Ergänzender Text zum Gleichgewicht (Hobby? Barfuß! 2)

Georg @, Stammposter, Sunday, 20.02.2005, 18:18 (vor 7159 Tagen) @ Georg

BARFUSS DURCH DIE HALLE - ODER: IM KREBSGANG SICHER VORAN

Jede Woche einmal kommt eine Essener Schulklasse zum Sportunterricht zu den Sportpädagogen der Universität Duisburg-Essen. Barfußturnen steht im Programm, denn Barfußturnen schärft die Sinne und fördert das Koordinationsvermögen, hat man dort bei vielfältigen Übungen erfahren.

Hannahs Glück besteht aus vier Rollen und einem Brett. Sie kniet mit dem rechten Bein auf dem Brett und stößt sich mit dem linken Fuß am Boden ab. Jauchzend und immer wieder. Mit waghalsigem Tempo saust das Mädchen durch die Turnhalle, die sich jetzt mit Jungen und Mädchen füllt.
Einige können sich - wie Hannah - eines der beliebten Rollbretter schnappen, der Rest tobt durch die sonnendurchflutete Sportanlage an der Henri-Dunant-Straße. Die 23 Jungen und Mädchen der Klasse 2a der Graf-Spee-Schule in Essen-Bredeney haben ihre Sportschuhe in den Holzregalen vor der Tür gelassen. Barfußturnen ist angesagt. [...]
Jeden Mittwoch kommt die Klasse 2a zum Sportunterricht an die Henri-Dunant-Straße. Die Essener Sportpädagogen bieten dort seit mehr als zwölf Jahren den Ausbildungsgang "Sportförderunterricht" an. Ziel ist es, künftige Primarstufenlehrer so zu schulen, dass sie später im Sportunterricht Kinder mit motorischen Schwächen gezielt fördern können. Die Studierenden lernen in acht zusätzlichen Semesterwochenstunden, solchen Sportunterricht zu leiten und spezielle Übungseinheiten für Kinder mit Koordinations-, Haltungs- oder psychosomatischen Störungen auszuarbeiten. Bestandteil dieses besonderen Studienangebots ist auch der Unterricht mit den Graf-Spee-Schülern.
"Kinder leiden zunehmend unter Störungen der motorischen Fähigkeiten - Tendenz steigend", erklärt Jürgen Schmagold. Das sei beängstigend, denn bei zunehmendem Bewegungsmangel steige auch die Anfälligkeit für Unfälle, Verletzungen und Krankheiten.
Hannah und ihre Klassenkameraden interessieren sich dafür wenig. Sie sitzen in einem Kreis auf dem Boden und versuchen, von dort eine Zeitung mit den Füßen aufzuheben. Die meisten Kinder liegen nach kurzer Zeit auf dem Rücken und halten ihre Beute mit den Füßen stolz in die Luft.
Der zweite Teil der Übung ist schwieriger: Die Zeitung wird mit den Füßen zu einer Kugel zerknüllt. Schon bald kicken die ersten Kinder ihre Papierbälle durch die Halle. Einige nehmen beim Zerknuddeln die Hände zu Hilfe - heimlich, versteht sich.
Schmagold beobachtet die Gruppe. Er weiß: "Viele Erwachsene sind zu dieser Übung nicht mehr in der Lage."
Die Kinder bauen jetzt verschiedene Stationen zu einem Parcours auf. Hannah balanciert auf einem Therapiekreisel, der verblüffende Ähnlichkeit mit einem umgedrehten Ufo aufweist. Ein gelber Kranz thront auf einem Ball, hier werden Gleichgewicht und Koordination trainiert. Gar nicht so einfach! Die Kinder wackeln bedenklich und müssen immer wieder abspringen.
Weiter geht es zur nächsten Station. Mit geschlossenen Augen balancieren die Schüler über eine auf dem Boden liegende schmale Holzplanke. Einige scheitern schon nach den ersten Schritten, die meisten schaffen den Durchgang jedoch spielend. Deshalb heißt es: Rückwärts und mit geschlossenen Augen. Auch das klappt - nach und nach.
