen, was mir aber meist gar nicht nötig erscheint. Die Robe ist ohnehin obligatorisch, wird aber meist nur während der Sitzung angelegt, und in Jeans oder ohne Krawatte bin ich vor Gericht noch nie aufgetreten und habe das auch nicht vor, während ich, wenn keine Gerichtstermine anliegen, in der Regel in Jeans und ohne Krawatte ins Büro gehe. Ich empfinde die Beratungssituation dann als zwangloser und bin so auch selber weitaus kreativer, als wenn ich mich auch noch an reinen Bürotagen "verkleiden" müßte. Die Mandanten stört es nicht, denn die wollen und bekommen von mir eine kompetente Beratung; ich nehme sie ernst, höre ihnen zu und stelle Fragen, denn bezüglich des Sachverhaltes sind sie mir an Kenntnis überlegen.

Kurz zu den angesprochenen Punkten:

I. Barfuß Autofahren:
Ich hatte noch nie über einen Bußgeldbscheid zu entscheiden, bei dem jemand wegen barfüßigen Autofahrens belangt wurde. Zwar habe ich das Thema nicht so gründlich recherchiert wie es dankenswerterweise Markus U. getan hat, würde aber einen auf barfüßiges Fahren gestützten Bußgeldbescheid sofort und ohne weiteres aufheben. Grund: ich halte Barfußfahren erstens für ungefährlich, sehe zweitens keine Rechtsgrundlage, auf die sich eine Ordnungswidrigkeit stützen würde und fahre drittens selber regelmäßig barfuß Auto (und Fahrrad) ohne das Gefühl zu haben, ich gefährdete damit den Straßenverkehr. Damit ist es (wie wir es nennen) "gerichtsbekannt", dass barfüßiges Autofahren unbedenklich ist. Und damit ist es (zumindest in meinem Amtsgerichtsbezirk) auch erlaubt. Basta.


Das siehst Du so, weil Du selber gerne barfuss gehst und Auto fährst und beziehst Dich ja auch ausdrücklich nur auf "Deinen" Gerichtsbezirk. Aber sieht das der Amtsrichter im Nachbarbezirk auch so? Vielleicht, weil er Dich kennt und schätzt. Oder er kann Dich nicht leiden und ist aus Prinzip anderer Meinung? Was ist mit dem stockkonservativen älteren Richterkollegen, der vielleicht drei Bezirke weiter judiziert?

Die persönliche Vorliebe von Ludwig E. für barfüßiges Autofahren hat in der schriftlichen Urteilsbegründung nichts zu suchen und kann mündlich allenfalls beiläufig (!) erwähnt werden, während die Einschätzung des barfüßigen Autofahrens als ungefährlich bereits schwerer wiegt (die gegenteilige Ansicht dürfte auch viel schwieriger zu begründen sein), aber daß es keine Rechtsgrundlage dafür gibt, barfüßiges Autofahren als ordnungswidrig anzusehen, ist unabweislich und über alle persönlichen Vorlieben erhaben. Jeder Versuch, eine solche aus § 23 Abs. 1 StVO herzuleiten (besagte Norm habe ich bereits weiter oben zitiert und andere kommen erst recht nicht in Frage), ist an den Haaren herbeigezogen und kann daher vor einer rechtlichen Überprüfung keinen Bestand haben. Ich habe es gar nicht selten erlebt, daß Richter pflichtgemäß nach Recht und Gesetz geurteilt haben, obwohl sie persönlich anderer Ansicht waren und das auch nicht verhehlten, aber die Richter sind eben gemäß Art. 97 Abs. 1 GG dem Gesetze unterworfen.

2. Barfuß im Gerichtsaal
Ich lege schon Wert darauf, dass im Gerichtssaal eine gewisse Ordnung herrscht und ziehe, was Kleidung und Auftreten angeht, Grenzen. Ich selbst trage an Sitzungstagen ja schließlich auch Robe weißes Hemd, dunkle Hose und Halbschuhe. Barfuß, Sandalen, Jeans kämen für mich persönlich aus Respekt vor der Sache nicht in die Tüte - wenn ich Leute in den Knast schicke oder ihnen den Führerschein abnehme, finde ich es unangemessen, dies ganz locker in Shorts und Badelatschen zu tun.


Vollkommen richtig und lobenswert (sehen allerdings auch nicht alle Deine Kollegen so), wobei sich auch hier schon die Frage der Maßstäbe stellt. Du sagst, schon Jeans sind nicht okay. Andere würden vielleicht sagen, zu Beginn des 21. Jahrhunderts kann man problemlos zu weißem Hemd, Krawatte und Jackett auch Jeans tragen, ohne dass das dem Respekt vor irgendeiner Sache abträglich wäre. Wieder andere würden vielleicht aber noch weiter gehen und sogar den dunklen Anzug für unverzichtbar und bereits eine Business-Kombination für unangebracht halten.

