Einstellungen können sich ändern (Hobby? Barfuß! 2)

JürgenR ⌂, Thursday, 27.03.2003, 12:43 (vor 7856 Tagen) @ aquajeans

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Hallo Aquajeans,

bevor ich vor 2 1/2 Jahren zuerst zum Langstreckenläufer und dann vor fast einem Jahr zum Barfußgeher wurde, hätte ich die meisten Leute in den Beispielen, die Du aufführst, für mehr oder weniger verrückt gehalten und wäre ihnen zumindest mit Skepsis gegenübergetreten.

Meine gegenwärtige Einstellung ist so, dass ich die Messlatte, jemanden für verrückt zu erklären, in Höhen lege, die ich früher nicht für möglich gehalten hätte.

Zur Erklärung: Ich mache meine ersten Schritte in der Ultramarathon-Szene - das sind Leute, die von der übergroßen Mehrheit der Mitmenschen für absolut bekloppt gehalten werden. Daran zeigt sich, wie weit sich der Durchschnitts-Wohlstandsbürger von dem entfernt hat, was eigentlich für Homo sapiens völlig natürlich ist. Für Leute, die den Arbeitstag am Schreibtisch und den Feierabend Bier trinkend und Kartoffelchips essend vor dem Fernseher verbringen, ist allein schon der Gedanke verrückt, 42 Kilometer und mehr zu rennen, aber diese Fähigkeit liegt in unseren Genen und ist einfach nur verschüttet. *Jeder*, der gesund ist und 42 oder mehr km rennen will, kann das nach entsprechendem Training. Als Neuling in der Ultramarathon-Szene war es für mich überraschend zu lernen, wie "normal" doch die allermeisten dieser Leute sind. Sie stehen mit beiden Beinen im Leben und sind überhaupt nicht irgendwie "abgehoben" oder "durchgeknallt". Dies gilt auch für die Extremläufer darunter, die z. B. in einem Jahr 50 und mehr Marathon- und Ultramarathonläufe bestreiten, oder die an Extrem-Events wie dem Tausend-Meilen-Lauf in New York teilnehmen. Ich stellte sogar fest (und es ist mir bewusst, dass diese Einstellung subjektiv ist und der unvermeidbar selektive Blick andere Ergebnisse bringt als eine möglichst neutrale, statistische Untersuchung), dass einige Eigenschaften unter den Ultras weiter verbreitet sind als in der Durchschnittsbevölkerung: die Welt mit wachem Verstand wahrzunehmen, anderen zuhören zu können, mit Misserfolgen umgehen zu können, Toleranz nicht nur als Lippenbekenntnis auszuüben, gelassen und entspannt zu sein, genießen zu können usw.

Die Minderheit der Barfüßer, die ich leider bisher nur virtuell über dieses Forum kenne, erscheint mir unter den genannten Aspekten mit den Ultramarathonis durchaus vergleichbar.

Ich möchte hier allerdings keine Heile Welt bei den Ultramarathonis und den Barfußgehern beschwören. Es gibt unter ersteren durchaus auch Typen, mit denen ich persönlich nichts zu tun haben möchte; von letzteren kenne ich noch niemanden im realen Leben. Was mir vor allem ein Gräuel ist, sind Leute, die mit ihrer Passion missionarischen Eifer verbinden und Nichtläufer (oder auf dieses Forum übertragen: Schuhträger) für krank und degeneriert erklären und überheblich auf diese herabschauen.

Hier komme ich auf den Kern Deiner Frage: Ich würde heute, wenn ich Leuten wie in den von Dir genannten Beispiel begegne, beobachten, ob es sich um missionarische Eiferer handelt, vor allem, wenn es sich um Lehrer meiner Kinder handeln würde, und ggf. entsprechende Konsequenzen ziehen. Die soziale Grenze liegt für mich zwischen missionarischem Eifer und unverkrampfter Lebenseinstellung. Es ist mir klar, dass diese Grenze manchmal schwierig zu erkennen ist.

Ich habe übrigens oft die Erfahrung gemacht, selbst von anderen in die Schublade des missionarischen Eiferers gesteckt zu werden. Manche Leute machen es sich zu leicht: Wenn jemand etwas Ungewöhnliches und von der Gesellschaft nicht allgemein Akzeptiertes tut, wird er ohne viel zu überlegen als Außenseiter abgestempelt, und an einem Außenseiter lassen sich bequem weitere Vorurteile festmachen.

Wenn man in dieser unangenehmen Situation ausreichend Durchhaltevermögen hat und zu seiner "Sonderbarkeit" steht, dann stellen sich viele Mitmenschen als lernfähig heraus. Früher oder später wird man von den meisten, deren Blicke vorübergehend überdeutlich ausdrückten "Jetzt ist er total verrückt geworden", akzeptiert und wieder in den Kreis der "Normalos" aufgenommen.

Abschließend noch eine kurze Charakterisierung meines Barfuß-Gehens, da ich gerade erst hier aus dem Nur-Leser-Status aufgetaucht bin: Seit April 2002 gehe ich fast täglich barfuß, meist in der Mittagspause oder auch als Regenerationseinheit an lauftrainingsfreien Tagen, und habe riesig Spaß dabei, auch im Winter bei Frost bis -7 Grad (bei -10 Grad hörte der Spaß auf, da war ich nach zwei Minuten wieder im Warmen), und neuerdings bei Wanderungen bis 3 1/2 Stunden. Ich gehe bei fast jeder Gelegenheit im Freien barfuß, vermeide allerdings geschlossene, öffentliche Räume, z. B. Verkehrsmittel oder Geschäfte. An Konfrontationen mit Leuten, die Ekel vor nackten Füßen empfinden, habe ich kein Interesse, und gehe deshalb nicht barfuß einkaufen, vor allem nicht in Lebensmittelgeschäften. NB: Barfüßer, die dies tun, erkläre ich ausdrücklich *nicht* a priori für verrückt. Wie gesagt, die Meßlatte für Verrücktheit lege ich jetzt höher als früher, als ich als angepasster Bürger das sein ließ, "was man nicht tut".

Wie schön wäre es doch, wenn wir in Mitteleuropa ein bisschen neuseeländische Lockerheit verbreiten können - oops, jetzt spricht doch der Missionar ;-)

Ich sehe hier im Forum, dass andere mehr von dieser Lockerheit entwickelt haben als ich, und freue mich auf zukünftige anregende Diskussionen.

Viele Grüße,

Jürgen

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"Gar nicht verrückt ist auch nicht normal."
(Christian Hottas, ein Original aus der Ultramarathon-Szene)

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