Gute Gedanken... (Hobby? Barfuß! 2)

Bernd (Frankfurt), Stammposter, Thursday, 18.10.2007, 11:43 (vor 6182 Tagen) @ Bastian aus Mönchengladbach

Hallo Bastian,

für deine ausführliche Mail, in denen du uns deine Gedanken nahe bringst, danke ich dir sehr.

Du bist schon eine lange Zeit barfuß - bewundernswert, wie ich finde, allerdings auch beneidenswert, denn aus beruflichen Gründen kann ich nur privat meine Schuhe ausziehen.

Dass die psychologiche Seite der Werbung nicht zu unterschätzen ist, wurde mir klar, als ich vor einigen Jahren erfuhr, dass Werbepsychologie mittlerweile ein vollkommen anerkanntes Forschungsgebiet in der Wissenschaft darstellt. Sofern meine Selbsteinschätzung dies zulässt, habe ich mich dadurch, dass ich Mitte der 90er Jahre meinen Fernsehkonsum auf _fast_ null reduziert habe, verändert, was sich in meiner Reaktion auf massive Druckbeschallung ganz gut zeigt: in der Fußgängerzone, in Kaufhäusern, auf irgendwelchen dummen (Zwangs-) Veranstaltungen, überall dort, wo die Industrie gezielt durch Ansagen, Promotion-Leute, Bildschirme und dergleichen massiv auf mich einzuhämmern versucht, fühle ich mich langsam unwohl, bis ich dann nahezu aggressiv werde und das Weite suche, den Ort verlasse.

Auch ich bin der Meinung, dass der derzeitige Sommer-Hype um den Flipflop am Männerfuß im krassen Gegensatz zum Körpergefühl, wie es sich mir persönlich darstellt, steht. Auch wenn bei vielen Männern - vielleicht schon bei 20 Grad Celsius draußen - im Inneren der Wunsch nach Barfußlaufen besteht, hadert der eine oder andere mit sich, weil er gegen "die gute Sitte" verstößt und sich eventuell Anfeindungen ausgesetzt sieht, denen er sich nicht stellen will oder kann. Ein alter Freund, derzeit Mitglied in der "schwarze-Sandalen-schwarze-Strümpfe-Büro-Frakion", arbeitet als angestellter Rechtsanwalt in einer Kanzlei. Als er im letzten Sommer in Frankfurt mal ohne Socken in Sandalen ging und ein Rotzlöffel, ca. 17 Jahre alt, "Käsealarm" rief, war dessen Selbstbewusstsein arg angekratzt, der Tag im Eimer.
Ich konnte mir in jenem Moment schwerlich vorstellen, wie dieser Anwalt im Beruf für einen Menschen eintreten soll, wenn er noch nicht mal weiß, wo er denn selbst steht...

Während meiner Studienzeit war ich zeitweise Dauerbarfüßer und rückblickend kann auch ich heute, acht, neun Jahre später, sagen, dass ich in dieser Zeit Menschen anders wahrgenommen habe, im positiven Sinn.

