Anders sein in der Gesellschaft, wo ist das Problem? (Hobby? Barfuß! 2)

Jerry, Sunday, 07.01.2001, 14:40 (vor 8659 Tagen) @ Kai

Hallo Jerry,

Es ist nun mal in unserer heutigen Gesellschaft so: Wenn jemand -
egal was immer er auch tut - sich aus der Masse hervorhebt, muss er
sich rechtfertigen und sich Sticheleien, die bis zu bösen
Beleidigungen reichen, anhören. Was meinst Du, was Menschen in
dieser Gesellschaft ertragen und sich anhören müssen, die aus
Überzeugung keinen Fernseher besitzen, kein Auto fahren oder keine
Marken- Designerklamotten tragen (in spätestens 2 Jahren werden
auch diejenigen Menschen in Rechtfertigungszwang geraten, die kein
Handy besitzen)? Es ist traurige und bittere Realität: Wer
irgendeinen Trend nicht mitmacht, wird von unserer intoleranten
Gesellschaft nicht anerkannt.

wann musstest Du Dich denn rechtfertigen, dass Du kein Auto, keinen Fernseher oder kein Handy hast - und vor wem?
Geschichtlich betrachtet gab es vermutlich noch nie eine Gesellschaft auf diesem Planeten, in der der/die Einzelne soviel individuelle Freiheitsrechte bezüglich der persönlichen Lebensgestaltung hatte, wie die unsrige.
Man sollte nicht den Fehler begehen, alles was nicht bedingungslose Zustimmung zum eigenen Lebensstil ist, als Ablehnung oder Ausgrenzung ansehen. Da hatten die andersdenkenden Menschen früher viel mehr Probleme: Folter, Verbrennungen, Verhungern durch Ausschluss aus der Gesellschaft, Kontaktsperren, etc.
Und jetzt sag' mir mal, wo hier bei uns wirklich Probleme bei Deiner persönlichen Entfaltung sind.
Kai

Hallo, lieber Kai!

