Zwangsschuhe! (Hobby? Barfuß! 2)

Michael aus Zofingen, Stammposter, Wednesday, 18.10.2006, 13:20 (vor 6615 Tagen)

Samstag, 14.10.2006: Ich war immer noch in Polizeigewahrsam in Mülhausen, und das alles wegen barfuß und auch ansonsten nicht allzu winterlicher Kleidung bei 14°C und bedecktem Himmel. Die Franzosen scheinen noch verweichlichter zu sein als die Schweizer. Dann kamen drei neue Personen in den Raum, in dem ich mich befand: ein Mann in Zivil sowie ein Mann und eine Frau in einem weißen Overall, auf dem irgendein Wappen war. Sie trugen auch keine Schußwaffen und ihre Schuhe waren weniger fett als die Kampfstiefel der Polizeischergen. Von diesen "Nichtbullen" konnte nur die Frau gebrochen deutsch. Auch sie fragte: "Wieso läufst du barfuß?" Eigentlich ist es eine Beleidigung, wenn man zu einem unbekannten fünfzigjährigen Menschen "Du" statt "Sie" sagt, aber ich glaube, daß man mit einer Verleumdungsklage vor Gericht keinen Erfolg haben würde. Sicher würde das Gericht die Anklage abschmettern und mangelnde Sprachkenntnisse als Grund nennen. Später wechselte die Konversation nach englisch, da sie das etwas besser konnte als deutsch (und ich viel besser als französisch).

Immer wieder blickten andere Personen kurz in den Raum und starrten auf meine Füße, teils in Uniform, teils in Zivil. Was mir auch auffiel. Die Begrüßung von Polizisten untereinander war manchmal sehr herzlich, mit Umarmung und Küßchen. Und das in Gegenwart von Fremden (nicht nur mir, sondern auch eines älteren Herrn (Clochard?), der eine rote Nase hatte und in ein Gerät blasen mußte. Er störte sich nicht an meinen Füßen und nahm die Polizeischikanen gelassen hin. Er trug übrigens Sandalen ohne Fersenriemen, zwar in Kombination mit Socken, aber trotzdem hob er sich positiv von der fett beschuhten Mehrheit ab)! In der Schweiz wäre ein derartiges Verhalten undenkbar!

Ich mußte mit den "Nichtbullen" das Kommissariat verlassen. Vor dem Gebäude stand ein Ambulanzfahrzeug. Die Frau öffnete die Hecktüre, breitete die Liege aus, legte noch Papier aus, ich mußte mich hinlegen. Gefesselt wurde ich nicht, auch wurde mir keine Zwangsjacke verpaßt. Während ich da so lag, sagte sie, nachdem sie mich betrachtet hatte, zum "Zivilisten": "Nicke figure!" Nach einer Weile setzte sie sich ans Steuer, während die anderen im Heck des Ambulanzfahrzeuges sitzen blieben. Meinen Ausweis, den mir die Bullen wieder zurück gegeben hatten und unmittelbar danach von den "Nichtbullen" einkassiert hatten, behielten sie. Andauernd hörte ich, wie über Funk mein Name durchgegeben wurde, ebenso schnappte ich Wortbrocken auf wie "T-Shirt", "shorts", "pieds nus", "Zofingue", "velo", "Illberg".

Die Fahrkünste der Frau waren alles andere als berauschend, irgendwie unregelmäßig. Soll sie doch barfuß fahren, da hat man mehr Gefühl! Mich interessierte natürlich auch, wohin die Fahrt ging, daher blickte ich aus dem Fenster, wobei man im Liegen jedoch nicht das sieht, was man auf dem Beifahrersitz sehen würde. Also blieben mir markante Gebäude wie Kirchen ein Anhaltspunkt, aber auch einzelne Schilder mit Straßennamen und Wegweiser. Einen großen Dienst erwies mir die Oberleitung der Straßenbahn, die wir nach kurzer Zeit erreichten, es mußte die Linie 1 sein, wir fuhren Richtung Stadtzentrum. Bei einem kleinen und übersichtlichen Trambetrieb wie in Mülhausen ist das noch einfach. In Zürich wäre das schwieriger. Einmal nach rechts, die Verdrahtung des Himmels hörte auf. Nach einiger Zeit wurde wieder eine Oberleitung unterquert, aha, die Linie 2. Ein eiserner Brückenbogen tauchte auf. Ich erhob mich kurz von meiner Pritsche und erkannte, daß wir gerade die Eisenbahn überquert hatten, in unmittelbarer Nähe des Hauptbahnhofs, dessen Anlagen ich erkannte. Dann aber quälte sich die Ambulanz bergauf. Nach kurvenreicher Fahrt erblickte ich einen eisernen Sendemast, kurz danach hielt das Fahrzeug.

Die Frau kam wieder zu mir und überreichte mir 2 blaue "Plastikfetzen" und befahl mir, diese über die Füße zu stülpen. Ich kannte solche Dinger. In unserer Firma müssen Mitarbeiter und Kunden in bestimmten Räumlichkeiten, die nicht verdreckt werden dürfen, über ihre Schuhe ziehen. Und ich sollte also diese ekligen Plastiksäcke über meine nackten Füße ziehen? Welch eine Schande für einen Barfüßer! Irgendwie erniedrigend und entwürdigend. Und dann noch auf Anweisung einer Frau!

Äääääääääääähhhhhhhhh! Kotz! Würg!

