Versuch eines Rates (Hobby? Barfuß! 2)

Francisco, Sunday, 22.07.2001, 15:46 (vor 8529 Tagen) @ beate

Versuch eines Rates

Sehr geehrte Frau Beate!

Es ist gut, daß Sie uns eine Gelegenheit zur Reflexion geben, indem Sie aus der Sicht der Mutter zu dem Thema beitragen.
Es sind schon einige Dinge gesagt worden, aber ich möchte versuchen, das, was sie als Problem schildern,
so zu erläutern, daß Sie etwas damit anfangen können, wenn Sie möchten. Es ist dann Ihnen überlassen, wie sie die Dinge behandeln.
Zum Ersten möchte ich auf Ihre Nachkriegserlebnisse und die Sache mit der barfüßigen Lebensweise Ihrer Tochter eingehen.
Sie berichten, daß Sie in der Nachkriegszeit barfuß zur Schule mußten, über Schotter und Steine und dies als schmerzhaft und unschön empfanden. Hinzu kamen die Demütigungen Ihrer Mitschüler/innen. Wo diese nichts dabei fanden, hatten Sie Schmerzen, sowohl körperliche, da Sie anscheinend etwas sensibler waren, als auch seelische, denn anscheinend wurden Sie damals als "Heulsuse" abgelehnt. Das führte zu einer tiefgehenden Verunsicherung, welche sich ins Unterbewußtsein durch Verdrängung eingrub. Man spricht in dem Fall von einer "Prägung" oder "Traumatisierung", je nachdem, wie stark die emotionale und soziale Belastung dabei war.
Bitte nehmen Sie es mir nicht übel, wenn ich sehr psychologisch klinge, aber sie sprachen den sozialhygienischen Aspekt an, welcher sich auch durch psychosoziale Zusammenhänge und Faktoren auszeichnet.
Durch die ganzjährige, durchaus in unseren Breiten faktisch ungewöhnliche, Barfüßigkeit Ihrer Tochter, sind Sie verunsichert. Das kommt in Ihrem Schreiben deutlich zum Vorschein. Dabei müssen mehrere Faktoren berücksichtigt werden, welche aber miteinander zu tun haben:
Erstens: Bei der ersten Problematik spricht man von Projektion. Sie verbinden unbewußt die Freude der Barfüßigkeit Ihrer Tochter mit Ihren eigenen Erlebnissen. Das heißt: Einerseits fragen sie sich (unbewußt), weshalb die anderen Kinder damals nicht so sensibel waren wie sie, andererseits aber spricht eine gewisse Sehnsucht nach verloren gegangener Kindheit daraus, da sie sich innerlich wünschen, sie hätten das damals auch so genießen können oder als normal empfinden, wie die anderen Kinder oder heute Ihre Tochter).
Projektion ist bei Menschen ein durchaus gängiges Verhaltens- und Denkmuster (wenn auch, wie gesagt, unbewußt). Allerdings sollten Sie sich dieses Phänomens bewußt werden, um konstruktiv damit umgehen zu können. Das ist keine Aufforderung zum Umdenken, sondern eine Anregung zur Reflexion.
Der zweite Faktor ist die Angst vor Nichtakzeptanz. Es ist völlig normal, daß sich ein Mensch danach sehnt, akzeptiert zu werden, denn dies führt zum Gefühl der Geborgenheit in der Gruppe, zur Sicherheit über den eigenen Status. Auch dies ist völlig in Ordnung, da der Mensch an sich ein Wesen ist, das von frühester Vergangenheit an dazu neigte und noch neigt, sich zu Gruppen zusammen zu schließen, also sozusagen als animal sociale, als soziales Tier, wobei Letzteres biologisch und nicht abwertend gemeint ist, ich bitte mir das nachzusehen.
Sie fühlen sich verunsichert, weil Eltern sie anrufen, Nachbarn sie ansprechen und fühlen sich ausgegrenzt, weil die Akzeptanz bedroht scheint. Auch dies ist ein großenteils unbewußter Faktor, welcher jedoch offensichtliche Verunsicherung erzeugt. Das ist völlig normal. Jedoch kann die Situation konstruktiver angegangen werden, wenn Sie sich der Sache bewußt werden.
Hinzu kommen Ängste bezüglich der sozialen Akzeptanz Ihrer Tochter, da Sie durch die Mitmenschen unter Druck gesetzt werden und eventuell (unbewußt) nichts Gutes für Ihre Tochter befürchten.
Ein weiterer Faktor ist folgender: Ihre Tochter ist 17. Langsam nabelt sie sich ab. Sie verlieren die Aufsicht und Kontrolle über sie. Das Mädchen will ihre eigenen Wege gehen. Dabei geht es um einen Prozeß des Loslassens.
Die Mechanismen des Brutpflegeinstinktes greifen nicht mehr. Das ist immer ein schmerzhafter Vorgang. Manchmal meinen sie vielleicht, daß Ihre Tochter sie nicht liebt, aber das ist falsch. Sie wird flügge. Sie entdeckt neue Funktionen an ihrem Körper, auch die Sinnlichkeit. Gerade Barfußlaufen ist eine sehr sinnliche Erfahrung, die sehr genußvoll sein kann.
Festhalten und zu dominieren zu versuchen ist hier genau falsch. Es muß ein liebevolles verständnisvolles Loslassen geben, was immer schmerzvoll ist, aber auch gut ist für beide Seiten. Ihre Tochter wird jetzt erwachsen, und viele Eltern haben Probleme damit, nicht mehr das dominante Wesen im Rudel zu sein. Das ist für Menschen völlig normal, wenn auch meist äußerst lästig, hat aber mit dem Zwiespalt zwischen dem natürlichen Instinkt und den veränderten Umweltbedingungen (auch den sozialen) zu tun.
Dazu kommt noch, daß all diese Dinge sich verketten, vernetzen und wieder aufeinander reagieren. Das ist etwas, dessen sich die meisten Menschen nicht bewußt sind. Weder sie noch Ihre Tochter brauchen eine Therapie, seien sie beruhigt, sondern was nötig ist, das ist Reflexion über die Mechanismen, die ablaufen, um damit zu einer Übereinkunft zu gelangen, die beide Seiten tragen können.

