Weite Gremzen zwischen Tendenzen & realen Extrema (Hobby? Barfuß! 2)

Jay, Stammposter, Tuesday, 22.05.2007, 12:39 (vor 6332 Tagen) @ Markus U.

Hi Markus,
so wie´s Menschen gibt, die mit ganz leichten O-Beinen nicht die geringste Gehbehinderung haben, gibt´s welche, die mit dem gleichen Syndrom Krüppel sind, so ist es auch mit dem Autismus. Als BF bin ich übrigens nicht nur sehr tolerant, sondern auch sehr behindertenfreundlich. Es gilt für mich die Maxime:

Edel sei der [vor allem der barfüßige] Mensch, hilfreich & gut.

Zusätzlich empfehle ich das, was Paul Watzlawick (kürzlich verstorben) in "Anleitung zum Unglücklichsein" daraus machte (z. B. siehe Wikipedia) als Lektüre, die ein BF kennen sollte.

Als wir bei unserem letzten Treffen die Mall, in der sich mein Frühstücks-Stammcafe´ befindet, verließen (wir hatten vorher 2 meiner Mitabiturienten gesehen, die freundlich grüßten & nach meinen Füßen sahen, ob sie noch in ganz speziellem Sinne dawären), erwähnte ich, daß ich 2 Doppelgänger hätte, die früher im Umland wohnten (einer in Hallbergmoos, der andere in Landshut). Schon komisch, wenn man unter anderem Spitznamen gegrüßt wird & die Frage kommt: "Nanu, du gehst auf einmal barfuß?"

Ersteres Double lernte ich per Zufall kennen. Das war jemand mit einer autistischen Behinderung. Er sprach nur in ganz kurzen Sätzen mit wenig Worten, war mir wie aus dem Gesicht geschnitten, in etwa gleich groß, gleicher Körperbau, noch schlanker als ich. Er trug stets eine bestimmte Art Turnschuhe, & zwar die, die man als San Francisco-Typ in den späten 1960ern trug. Er war ultraschüchtern, es war z. B. unmöglich, ihm begrüßungshalber die Hand zu drücken. Er durfte nicht berührt werden - nicht, daß er handgreiflich wurde, sondern er bekam Angst- & Panikattacken und sprach dann überhaupt nicht mehr, man merkte aber irgendwie, daß das andere Gründe hatte als Wut oder LMAA. Zufallshalber erfuhr ich von einer Grundschullehrerin in Hallbergmoos, daß das wenige, was er sprach, ultrafrech war. Zudem hatte er einen Motorradführerschein & hatte einen außerordentlich ungehemmten Fahrstil. Er trug wildeste Achselshirts (sah super damit aus) & noch etwas hab' ich von dieser Person übernommen: meinen Paartagesbart. Bis zum Alter von 30 Jahren war ich stets glattrasiert, & in der unmittelbaren Zeit danach (als nunmehr "bärtiger", damals besser als heute aussehender BF) bekam ich oft zu hören (ein wenig neckend, aber insgesamt freundlich-wohlwollend): "Aaah, Jesuslatschen!" (ich hab' das hier schon mal gebracht, deswegen schrieb es bei Jörg(Hanna)´s Repliken auf "Eine schöne Stimme in Bayrischzell" [Beitrags-Date: 25.04.2007] nicht noch einmal).

Das ist die Geschichte meines Bartes.