"Gut gemacht", lobt Jürgen Schmagold einen Jungen, der die Holzplanke gerade im Krebsgang gemeistert hat. "Die Koordinationsfähigkeit", erklärt der Sportlehrer, "setzt sich aus verschiedenen Sinnen zusammen, die gemeinsam arbeiten müssen. Sehen, Hören, der Tastsinn und der Gleichgewichtssinn spielen eine große Rolle. Diese Sinne müssen ständig geschult, das heißt genutzt werden, damit die motorischen Fähigkeiten nicht verkümmern. Alle Übungen, die wir hier mit den Kindern machen, eignen sich dazu."
Für Schmagold hat Sport nicht viel mit Konkurrenzdenken zu tun: "Höher - schneller - weiter: Mit diesem Anspruch verbinden nicht nur Kinder, sondern auch viele Lehrer den Sportunterricht. Das ist aber falsch. Wir möchten den Kindern die Freude an der Bewegung vermitteln."
Hannah ist inzwischen an der nächsten Station angekommen. Sie versucht zusammen mit drei Mitschülern, Duplosteine mit den Füßen zusammenzusetzen. Dann angeln die Jungen und Mädchen bei geschlossenen Augen mit den Zehen nach Springseilen und legen Buchstaben. Das "S" gehört zu den beliebtesten .Formen, das "I" hingegen ist viel zu leicht, keine Herausforderung mehr. Ein Spiel beendet den Unterricht: Auch .Fangen lässt sich problemlos mit nackten Füßen spielen.
Den Anstoß für das Barfußturnen hat das Labor für Biomechanik, Bewegungslehre und Sportmedizin im Fach Sportpädagogik gegeben. Dr. Thomas Milani ist dort tätig; er hat seine Wirkungsstätte in direkter Nähe zur Turnhalle. KIKO heißt das Projekt, das den Grundschülern den Barfußspaß beschert: KinderKoordination.
"Wir haben in Studien mit Studierenden und Schülern herausgefunden, dass die Empfindlichkeit der Fußsohle großen Einfluss auf die Gleichgewichtsfähigkeit beim Menschen hat", erklärt Milani. Bei den Probanden wurde die Sensorik der Fußsohle systematisch mit verschiedenen Hilfsmitteln geprüft: mit unterschiedlich dicken Nylonstäbchen und einem Gerät, das Vibrationen unter der Fußsohle auslöst. "Wir haben die Fußsohlen in fünf verschiedene Zonen unterteilt, da nicht jeder Bereich des Fußes gleich empfindlich auf Druck reagiert", berichtet Milani und pickst sich mit einem der feineren Nylonstäbchen in den Handrücken. "Ein feineres Stäbchen erzeugt natürlich deutlich weniger Druck als ein dickeres. Je sensibler die Fußsohle, desto feiner die Stäbchen, deren Druck vom Gehirn wahrgenommen wird." In der Fachsprache heißen die Stäbchen Semmes-Weinstein-Monofilamente.
Eine Fußbank spielt bei einem anderen Test eine Rolle. Durch ein kleines Loch in ihrem Bezug ragt ein Stößel knapp über die Oberfläche. Milani: "Der Stößel wird in Bewegung gesetzt, zunächst ganz schwach, dann immer stärker. Die Kinder setzen ihren nackten Fuß auf den Hocker und müssen uns sagen, ab wann sie die Vibration spüren." Auch hier gilt: Je früher die Vibration bemerkt wird, desto sensibler sind die Fußsohlen.
Die Studie bringt ein klares Ergebnis. "Unsere Sportstudierenden, die ja über sehr hohe koordinative Fähigkeiten verfügen, zeigen in den Tests auch sehr druckempfindliche Fußsohlen." Ähnliches gilt für die Schüler: Wer gut bei den Tests zur Sensorik abschneidet, zeigt auch im Koordinationstest für Kinder (KTK) mit seinen verschiedenen Gleichgewichtsübungen gute Ergebnisse. [...]
"Das können wir schon sicher sagen: Die Bewegungsförderung für Kinder ist wesentlich effektiver, wenn Kinderfüße nicht ständig in dicke Turnschuhe gepresst werden, sondern die Sensorik der Füße beim Barfußlaufen stimuliert wird", heißt es bei den Sportpädagogen. [...]

Auszug aus:
http://www.uni-duisburg-essen.de/imperia/md/content/pressestelle/2.pdf


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