Da die Richter die schwarze Robe tragen und während der Verhandlung hinter der "Theke" sitzen, kann man sowieso die meiste Zeit nicht sehen, was sie untenrum anhaben (obenrum tragen die Herren unter der Robe ein weißes Hemd mit weißer Krawatte und die Damen eine weiße Bluse), aber ich habe durchaus schon Richter in Jeans oder sokkenlos (allerdings nicht barfuß) und im Sommer 2003 auch eine Richterin (Familienrichterin, nicht Strafrichterin) in Flipflops gesehen.

Entsprechend erwarte auch von den unmittelbar Beteiligten zumindest das Bemühen um in Minimum an Form. Genau gesagt: Auf die Zuschauer achte ich relativ wenig, bei Anwälten, Angeklagten und Zeugen gibt es die klare Anweisung: Mütze ab, Kaugummi raus und Telefon aus. Was Kleidung betrifft, hatte ich allerdings(abgesehen von Mützen, die auf meinen Hinweis auch immer brav abgenommen werden) eigentlich noch nie Probleme, aber ich würde mal sagen: Nackte Oberkörper würde ich keinesfalls tolerieren, extrem kurze Hosen würde ich zumindest rüffeln, aber trotzdem hinnehmen (man will den Termin ja irgendwie auch zum Ende bringen), nackte Füße in Sandalen sind bei Zeugen und Angeklagten sowieso allgemein üblich und bei Anwälten (zumindest Anwältinnen - scheint eher ein Frauenphänomen zu sein) eigentlich auch.


Du legst offensichtlich Wert darauf, dass die Verfahrensbeteiligten die Mützen abnehmen. Kollegen von Dir wäre das vielleicht egal, aber sie würden sehr wohl feste Schuhe erwarten.

Ich finde, daß es an der "Sitzungspolizei", wie Ludwig E. sie schildert (Mütze runter, kein freier Oberkörper, scharfer Rüffel für kurze Hosen, barfuß ohne Beanstandung) nichts auszusetzen gibt. Mir gefällt das so.

Barfuß kam tatsächich noch nie vor, aber damit hätte ich nicht das geringste Problem. Es kommt doch auf den Gesamteindruck an: Wenn ein Zeuge in Badekleidung und mit Schuhen erscheint, würde mich das eher stören, als wenn er eine lange Hose trägt und dafür keine Schuhe.


Und wer entscheidet über den Gesamteindruck? Was für Dich noch okay ist, ist es für den konservativen älteren Kollegen vielleicht schon lange nicht mehr.

Das ist eben das Risiko, das jemand, der barfuß im Gerichtssaal erscheint, tragen müßte. Andererseits muß sich ein Richter auch überlegen, daß er den Termin (und damit auch die Sache) zu Ende bzw. voranbringen will und daß es gegen Maßnahmen nach § 178 GVG, sofern sie nicht vom Bundesgerichtshof oder einem Oberlandesgericht verhängt werden, die Möglichkeit der Beschwerde durch die Betroffenen gibt.

III. Im Gerichtsgebäude allgemein
Außerhalb des Gerichtsaals ist es relativ locker: Meine Geschäftsstellenbeamten (Sekretariat) latschen mir regelmäßig barfuß durchs Büro, was ich an heißen Sommertagen nur voll unterstützen kann, und von meinen Referendaren bin ich zu meiner Belustigung schon gefragt worden, ob ich Sandalen erlauben würde - was ich mit der Bemerkung quittiert habe, dass sie gerne barfuß in die Sitzung kommen dürfen, solange sie ein weißes Hemd/Bluse tragen.


Bei unseren Gerichten wäre (je nach Ausbilder) die Hemdfarbe der Referendare ziemlich egal, aber barfuss würde bestimmt nicht toleriert.

Zu meiner Referendarzeit war barfuß im Gerichtssaal undenkbar, aber Sokkenlosigkeit wurde im Sommer (im Winter trug ich damals vorsichtshalber doch lieber Sokken) nicht beanstandet.

Fazit: Eine allgemeingültige Linie über die Gerichtsbezirke hinweg gibt es zum Thema Barfuss wahrscheinlich genauso wenig, wie zu allen anderen Themen und es wäre weltfremd anzunehmen, dass die persönlichen Moralvorstellungen eines Richters seine Auslegung des Rechts und seine Verhandlungsführung nicht prägen würden.

Das ist gewiß so und sollte auch allgemein beherzigt werden, aber ein anderes Ergebnis als die Aufhebung eines wegen barfüßigen Autofahrens ergangenen Bußgeldbescheides halte ich rechtlich für gar nicht vertretbar.

Im übrigen freue ich mich, dass außer drei Anwälten nun auch ein sehr sympathisch und kompetent rüberkommender Richter im Forum schreibt und hoffe, demnächst noch mehr von Dir zu lesen.

Dem schließe ich mich an.

Barfüßige Frühlingsgrüße,
Markus U.


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