Viele Grüße

Bernd

Hi Bernd,
alles perfekt beobachtet! Das alles passt auch wunderbar zu einem anderen Beitrag hier im Forum, in welchem thematisiert wurde, daß z. B. Amerikaner offenbar viel fußfreundlicher sind als die Deutschen.
Und es ist nicht nur eine "Fußversteckmentalität". Auch der Körper, die eigentliche Persönlichkeit wird weitgehend versteckt und durch externe "Symbole", wie z. B. Markenkleidung, Markenschuhe, Rolex, exklusive Sonnenbrillen etc. substituiert.
(Mindestens) Deutschland entwickelt sich seit den 90ger Jahren zurück zu einer Art barockem Kleider-, Lebens- und Schamempfinden, zu einer Kultur der Prüderie und Verklemmtheit. Ist noch niemandem aufgefallen, daß selbst bei 35 Grad im Schatten nur ein statistisch verschwindender Bruchteil der Bevölkerung "Fuß" zeigt oder gar barfuß läuft? Natürlich - Flipflops mögen ein Revival erleben, und trotzdem: Nie war Deutschland so gespalten in einerseits eine WERBEWELT, in der entspannte barfüßige Damen die Tarifstruktur eines TK-Anbieters anpreisen, barfüßige HERREN (!) lässig am Holzsteg lehnen, um für eine Zigarettenmarke zu werben - und natürlich für das angeblich sich einstellende Lebensgefühl der Freiheit und Selbstbestimmtheit, für das die nackten Füße wohl stehen sollen, andererseits in eine bürgerliche Spießer-Gesellschaft, die über jeden Barfüßigen mehr die Nase rümpft und lästert, als wenn dieser komplett nackt durch die Fußgängerzone liefe (ja, es gibt einige wenige Ausnahmen...). Gerade diese Diskrepanz zwischen Werbewelt und Wirklichkeit zeigt eindringlich, welches die geheimen Wünsche der Menschen sind, denn - eins muß man den Werbestrategen ja lassen - sie sind hervorragende Psychologen und schlagen punktgenau in die Kerbe der verborgenen gesellschaftlichen Begehrlichkeiten.
Als seit 25 Jahren überzeugter Ganzjahres-Barfußläufer weiß ich, wovon ich rede: Barfußlaufen hat einfach hierzulande keine Lobby. Die Versuchung, ausgerechnet mit der Fußbekleidung seinen wirtschaftlichen Status, seine Gesinnung, sein Modebewußtsein oder viele andere (vermeintliche) Persönlichkeitsaspekte hervorheben zu wollen, ist einfach zu groß. Ebenso ist die Angst zu groß, eben den o. g. Anfeindungen ausgeliefert zu sein, wenn man sich nicht anpasst. Nicht zuletzt ist - auch wenn es ein Relikt der Kriegsjahre ist- immer noch der Gedanke in den Köpfen verankert, nackte Füße würden Armut symbolisieren - "der kann sich wohl keine Schuhe leisten!", heißt es oft.
Nie habe ich diese unsere Gesellschaft und die einzelnen Menschen intensiver kennen gelernt, als durch das Barfußlaufen, nie habe ich einerseits subtile, andererseits überdeutliche Unterschiede in Landstrichen, Städten und Ländern im Hinblick auf Toleranz, Lebenseinstellung, Prioritätensetzung etc. besser erkennen können. Wer Menschen erfahren will, dem empfehle ich das Barfußlaufen. Ja - wir kehren dadurch Aspekte unserer Persönlichkeit nach außen, wir "outen" uns, aber am meisten "outen" sich diejenigen, die mir begegnen: Durch ihre Reaktion.
Im Übrigen (nicht nur die Barfußläufer im Forum wissen es natürlich längst): Füße mit gelben Nägeln sind häßlich, WEIL sie immer eingesperrt wurden; jedem steht frei, das zu ändern und sich beizeiten über ein wiederentdecktes, befreites, sonnengebräuntes, ansehnliches Körperteil - nicht selten mit dezentem Sexappeal (!) - zu freuen.
Viele Grüße an das geniale Forum
Bastian

Hallo,
wo ja vor einigen Tagen etwas zur "deutschen Fuß-versteck-Mentalität" geschrieben wurde, möchte ich Folgendes beisteuern:
Hier in der Frankfurter Innenstadt, inklusive Mainz u. Wiesbaden, sieht man viele Männer in Schlips und Anzug rumlaufen, berufsbedingt.
Natürlich sind nicht alle Bänker, sondern auch in kaufmännischen Betrieben unterschiedlichster Couleur tätig, in welcher Position auch immer. Ich habe 2007 während der (mäßig) warmen Tage im August, September und Oktober extrem viele Männer im Alter von ca. 40 bis 70 mit Business-Hemd, Jeans oder Bundfaltenhose in der City rumlaufen sehen, kombiniert mit schwarzen Ledersandalen und schwarzen Strümpfen.
Das parallele Phänomen:
Auch in meinem (männlichen) Freundes-, Kollegen- u. Bekanntenkreis habe ich diesen "Kleidungsstil" beobachtet; auch jene, die früher weder barfuß noch irgendwie sockenlos lebten, tragen heute im Job die besagten schwarzen Schuhe mit offenen Zehen, kombiniert mit dunklen Strümpfen.
Zwei, drei Mal habe ich mitbekommen, dass sich zahlreiche Männer angeblich des beklagenswerten Zustandes ihrer verpilzten, gelben Fußnägel sowie ihrer massiven Hornhaut schämen und deshalb Strümpfe als Sichtschutz vorziehen. Hm...
Ich selbst hatte sogar mal einen Chef, der mir zwar Sandalen mit Naserümpfen erlaubt, aber dunkle Socken dazu vorgeschrieben hatte, aus ästhetischen Gründen. Und das in einem Betrieb, in dem es keinen Dresscode gab und jeder leger gekleidet erschien! "Nackte Zehen bei Männern, das geht nun einfach nicht", tönte es immer wieder.
Trägt der deutsche "Durchschnittsmann" im Job ab einem gewissen Alter konsequent Sandalen mit Socken? Weshalb werden Zehen versteckt? Weshalb gelten unbestrumpfte Zehen im Büro als "zu nackt", während Strümpfe dazu wieder als "akzeptabel" gelten?
Ciao
Bernd


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