Persönlichkeitsbildung (Hobby? Barfuß! 2)

Bernd (Wiesbaden), Stammposter, Friday, 07.04.2006, 16:52 (vor 6810 Tagen) @ Pedro

Lieber Pedro,

ich kann mich dir nur anschließen: Wenn ich meine Zeit an der Uni spiegele, realisiere ich, dass mir das Studium weitaus mehr gebracht hat als Fachkompetenz und Selbstständigkeit. Die sich stetig ändernden Herausforderungen ließen mich zu einem viel flexibleren Menschen werden. Die Frage, mich diesen oder jenen Strukturen anzupassen oder nicht, machten mich kritischer und reflektierter. Dazu gehört auch - als kleiner, aber bedeutender Teil - die Einsicht, dass die vermeintlich ergebnisorientierten BWL-Studenten, damals die Manager von morgen, entsetzt und teilweise verachtend auf meine nackten Füße geschaut haben. Mit meinen baren Füßen habe ich wohl das blanke Entsetzen im Fachbereich Wirtschaftswissenschaften verbreitet, doch geschah dies von meiner Seite ganz bewusst.
Zur heutigen Lage der Studierenden: Bislang hatten wir in diesem Land das große Glück, uns auf Kosten des Staates zum Akademiker ausbilden zu lassen. Vor wenigen Jahren haben sie nun die Daumenschrauben angezogen, um Bummelstudenten auszusondern und zu verhindern, dass die Universitäten - und in diesem Zusammenhang insbesondere Fächer wie Soziologie, Pädagogik und Philosophie - Auffangbecken für junge Leute in der Orientierungsphase werden. Diesen Gedanken kann ich bedingt nachvollziehen, mit Betonung auf "bedingt".
Heute kann vielerorts der vergleichsweise wenig erstrebenswerte Bachalor-Abschluss erworben werden. Futter für die Industrie: Junge Leute mit Abschluss als "Jungwissenschaftler", die mit einem dem Vordiplom angemessenen Wissen auf die Menschheit losgelassen werden, junge Leute mit teilweise nicht ausgereifter Persönlichkeit, die nach vorgefertigtem, der Fachhochschulen ähnlichen Stundenplan gearbeitet haben und zum Eintritt ins Berufsleben ihre Scheuklappen nicht abzulegen vermögen. Scheuklappen, die ich immer wieder an jenen Leuten bemerke, die hinter mir im Edeka stehen und über meine nackten Füße im Geschäft die Nase rümpfen.
Zu deiner Frage:
Barfußlaufen wollte ich schon als Teenager, hatte aber nicht den Mut. Füße gehörten ja weggesperrt, Sandalen waren lt. Vater okay, aber nur mit Strümpfen. Bloß keine nackten Zehen auf der Straße, da gucken die Leute! ;-) Somit lief ich heimlich im Wald barfuß, zog immer wieder schnell die Latschen an, wenn Leute vorbei kamen. Mut zum Barfußlaufen in der Öffentlichkeit entwickelte ich erst 1999 - und hatte das starke Bedürfnis, künftig alle die Jahre in diesen fiesen 80-er-Jahre-Stink-Turnschuhen wett zu machen. 1999 war auch das Jahr, in dem ich mir im Juni die Füße so arg auf der Straße verbrannte, dass sie ärztlich versorgt werden mussten. Schon als wenige Wochen später die Narben langsam abheilten und ich wieder ohne Verband und ohne Schuhe laufen konnte, dachte ich, dass mir dies jede Brandblase wert gewesen war. Liegt wohl daran, dass ich ein ausgeprägt leidenschaftlicher Mensch bin, heute mehr denn je.
Mein betont konformistischer Papa ist heute auch lockerer als vor 20 Jahren. Ich war barfuß in einer Autowerkstatt und traf ihn. Kein Kommentar, viel mehr: Ich konnte meinen Augen nicht trauen: Mein Dad in schicken schwarzen Leder-Flip-Flops, OHNE Socken, mit professionell pedikürten Fußnägeln! Und die Fußrücken waren gebräunt!

Lieber Pedro, ich wünsch dir noch viele weitere Barfußjahre und ganz viel Sonne für 2006! Enjoy!

Bernd

Lieber Bernd,
ja, meine Studienzeit war nicht nur eine Zeit der Bildung sondern auch der Persönlichkeitsreifung. Dafür habe ich auch ein bisschen länger sutdiert. Ich beneide nicht die künftigen Studenten, die mit Studiengebühren unter Zeitdruck gesetzt werden, dass sie ja keine Zeit mehr für ihre Persönlichkeitsentwicklung oder für ein politisches Engagement haben. Ein Teil von ihnen soll ja mal Führungspositionen innehaben. Und wohin das führt, wenn unreife Personen die Staatsführung übernehmen, sieht man ja derzeit in ... halt, jetzt wird's off-topic.
Wir haben noch eine weitere Gemeinsamkeit. Nicht nur, dass wir beide während des Studiums zu Barfußläufern wurden, wir haben auch exakt im selben Alter begonnen, auf Socken zu verzichten. Das war bei mir nämlich auch mit 16. Bemerkungen meiner Eltern dazu hat es, soweit ich mich erinnern kann, nicht gegeben. Auch als ich gegen Ende meines Studiums zum erstenmal barfuß im Elternhaus erschien, gab es nur kurze harmlose Kommentare dazu. Die Zeit war halt einfach reif dafür gewesen. Aber eine Frage habe ich noch: Hat sich bei Dir der Wunsch, barfuß zu gehen, erst als Student gezeigt und Du hast ihn dann gleich verwirklicht? Oder hast Du diesen Wunsch schon länger gehabt, aber ihn erst als Student verwirklicht?
Das Wonnegefühl meines ersten Barfußsommers ist mir noch gut präsent: Endlich geschafft, endlich barfuß, endlich frei, endlich schwarze Sohlen. Je selbstbewusster ich wurde, desto mehr ging ich barfuß, je mehr ich barfuß ging, deso selbstbewusster wurde ich.
1999 war es bei Dir. Bei mir 1986. In der Tat hat mein Barfuß-Breakout dieses Jahr 20. Jubiläum! Ich gehe jetzt in meinen 21. Barfuß-Sommer. Er soll barfüßiger werden als alle Sommer zuvor. Ich freue mich schon wahnsinnig drauf.
Einen schönen Barfuß-Sommer wünsch ich Dir
Pedro


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