Establishment-Effekt (Hobby? Barfuß! 2)
Hi Jay!
Ein äußerst interessanter, intellektuell sehr ansprechender und anspruchsvoller Beitrag!
nach etwas GRÜBEL GRÜBEL (evtl. läßt sich dieses sehr akademisch gespreizte Forum manchmal mit etwas Comic-Sprache auflockern, ich hab' Comics immer als Entspannungs- u. v. a. Verzweiflungs-Entspannungslektüre gelesen, aber: Mickey Mouse-Editions [u. v. a. mit Gyro Gearloose, dt.: Daniel Düsentrieb] aus den späten 60ern sind unwiderbringliches Kulturgut, das hoffentlich irgendwo noch in Tresoren lagert, beim Lachen wahrhaft fast tödlich, eben: Komik) bin ich zu dem Schluß gekommen, daß die Frage der Persönlichkeit aus dem älteren deutschen Rockleben (noch älter & Pioniere: Can, Birth Control, Embryo) durch folgendes impliziert gewesen sein könnte:
Wer die Althippiekultur ab 1967 (Bands: frühe Pink Floyd, Jefferson Airplane, Gratefut Dead, Doors u. v. a. m.) authentisch miterlebt hat (ich kam geringfügig zu spät, knallte aber trotzdem noch damit als Kid durch), weiß, daß BF ein integraler Way-Of-Life-Bestandteil hiervon ist. Wenn man den Niedergang (vereinfacht ausgedrückt: so wie die Leute in den ersten Niedergangs-Anfängen seit ca. 1975 'draufkamen) miterlebt hat, kann man gar nicht unterdrücken, daß sich Stolz breitmacht, dabei gewesen zu sein (was mich anbelangt, in peripheren Restbeständen dabei gewesen zu sein).
Nun, da weiß ich nix von, weil ich 1967 in die Windeln kackte. Erste Bewußtheiten begannen bei mir etwa um 1970, so daß ich im Stadtbild von Düsseldoerf, wo ich meine ersten fünf Lebensjahre in der Innenstadt verbrachte, wohl Hippies gesehen habe, an denen mir vor allem die langen Haare und die bunten Klamotten auffielen. Ob sie auch barfuß waren, kann ich nicht mehr sagen, aber wenn sie im Winter barfuß gewesen wären, so wäre mir das sicher aufgefallen, da ich schon als Kleinkind meine Umwelt genau zu beobachten pflegte und mich insbesondere, seit ich denken kann, für alles Außergewöhnliche besonders zu interessieren pflegte. Allerdings reichen meine frühkindlichen Erfahrungen mit Hippies über bloße Sichtungen auf der Straße oder im Park nicht hinaus, da meine Eltern von jeher sehr konservativ eingestellt sind und einen sehr bürgerlichen Lebensstil pflegen. Somit erschienen mir die "Althippies" von damals wie Paradiesvögel, und ab Mitte der 70er jahre sah man keine mehr. Woran das liegt und wie sie danach "draufkamen", darüber habe ich mir bis heute keine Gedanken gemacht.Auch hier zeigt sich deutlich, was neun Jahre Alersunterschied ausmachen können.
Hast du einmal selbst als Musiker ein erfolgreiches Konzert abgeleistet (ich weiß, wie schäbig & arrogant das folgende klingt), wie bist du dann drauf? Klar, das Publikum liegt dir zu Füßen [ein etymologisch und vor allem philosophisch ungemein weitreichendes Sprichwort!] und du bist siegesstolz. Aber: du siehst es gleichzeitig irgendwo nicht gerne, wenn dir jemand aus dem Publikum in deinen Insignien (z. B. gleichlange oder noch längere Matte, Klamotten) Konkurrenz macht.
Das wird wohl so sein, aber was solls? Bis die "Matte" ihre Pracht entfaltet, dauert es natürlich, aber tolle Klamotten kann man sich rascher besorgen, und um barfuß zu sein, braucht man nur ohne Schuhe aus dem Hause zu gehen (theoretisch könnte man sie auch im nächsten Müllkasten entsorgen, ins Wasser werfen oder einfach irgendwo stehenlassen, aber wer macht das schon?).
Die großen Rockkonzerte der Menschheitsgeschichte (Monterey, Woodstock, Isle Of Wight etc.) sind von den Musikern zu einem verschwindend geringen Teil barfuß bestritten worden. Aber, BF ist bei Althippies ein so wesentlicher Teil des peripheren eigenen Ichs, daß es auch untrennbar irgendwo totaler Althippiestolz ist.