Derjenige, von dem ich das übernahm, hatte schon einen mächtig autistischen Einschlag (nur von jener Grundschullehrerin lernte ich den Begriff "Autismus" überhaupt kennen). Übrigens abiturierte er an der gleichen Schule wie ich, wurde Naturwissenschaftler & gilt heute in seinem Beruf als Genie. Hat er deswegen einen Schlag? Er kann ganz ohne Psychiatrie leben, ist allerdings sehr einsam & es kümmert ihn gar nicht, daß er das ist. Denken wir zusätzlich einmal extrapolativ. Was wäre wohl geworden, wenn dieser Ultraschüchterne (das war er zweifellos irgendwo) statt seinem Faible für unbekümmert-wildestes 2radfahren ein solches für BF entwickelt hätte? Mit seiner wortkargen, trotzdem völlig irrwitzig frechen Art wäre etwas Ähnliches herausgekommen wie ich. Deshalb schrieb ich:
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Tatsächlich meinte ich mit der These, daß man als BF irgendwo auch Autist sein muß, etwas anderes. Es ist vor allem eine pauschale Gleichgültigkeit, Wurschtigkeit dem gegenüber, was andere Menschen machen (und wie sie beispielsweise auf BF reagieren), Menschen sind für Autisten mehr [begrenzt] berechenbare Objekte als Subjekte. Selbstbewußtsein ist für mich ein ausgesprochen unscharfer Begriff. Ich bin ein extrem technisch-mathematisch denkender Mensch, bei mir muß z. B. Selbstbewußtsein = Selbstrealismus sein. Ich bin gezwungen, genau zu wissen, wie schnell oder wie leistungsfähig ich bei diesem & jenem bin. Autisten sind die geborenen BFs. Wikipedia schreibt gegenwärtig:
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Es gab zu verschiedenen Zeiten unterschiedliche Vorstellungen über die Entstehung von Autismus. Im zaristischen Russland etwa glaubte man, dass autistische Kinder als besonders religiöse Menschen zur Welt gekommen seien und sich freiwillig für ein Leben jenseits aller Konventionen entschieden hätten. Aus überlieferten Berichten weiß man, dass Autisten in Lumpen durch den russischen Winter liefen, ohne sich vor der Kälte zu schützen. Sie sprachen selten, ihr Verhalten erschien merkwürdig und sie missachteten Gesetz, Ordnung und soziale Regeln. Man nannte sie deshalb "heilige Narren" und glaubte, ihr Verhalten verschlüssele göttliche Botschaften.

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& selbstverständlich liefen sie nicht nur in Lumpen, sondern zusätzlich BARFUSS...

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x Jenseits so mancher Konventionen
x Nonkonformismus
x "Lumpen" (mein Nichtanzug- & Nichtkrawatten-Outfit)
x Mißachtung von "Benimm"-Gesetzen, gesellschaftlichen Hack- & Kleiderordnungen, sozialen Regeln (WER darf WELCHES Auto fahren? Über die neue 4rad-"Unterwürfigkeit" in der Industrie schreibt bereits die Stil- & Etiketteliteratur, fehlender Anzug, Krawatte gilt ja nicht mehr als Armut, sondern vor allem als fehlende Respektlosigkeit vor irgendwem oder irgendwas).

Irgendwie hat das was zumindest mit meiner BFigkeit zu tun. So könnte ich mich einfach selbst definieren.
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Ich habe diese Darstellung in Wikipedia ebenfalls gefunden, und sie hat mich sehr erbost, denn hier wird wieder mal der Versuch unternommen, ohne jedes Verständnis Menschen, die sich ungewöhnlich verhalten, eine schwere Makke zu unterstellen.

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Ja, wobei die Sache "Autismus" aber meines Erachtens wirklich so zu sehen ist wie die Sache mit den O-Beinen. Die Grenzen zwischen einem gewissen "tendenziellen" "Einschlag" als persönlichem Charakteristikum & einem wirklichen Geisteskrankheitsdefekt sind enorm weit.
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Die Narren in Christo, auch als "jurodivy" bezeichnet, waren Heilige, die ihren Zeitgenossen auf eine ganz spezielle Art einen Spiegel vorhielten...

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Das mit dem "Seinen Zeitgenossen einen Spiegel vorhalten" schrieb übrigens auch Descalzar (es ist meines Erachtens eine der wertvollsten Stellen im gesamten Forumsarchiv), als er sich früher weitaus intensiver mit Gesellschaftskritik befaßte. Er berichtete, daß er damit anfing, als er sich einst veränderte, seine Matte wachsen ließ & zum Barfußläufer wurde.
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... und sich, auch wenn sie in Speck & Dreck rumliefen, sich vor Huren verneigten und Kirchenbesucher mit Schlamm bewarfen...ganzjährig...selbstverständlich barfuß liefen...

