Barfuß auf dem Weg zu mir selbst (Hobby? Barfuß! 2)

Kathrin, Monday, 30.10.2006, 10:38 (vor 6538 Tagen)

Ich muß zugeben, der Titel ist ein wenig abgekuckt. Vor ein paar Jahren schrieb Joschka Fischer das Buch "Mein langer Lauf zu mir selbst". Dort beschreibt er, wie er in einer Lebenskrise durch Laufen wieder zu sich fand.
Wie ich aus diesem Forum erfahren habe, sind die Gründe, warum jemand barfuß läuft sehr unterschiedlich. Der eine, weil es gesund ist, der anderer, weil er gerne direkten Bodenkontakt hat, der dritte um aufzufallen.
Ich bin 35 Jahre alt und in meiner Kindheit und Jugend so gut wie nie barfuß gelaufen. Den Wunsch habe ich damals schon verspürt, schließlich liefen in den 70ern und frühen 80ern wesentlich mehr Leute barfuß als heute. Zu Beginn meiner Zeit auf dem Gymnasium sah man im Sommer immmer einige Leute aus der Oberstufe barfuß durchs Gebäude oder über den Schulhof gehen. Fast immer waren es Mädchen.
Ich hätte es damals auch sehr gerne getan, doch ich habe mich nicht getraut. Ich bin sehr behütet aufgewachsen und meine Eltern haben mir sehr viel abgenommen. Ich habe mir nichts zugetraut und mich nichts getraut. Ich wurde dazu erzogen, immer auf Nummer Sicher zu gehen und kein Risiko einzugehen.
Nach dem Abitur habe ich eine Ausbildung in der Versicherung gemacht, in der mein Vater Abteilungsleiter war. Das war überhaupt nicht das, was ich wollte, doch mein Vater meinte, ein Job in der Versicherung ist ein Job fürs Leben. Damals stimmte das ja auch noch. Als brave Tochter habe ich mich gefügt.
Erst als ich vor ein paar Jahren meinen Mann kenennlernte, konnte ich mich von zu Hause lösen. Eine Therapie hat mir geholfen, mir über mich selbst klar zu werden.
Vor zwei Jahren haben wir Urlaub auf Juist gemacht. Ich kannte bis dahin fast nur die Berge. Auf der Insel liefen ziemlich viele Leute barfuß. Aber nicht nur am Strand, sondern auch im Ort, im Supermarkt, teilweise auch in den Lokalen. Mein alter Wunsch kam wieder nach oben. Ab dem zweiten Tag ließ ich fast immer die Schuhe auf dem Zimmer. Es war so schön, daß ich jetzt nur noch auf Nordseeinseln fahren wollte. Auch den Urlaub auf Borkum letztes Jahr habe ich überwiegemd barfuß verbracht.
Für diesen Jahr hatten wir Spiekeroog gebucht. Durch eine plötzlich Erkrankung meines Schwiegervaters war lange Zeit nicht klar, ob wir wirklich fahren konnten. Ich hatte mich schon Monate darauf gefreut, wieder barfuß laufen zu können, denn zu Hause habe ich mich es bis dahin außerhalb der Wohnung nicht getraut. Wenn wir also nicht fahren könnten, sollte ich dann dieses Jahr gar nicht barfuß laufen können.
Da wir zu diesem Zeitpunkt schon das heiße Wetter hatten, beschloß ich spontan, unseren Abendspaziergang an diesem Tag barfuß zu machen. Als wir zurück kamen, stand unsere Nachbarin vor dem Haus. Wir sprachen mit ihr über alles möglich, über meine nackten Füße verlor sie kein Wort.
Am nächsten Tag hatte ich einen Termin bei meiner Heilpraktikerin. Ich ließ die Schuhe im Auto und ging die 10 Minuten zur Praxis barfuß. Nachdem ich bei ihr fertig war, machte ich noch einen Bummel durch die Fußgängerzone. Es war vor dem Spiel Deutschland-Italien. Es waren sehr viele Menschen zum Public Viewing unterwegs. Und ich mittendrin barfuß. Ich habe keinerlei negative Reaktionen bemerkt.
Einmal habe ich eine 12km-Wanderung barfuß gemacht. Das war vielleicht ein bißchen viel. Ich hatte hinterher Blasen unter den Sohlen, von denen eine blutig war. Die letzten Kilometer konnte kaum noch gehen.
Doch schon nach drei Tagen war ich wieder barfuß unterwegs. Ich habe viele unserer Abendspaziergänge und auch die Einkäufe barfuß absolviert.
Ein einziges Mal habe ich eine negative Reaktion erlebt, als mir ein Mädchen aus einer Jugendgruppe zurief "Bah, wie ekelhaft! Bist du aus der Klapse abgehauen?"
Wir konnten dann doch an die Nordsee fahren und ich war wieder viel barfuß unterwegs. Obwohl das Wetter eher durchwachsen war, sah auch immer wieder andere Barfüßer. Auch an kühleren Tagen ließen viele Eltern ihre Kinder barfuß laufen. Es ist erstaunlich, daß die Menschen auf den Inseln soviel lockerer sind.
Seit einem Jahr mache ich im Abendlehrgang eine Ausbildung zur Heilpraktikerin. Wenn alles gut läuft, bin ich in zwei Jahren fertig. Dann möchte ich meinen jetzigen Job kündigen und einen eigene Praxis eröffnen. Das ist natürlich mit Risiko verbunden und viele Leute raten mir davon ab. Ich sollte das mit der Heilpraktikerin doch nur hobbymäßig für Familie, Freunde und Kollegen betreiben. Doch ich spüre, daß das nicht mein Weg ist, da ich in meinem jetztigen Beruf auf Dauer immer unglücklicher werde.
Jetzt kommt der Bezug zum Titel. Schuhe geben mir eine Sicherheit. Wenn ich barfuß laufe, kann ich irgendwo hineintreten, ich kann mir auf heißem Asphalt die Füße verbrennen, manche Untergründe sind so unangenehm, daß jeder Schritt weh tut. Manchmal gibt es dumme Blicke oder Kommentare. Mit Schuhen passiert das alles nicht. Doch mir fehlt auch eine Erfahrung.
Genauso ist es mit meinem jetztigen Job. Er gibt eine finanzielle Sicherheit, aber er ist sehr eintönig. Als Heilpraktikerin werde ich zumindest am Anfang weniger verdienen, aber ich spüre, daß mich der Beruf sehr glücklich machen wird.
Mein Therapeutin sagte einmal, barfuß sein bedeutet "zu mir stehen, meinen Weg gehen". Es bedeutet auch, schutzlos zu sein. Wenn ich meinen jetzigen Job kündige, gebe ich damit auch einen Schutz auf.
Doch ich will jetzt das Leben leben, wozu ich mich berufen fühle. Und das bedeutet barfuß zu sein, im wörtlichen und im übertragenen Sinn. Ich vertraue darauf, daß der Gott, der will, daß wir leben, mich auf meinem Weg beschützt.
Kathrin


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