So unterschiedlich können Eltern sein... (Hobby? Barfuß! 2)

Michael aus Zofingen, Stammposter, Wednesday, 04.07.2007, 12:44 (vor 6354 Tagen) @ Jay

Der Rest dieser nicht seltenen Dialoge verlor sich in Irrationalität. Ich war jedoch nicht zum Glauben an die Gleichung [Zubereitetes Angepaßtsein (z. B. durch Friseure) = Signalisierung finanzieller Wohlsituiertheit, Zugehörigkeit zu "ordentlichen" besseren Schichten] zu bekehren...das Frappierende war (und ist möglicherweise auch heute noch), wie sehr sich das Publikum mit solchen Rätseln in Menschengestalt BESCHÄFTIGT. Hast ja ähnliche Erfahrungen gemacht...

Hallo Jay,

selbstverständlich kann man nicht alle Eltern über einen Kamm scheren. Und vermutlich macht es einen Unterschied aus, ob ein Kind nach dem Auszug aus dem Elternhaus irgendwo wohnt, daß man sich zufällig auf der Straße begegnen kann oder ob die Wohnorte derart weit voneinander entfernt sind, daß man sich nur auf Vereinbarung trifft.

Wenn die Wohnorte nicht weit voneinander entfernt sind, dann sind zwar vielleicht die Hemmungen größer, sich zu verändern. Aber wenn man mal sich verändert hat und die Eltern zum xten Mal sagen: "Bist du schon wieder barfuß? Wann warst du zuletzt beim Friseur? Du könntest dich auch mal wieder rasieren!" usw., dann geben sie es einmal auf.

Wenn man sich aber monatelang nicht sieht, und plötzlich ist man barfuß, langmähnig oder/und unrasiert, dann ist der Schock für die Eltern größer. Andererseits wird man gewisse Dinge bei einem geplanten Zusammentreffen (und wenn man an einem harmonischen Zusammentreffen interessiert ist) so einrichten, daß die Besucher sich nicht ärgern, zumindest bei Dingen, die einem nicht völlig gegen den Strich gehen.

Meine Eltern (beide 79) waren wieder einmal zu Besuch, nachdem ich sie ein Jahr nicht gesehen hatte. Zwar ging ich nicht extra deswegen zum Friseur, aber irgendwie habe ich den fast schon überfälligen barfüßigen Friseurbesuch dem Elternbesuch angepaßt. In meiner Wohnung lief ich genauso barfuß wie wenn meine Eltern nicht da sind.

Auch bei meinen Eltern ist "zubereitetes Angepaßtsein" wichtig, aber nur, solange sie sich nicht anpassen müssen.
Mein Vater trägt im Sommer in der Freizeit außerhalb der eigenen 4 Wände bei Temperaturen über 25°C am liebsten kurze Hosen, jedoch grundsätzlich in Kombination mit Schuhen (Halbschuhe oder Sandalen) und Socken. Turnschuhe mag er nicht leiden. Mützen trägt er nur im Winter, und zwar Pudelmützen oder Bärenfellmützen. Baseballmützen mag er nicht leiden. Niemals würde er sich herablassen, eine Baseballmütze zu tragen. Dabei sind Baseballmützen ebenso wie Turnschuhe gar nicht mal so selten. Ihm wäre es nicht peinlich, wenn er zusammen mit baseballbemützten oder/und beturnschuhten Bekannten angetroffen wird.

Als in einer Zeitung (Pinneberger Tageblatt) die Kolumnistin ("Paula") angeblich (ich selber habe den Artikel nicht gelesen) die Männer lächerlich machte, die Sandalen in Kombination mit Socken tragen, hat er sich maßlos über den Artikel aufgeregt: "Eine Unverfrorenheit, was die Tussy da schreibt!" Er fühlte sich angegriffen, da er immer Socken trägt. Aber ihn stört nicht, wenn andere Leute in seiner Gegenwart sockenlos in Sandalen sind, im Sommer tun es ja etliche.

Und barfuß? Solange ich das dort mache, wo es niemanden stört, hat er nichts dagegen. Wobei er mir allerdings nicht genau sagen konnte, was er damit meinte.
Könnte so sein: In der eigenen Wohnung ja, aber zum Müllkasten nur, wenn andere Leute im Garten barfuß sind. Am Strand ja, aber nur dann, wenn das Wetter danach ist. Auf einer organisierten Barfußwanderung ja, aber nicht alleine auf derselben Strecke. In Bussen und Bahnen oder auf dem Fahrrad nein.