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Diese Art hab' ich selber, nur anders. Vor langem hatte ich einmal einen netten Disput mit einem Münchner Polizisten wg. Falschparken vor irgendeinem Denkmal, das irgendeinen Herzog aus dem Hause Wittelsbach zeigte. Ich kam gerade noch rechtzeitig zurück, bevor der Abschlepptycoon gerufen war. Auf seine moralische Standpauke erwiderte ich, die sollen doch endlich diesen Versager, der x Kriege verloren hat, für Hunger & Seuchen etc. verantwortlich war, abmontieren, um mehr Parkspace freizugeben...
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Ich mache mir schon seit einiger Zeit Gedanken darüber, was das innerste Wesen der "Barfuß- Persönlichkeit" ausmacht, d. h. bei welchem Persönlichkeitstyp BF von der "breiten Masse" (ein paar krankhafte "Pedibus- nudis- Phobiker fallen hier nicht ins Gewicht) als besonders stimmig wahrgenommen wird, wobei ich mich in meinen Ausführungen aufs männliche Geschlecht beschränke. So habe ich bemerkt, daß Barfüßer eher akzeptiert werden, wenn sie lange Hosen tragen, obwohl auch dann die Barfüßigkeit sehr wohl wahrgenommen wird. Wichtig ist, daß die Kleidung sauber und nicht offenkundig schadhaft ist und auch die "Matte" gewaschen ist und einen gepflegten Eindruck macht. Dagegen ist die Rasur nicht so wichtig (Paartagebart oder kurzer Vollbart paßt gut zu BF). Langhaarige Barfüßer wirken authentischer als kurzhaarige (warum das so ist, weiß ich nicht). Die Kleidung kann ruhig bunt sein, sollte aber nicht zu extravagant sein (ich trage zu barfuß außer langen Hosen im Sommer meist ein Hemd oder T- Shirt, an kühlen Tagen mit einer Weste oder Jakke, nach Lust & Laune auch Sakko, kombiniert) und farblich zusammenpassen. Der Preis spielt keine Rolle; die Sachen dürfen ruhig auch teuer sein. Bei vermuteter BF- Feindlichkeit vermeidet man Konfrontationen durch den berühmten "entschlossenen Blick", mit dem man unerwünschte Kontaktaufnahme in den meisten Fällen schon im Vorfeld verhindern kann.

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Dies ist allerdings eine so schwierige Frage, daß sie unmöglich an dieser Stelle behandelt werden kann. Dies müßte in einem eigenen Thesenpapier (das heißt ja "Posting" eigentlich) geschehen, frühestens in der KW 23 käme ich dazu - insbesondere müßte aber vorher über die Frage nachgedacht werden, ob nicht doch letztendlich gilt: Alle können barfußlaufen, solange sie ihr Ambiente nicht geruchs- & pilzverseuchen, darüberhinaus gibt es natürlich betont häßliche Menschen & optisch betont häßliche Füße. Aus Termin- & Längengründen möchte ich jetzt nicht noch mehr schreiben, ich glaube z. B., daß die charismasteigernde Wirkung von BF bei langhaarigen Männern dahin ist, wenn diese stark übergewichtig sind. Der dickste Mensch, den ich zeitlebens sah, ist der Unitrode (eine Texas Instruments-Tochter)-Entwicklungsingenieur Larry Wofford. Der ist zwar nicht langhaarig, aber wirklich eine Kugel, aus der Ärmchen mit Händchen und Beinchen mit total fett besockten & beschuhten Füßchen 'rausstehen. Er ist zwar nicht sehr groß, aber wenn der keine den Umständen optimierte Maßschühchen trägt - die armen Füßchen, die dieses Gewicht tragen müssen. BF brächte ihm aussehens-/charismamäßig nichts, er würde mit BFigem Herumtrippeln genauso komisch aussehen wie mit Schuhen.
Aber bitte jetzt keine Diskusion zum Thema "Barfuß & Übergewicht" anzetteln, zumindest mit mir nicht. Ich hab' momentan überhaupt keine Zeit, solche 'Abhandlungen' zu schreiben wie diese schon wieder. Kurze, bündige Fragen, die voraussichtlich kurze, bündige Antworten implizieren, beantworte ich selbstverständlich gerne. Wollte eigentlich in diesem Monat nur passiv am Forum teilnehmen.

Grußwort diesmal: Mein barfüßiges Mitgefühl mit allen Übergewichtigen, die auch noch ungute Schuhe tragen (müssen). Die von den Füßen herstammende Pein wird durch viele Pfunde wahrscheinlich verschlimmert.
Ciao, Jay
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Anhang

Was ist eine "Firmario"?

Italienisches lustiges Wort für "Sippschaft" [Verwandtschaft, vorwiegend in nicht gerader Linie]. Meine hat mich & mein BF größtenteils immer ziemlich gegen meine meckernde Mam' unterstützt. Meiner Vermutung nach sind Verwandte allgemein [auch Barfuß-] toleranter als Eltern.


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