Erst einmal möche ich Dich beglückwünschen, dass Du Dich offenbar so gut wie nie vor Deinen Mitmenschen rechtfertigen musst, falls Du einen eigenen Lebensstil pflegst(evtl. ja Barfusslaufen in der Öffentlichkeit). Vielleicht lebst Du in einem tolerantern Teil Deutschlands. Ich wohne in Hamburg, dies zu Deiner Info.
Also, um Deine Frage zu beantworten: Ich besitze zwar einen Fernseher und auch ein Handy, jedoch kein Auto- hauptsächlich aus Umweltschutzgründen-. Und was noch "schlimmer" ist: auch keinen Führerschein! Möchte Dir nun aufzählen, welche Erfahrungen ich seit knapp 20 Jahren mit meinen Mitmenschen mache (auf meinen bisherigen Arbeitssellen, im Bekannten- Freundeskreis, ja im gesamten persönlichen Umfeld), wenn diese erfahren, dass ich kein Auto besitze. Bemerkungen, egal wen immer ich auch neu kennenlerne sind z. B: "Waas, Du hast kein Auto? Ja warum denn, in Gottes Namen? Also, ich habe noch nie jemanden kennengelernt, der kein Auto fährt. Was ist denn los mit Dir? Also, ich weiss ja nicht, ein Mann, der kein Auto fährt, da kann doch etwas mit ihm nicht stimmen! Wie tätigst Du denn eigentlich Deine Einkäufe?" Das sind so die noch harmlosesten Äusserungen, die ich zu hören bekomme. Und, lieber Kai, was glaubst Du, wieviele unzählige Verabredungen mit Mädchen in meiner Jugend geplatzt sind, die mit mir ausgehen wollten und dann erfuhren, dass ich kein Auto habe? Wenn ich ferner in Discos oder bei sonstigen Veranstaltungen Damenbekanntschaften machte, und wir dann in ein anderes Lokal gehen wollten, kam jedesmal folgendes Ritual: Beim Herausgehen die übliche Frage: "Wo stehst Du denn?" Das mit dieser Frage gemeint war, wo ich meinen Wagen geparkt habe, brauche ich ja wohl nicht näher zu erläutern. Und jedesmal die gleiche Reaktion bei den Damen, wenn ich sagte, ich besitze kein Auto. Weit aufgerissene Augen, einen weit aufgesperrten Mund und dann die Frage: "Wie, was, Du hast kein Auto? Ist es in der Werkstatt oder was?" Meine Antwort: "Nein, ich besitze überkaupt keinen Wagen." Darauf (leicht aggressiver Unterton in der Stimme): "Ja, wie um Himmels Willen bist Du denn hierher gekommen?" Meine Antwort:"Es gibt U-Bahnen und Bussse." Reaktion: noch weiter aufgerissene Augen, noch einen weiter aufgesperrten Mund. Und nun, mit noch aggressiverem Unterton die Frage: "Aber einen Führerschein wirst Du doch wenigstens besitzen?!"
Meine Antwort wiederum darauf: "Nein!" Und nun kommt langsam das allseits bekannte Schlussfinale: noch mehr aufgerissene Augen, einen noch viel weiter aufgesperrten Mund und dann, nachdem sie sich von diesem Schock erholt, hat die Frage: "Ja, und wie kommen wir jetzt in die Kneipe XY?" Meine Antwort: Mit der Bahn, die fährt direkt vor das Lokal, ich bezahle Dir auch die Fahrt." Letzte Äüsserung seitens der Damen nun: "Ich glaub`, Du tickst wohl nicht ganz richtig, vergiss es!"
Die gleichen Reaktionen erleben Bekannte von mir, die ebenfalls kein Auto besitzen. Doch die Sache hat ein Happy End: Seit einigen Jahren habe ich eine liebe Partnerin, die ebenfalls mit Autos nichts am Hut hat und mich so akzeptiert, wie ich bin.
Ach ja,noch etwas: ich möchte nicht vergessen zu erwähnen, dass ich so gut wie nirgends eingeladen werde und geschnitten werde, wenn ich auf die Frage, warum ich denn kein Auto fahre, antworte:" weil ich einen Beitrag zum Umweltschutz leisten möchte, weil es mir weh tut, wie immer mehr Wälder und Grünanlagen immer neueren Autobahnen und Umgehungsstrassen weichen müssen und heimische Tiere ihren Lebensraum verlieren." Dass sich Autofahrer mit dieser Bemerkung auf den Schlips getreten fühlen, ist ja wohl klar. Ich habe mir auch daraufhin schon oft anhören müssen, dass man mit so einem "negativ veranlagten und grünen Ökofuzzi" nichts zu tun haben möchte. Zur Info: ich gehöre keiner Partei an und sympathisiere auch mit keiner solchen. Ich mache auch immer wieder die Erfahrung, dass wenn man zugibt, keinen Führerschein zu besitzen, es gleich kommt, als würde man sagen, man kann weder lesen noch schreiben.
Nun habe ich noch zwei Bekannte, die keinen Fernseher besitzen. Auch sie müssen sich immer wieder bei neuen Bekanntschaften rechtfertigen, warum sie keinen Fernseher haben. Und dazu kommt der alljährliche Ärger mit der GEZ in Köln, die nicht glauben will, dass es in der heutigen Zeit Menschen gibt, die nicht in der Freizeit vor der Glotze hocken. Immer wieder schriftliche Anfragen mit Anmeldeformularen, ja sogar gelegentliche Hausdurchsuchungen nach einem evtl. versteckten Apparat müssen meine Bekannten erdulden.

Ich hoffe, lieber Kai, nun ist alles klar und ich habe Dir Deine Frage ausführlich beantwortet. Auch ständige Sticheleien sind eine Art von Ausgrenzung.

Mit lieben Grüssen Jerry


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