Offensichtlich scheint es das, was er persönlich gut findet, auch bei anderen gut zu finden. Das, was er niemals selber macht, jedoch viele andere machen, scheint er zu tolerieren (z.B. Baseballmütze oder Sandalen ohne Socken tragen). Das was aber kaum jemand macht (z.B. barfuß laufen beim Einkaufen), findet er entsetzlich. Ihm wäre es peinlich, wenn er zusammen mit Barfüßern gesehen wird. Dieses betrifft nicht nur Bekannte. Er würde sich im Supermarkt nicht unmittelbar hinter einen unbekannten Barfüßer in die Schlange stellen. Er hätte Angst, der Barfüßer könnte ihn etwas fragen, und andere Leute könnten dann glauben, daß sie zusammen gehören. Ebenso würde er sich nicht in ein Zugabteil setzen, in dem bereits einer barfuß ist, schon gar nicht in einem internationalen Zug, der von "Kalkmützen" der Bundespolizei kontrolliert wird.

Vermutlich ist es bei meinen Eltern keine Abneigung gegen barfuß an sich. Es ist "nur" eine Abweichung von der überwiegenden Mehrheit. Man selber möchte nicht von der Mehrheit abweichen. Im Allgemeinen ist man als unbemützter nicht in der Minderheit gegenüber den Baseballmützenträgern, also trägt mein Vater keine. Orte, an denen aber alle eine Baseballmütze tragen, meidet er. Wenn es um das Tragen von kurzen Hosen geht, überzeugt er sich erst, ob auch andere es tun. Er möchte nicht der einzige sein, das wäre ihm (und vor allem meiner Mutter, wenn sie ihn begleitet) peinlich. Wobei "andere" nicht jeder x-beliebige andere ist, sondern auch ein "vergleichbarer" MANN sein muß. Also kein wesentlich jüngerer Mann, keine Frau, kein Jogger, kein Penner usw. Dagegen regt er sich maßlos über Leute mit Krampfadern oder schneeweißen Beinen in kurzen Hosen auf, auch dann, wenn er selber kurze Hosen trägt. Das ist Intoleranz sondergleichen. Und als Barfüßer weicht man außerhalb vom Strand immer von der überwiegenden Mehrheit ab. Meine Mutter würde es sogar gut finden, wenn man fürs Barfußlaufen in der Öffentlichkeit (und fürs Tragen von kurzen Hosen, wenn es "unpassend" ist) eine Geldbuße bezahlen müßte, wenn man von der Polizei erwischt wird

"Was sollen die anderen Leute denken!" ist die Meinung vieler Spießer. Meine Eltern gehören auch dazu und handeln danach. So würde mein Vater nie einen Haufen leerer Flaschen sichtbar über den Flur eines Mietshauses tragen, sondern nur in einer Tüte; damit die Nachbarn einen nicht für einen Säufer halten. Auch hat eine Wohnung immer aufgeräumt zu sein, wenn man sie verläßt. Für den Fall, daß andere (Einbrecher?) während der Abwesenheit kommen. Früher traute er sich auch nicht mit dem Fahrrad auf die Straße, damit nicht andere denken oder gar fragen: "Ist das Auto kaputt? Hat der gesoffen? Hat der sogar den Lappen abgeben müssen?" Heute dagegen fährt er Fahrrad, da es nicht mehr "ehrenrührig" ist, als Autobesitzer Fahrrad zu fahren. Schließlich fahren sogar reiche Leute und Besitzer mehrerer Auto Fahrrad. Aber barfuß radfahren hält er für ehrenrührig.

Als meine Eltern sich von mir verabschiedeten, waren die letzten Worte meines Vaters: "Und trag Sandalen, wenn du mit dem Rad in Urlaub fährst!" Er wußte, daß ich in den Urlaub radeln werde. Er weiß auch ungefähr das Ziel, jedoch nicht die genaue Route (woher auch, wenn ich sie nicht mal selber weiß). Sicher ist, daß ich nicht fett beschuht in den Urlaub fahren werde, dann bringt das Radfahren doch keinen Spaß. "Späher" wird mein Vater wohl nicht aussenden, um zu überprüfen, ob ich seinen Sattelbefehl befolge oder nicht. Und wenn schon, dann wäre mir das egal.

Schöne Grüße
Michael aus Zofingen


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