Aber ich leistete dem Sattelbefehl der Amazone widerstandslos Folge. Wir betraten ein Gebäude, das, wie ich später erfuhr, das "Emile-Muller-Hospital" war:
[image]

Ich wurde in einen Raum geführt, in dem ich warten mußte. Auch andere Leute warteten dort. Andauernd kamen auch Bedienstete des Spitals (von denen die meisten Frauen zu ihrer Spitalkleidung Sandalen ohne Socken trugen, die Männer aber meist geschlossene Schuhe, in selteneren Fällen Birkenstock-"Gesundheits"-sandalen mit Socken). Obwohl draußen nur Temperaturen von 14°C herrschten und während der Fahrt in der Ambulanz ein sehr schwacher Regen eingesetzt hatte. Wenn Spitalangestellte kamen und meine nicht gerade fetten blauen Schuhe sahen, machten sie große Glotzaugen, aber irgendwie von anderer Art wie wenn man plötzlich und unerwartet irgendwo "ganz" barfuß auftaucht. Meistens verzogen die Leute die Mundwinkel krumm. Es kam auch vor, daß einige Spitalangestellte mal eben um die Ecke schielten, vermutlich weil Kollegen sie auf den "schrägen Siech mit den blauen Schuhen" hingewiesen haben und nun selber sehen wollten, was sie nicht glauben konnten. Ich kam mir vor wie ein Blödmann!

Es war schon nach 16 Uhr. Allmählich machte ich mir Gedanken, was wohl mit mir geschehen würde. Würden sie mich über Nacht behalten? Oder gar übers Wochenende, weil die Leute, die für "hoffnungslose Fälle" wie mich zuständig sind, nur montags bis freitags arbeiten. Wie sollte ich es meinem Arbeitgeber erklären, wenn ich nicht pünktlich am Montag am Arbeitsplatz erscheinen würde? Mit Schreck fiel mir ein, daß mir das Spital eine Rechnung für die Behandlung ausstellen würde. Würde das die Schweizer Krankenkasse bezahlen? Und selbst wenn: 1500 SFR ist meine Jahresfranchise. Mit anderen Worten: Erst wenn ich mehr als 1500 SFR an Arztkosten (ohne Zahnarzt) habe, bezahlt die Krankenkasse auch nur einen müden Rappen. Und da ich dank Barfußlaufen in diesem Jahr noch keinerlei Arztkosten hatte, wäre das ganz schön happig. Oder könnte ich die Rechnung der Mülhausener Stadtpolizei schicken, damit sie (oder die Stadt) die Rechnung bezahlt? Und ich dachte an mein Fahrrad. Ein paar Stunden würde es wohl unbeschädigt am Ort bleiben. Aber über Nacht? Irgendwann würden Vandalen es mitbekommen. Oder die Stadtreinigung würde es entsorgen, wenn es länger dort steht. Und dann die Bahnkosten und die Kosten für ein neues Fahrrad. Alles in allem doch ein hoher Preis nur dafür, daß ich nur mal eben barfuß und in nicht allzu winterlicher Kleidung durch die Stadt gehen wollte. Dabei soll doch barfuß laufen jederzeit KOSTENLOS möglich sein und nicht auf Reservate beschränkt. Verkehrte Welt!

Solche Gedanken kommen einem, wenn man wartet, warten muß. Dann wurde ich von einem Arzt (oder was auch immer) herausgeführt. Er sprach Elsässer Dialekt (oder war es Schweizerdeutsch?), was ich somit verstand. Nun begann die Befragung abermals, und ich erzählte ihm auch das. Er schien sich zu wundern, was ich für Ortskenntnisse von Mülhausen besaß und von den Straßenbahnen. Auch erzählte ich, daß ich zur Einweihung des Trams bereits in der Stadt war. Dann fragte er: "Warum haben Sie das nicht alles der Polizei gesagt?" "Das ist nicht so einfach. Ich kann kein Französisch, von den Polizisten konnten nur wenige etwas deutsch, wie soll es da zu einen umfassenden Kommunikation kommen?"

Kurze Zeit später durfte ich gehen. Ich verließ das Spital, entledigte mich der ekligen blauen Dinger und pfefferte sie in einen Papierkorb. Würde ich den Weg finden? Ein häufiger vorkommender Wegweiser "Centre Ville" war recht hilfreich. Weniger schön war, daß der nasse Asphalt (der Regen hatte mittlerweile wieder aufgehört) des Trottoirs teilweise recht baufällig war, teilweise aufgegraben war und teilweise auch Bucheckern auf dem Weg lagen. Aber das störte mich weniger. Ich gelangte zur Brücke über die Eisenbahn beim Hauptbahnhof, zur Tramlinie 2 und folgte dann dem parallel dazu verlaufenden Fuß- und Veloweg aus neuem barfußfreundlichen Asphalt zu meinem Fahrrad, das immer noch so da stand, wie ich es abgestellt hatte. Meine barfüßige Wanderung durch Mülhausen war zu Ende. Mülhausen, eigentlich eine schöne Stadt. Mit schöner Altstadt, schöner Straßenbahn, schönen barfußfreundlichen Wegen. Aber jede noch so schöne Stadt hat auch ihre Schattenseiten. Und diese hatte ich diesmal erlebt. Trotz alledem kein Grund, Mülhausen in Zukunft zu meiden oder nur mit Schuhen, langen Hosen und sonstigen Dingen, die ich nicht gerne trage, zu betreten.

Schöne Grüße

Michael aus Zofingen


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