Nun zu Ihrer Angst um den Dreck auf der Straße. Sicherlich gibt es in unserer hochmodernen Gesellschaft einige unerfreuliche Dinge auf der Straße, ohne Zweifel. Aber er wird nur deswegen als Problem begriffen, weil er meist sichtbar ist, während der Dreck im Trinkwasser, in der Atemluft und in der Nahrung weniger deutlich ist.
Sie fragten, welchen Nutzen das Laufen durch Dreck hat. Dazu ein paar Überlegungen: Der meiste Dreck auf den Straßen ist organisch, also relativ kurzlebig und neigt zum schnellen Zerfall, stellt also keine Bedrohung dar. Scherben sind schon eher ein Problem. Was Hundekot angeht, nehme ich an, daß Ihre Tochter ein vernünftiger Mensch ist und achtet, wo sie hintritt und nicht absichtlich hineintritt.
Vielen Gefahren kann man ausweichen. Was den Rest des Drecks angeht, also den organischen Zerfallsprodukten und Staub, Sand, Chemikalien, die aus atmosphärischem Staub und anderen Emissionen bestehen:
Da Ihre Tochter ständig damit konfrontiert wird, trägt das häufige Barfußlaufen zu einer Stärkung des Immunsystems bei. Sie ist gegen Schwankungen der Witterung aber auch dem einwirken externer Faktoren (i. e. Substanzen) nicht mehr so empfindlich gegenüber. Es hat also einen durchaus medizinischen biologischen Nutzen. Hinzu kommen Faktoren wie Auswirkungen auf das Skelett, die durchaus von Vorteil sind. Wer barfuß läuft, hat ein gesünderes skelett als Menschen, welche ständig hochhackige Schuhe und dergleichen tragen.

Eine anregung: Versuchen Sie, sich mit Ihrer Tochter auszusprechen unter Berücksichtigung der oben genannten Mechanismen und lernen Sie, Ihre tochter auch wenn diese einen "merkwürdigen" Lebensstil zu haben scheint, anzunehmen, wie sie selbst gern von Ihr angenommen werden möchten. Dann ist auch das Loslassen nicht ganz so schmerzhaft.

Um sich ein wenig mit den Mechanismen des Denkens auseinanderzusetzen, möchte ich Ihnen gern das folgende Buch ans Herz legen. Es heißt "Der neue Prometheus" und ist auf humorvolle, verständliche Weise geschrieben.
Der Autor ist Robert Anton Wilson und erschienen ist es bei rororo.

Ich kann verstehen, daß Ihnen das alles nicht leicht fällt, aber ich denke, daß es ein guter Schritt war, sich an dieses Forum zu wenden.

Respektvoll und mit freundlichen Grüßen,

Francisco


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