Ein weiterer Faktor besteht darin, daß man als Angehöriger dieser Generation, wenn auch meist nicht in der Situation als aktiver Musiker in Konzerten, BF gegangen ist bis zur Vergasung. Es macht sich irgendwo, wenn auch nur geringfügig, was das Ideelle und nicht das unmittelbare Erlebnis hieran anbelangt, eine Sättigung bemerkbar. Diese wird zwar aller Voraussicht nach gering sein, aber sie wird auch bei dir kommen, und zwar um so später, je mehr man dir in deiner Kindheit u. Jugend u. U. auf psychisch grausame Art und Weise Freiheit verweigert hat. Es bildet sich ein Komplementaritätsprinzip heraus: Was dir in deiner Entwicklung verwehrt bzw. aufgezwungen wurde, wird später meist bis zum Lebensende nachgeholt bzw. höhnisch über Bord geworfen. Nehmen wir z. B. Michael aus Zofingen (@ Michael: Bitte nicht als Einmischung auffassen, ich verwerte nur Informationen, die du hier selbst released hast): Auch wenn sein Vater später einen anderen Beruf ausgeübt hat, dürfte er als Schuhspezialist großen Wert darauf gelegt haben, daß der Sohn unten stets was Ordentliches anhatte und ihm BF-Neigungen im Sommer gründlicher ausgetrieben haben als andere Väter. Gleichzeitig mußte der Sohn wg. einer Mittelohrentzündung sommers eine Schutzmütze tragen und wurde deswegen psychisch von Mitschülern übel traktiert. Folge: BF wird jetzt nachgeholt bis wohl zum Lebensende, dies in komplementärer, d. h. sehr geringfügiger Kleidung und es besteht eine ausgeprägte Aversion gegen Kopfbedeckungen aller Art. Ein paar Facetten aus deiner Kindheit/Jugend hast du ja selbst rausgelassen, und wir 2 haben, so wie´s ausschaut, ein sehr ähnliches Schicksal, nur daß es dir, aus welchen Gründen auch immer, erst einige Lebensjahre später gelang, diesen vom Elternhaus aufoktroyierten Mist abzustellen. So bin ich heute doch einen Hauch mehr im weit überproportionalen "Nachholen" der fehlenden BF-Kinder- & Jugendzeit gesättigt, und Herr Roth hätte nicht das werden können, was er ist, hätte er nicht wahrscheinlich relativ früh Freiheit gehabt oder sich das erkämpft. So machen er und viele wirkliche Althippies sich nicht mehr viel aus BF, im Gegenteil, die Hemmschwelle für Establishment-Kleidung ist gesunken, verbindet sich aber mit dem selbstverständlich noch vorhandenen Hippiestolz in ganz eigenartiger Weise und man "gönnt" das Besondere von einst nicht so ohne weiteres jedem Parvenü, als dem du, auch wenn du u. U. älter als Bj. 66, Herrn Roth erscheinst. Deshalb hat er WAHRSCHEINLICH diese Frage gestellt, es könnte aber auch sein, daß es wirklich kalt war. Kälte- u. winterfest war nämlich meiner Wahrnehmung nach keiner der Althippies, die ich, gerade am unteren Ende des Gymnasiums angefangen, als Oberschüler wahrnahm, und von ihnen und von meiner Absolvia ("Zu spät-Hippies") liefen 10 - 20% (eher 10%) barfuß, aber nicht bei Kälte. Alle, die ich in weitem Umland kenne, haben aufgehört, ich blieb als einziger [>10...15°]-BF übrig.
Nun ja, ich mußte mir meine langen Haare mühsam erkämpfen (und bis heute werden sie von meinen Eltern zumeist stillschweigend, aber deutlich mißbilligt, und ich bin meinerseits auch nicht zu diesbezüglichen Diskussionen bereit), und die Barfüßigkeit entspringt einer alten, verschwiegenen Sehnsucht, die ihrer Befreiung in Form dieses Forums harrte. Zuvor hatte ich diese Sehnsucht mangels konkreter Vorbilder als "sonderbares Gelüsten" empfunden und mich heimlich dafür geschämt, was ich im Nachhinein selbst nicht mehr recht verstehen kann. Aber es ist wahr, daß viele Vorlieben sich in Opposition gegen Zwänge aus dem Elternhause entwikkeln. So mag ich beispielsweise keine Milch, weil ich als Kind gezwungen worden bin, welche zu trinken. Andere Vorlieben und Abneigungen entwikkeln sich aus anderen Gründen, sind aber darum nicht weniger konstant. So kann ich anders als Michael aus Zofingen nicht sagen, woher meine Abneigung gegen Kopfbedekkungen kommt.
Meine Ablehnung kurzer Hosen kommt daher, daß ich sie eines Tages mit 14 oder 15 Jahren als Kinderklamotten empfand und seither nicht mehr anziehen mochte. Später wurde diese Abneigung dadurch verstärkt, daß ich sie generell als unästhetisch empfand, was bis heute geblieben ist.
Daß Du Dir die Vorliebe fürs Barfußlaufen bis heute bewahrt hast, gefällt mir sehr, denn die meisten aus Deiner Generation, die ich noch barfuß laufen sah, als sie Oberstufenschüler waren, haben damit gänzlich aufgehört, ohne daß ich wüßte, warum. Vielleicht empfanden sie das Barfußlaufen damals als besonders "rebellisch" und haben sich später "angepaßt", getreu dem vielzitierten Spruch, daß es bedenklich sei, wenn jemand mit 18 Jahren keine revolutionären Ideale habe, und ebenso, wenn jemand mit 36 Jahren immer noch welche habe (ich selbst gehöre auch nach Überschreitung des Alters von 36 Jahren zur letzteren Sorte).
Rebellische und kein bißchen "gesättigte" Barfußgrüße,
Markus U.