Afrikanische und europäische Barfußläufer (Hobby? Barfuß! 2)

Georg @, Stammposter, Sunday, 29.12.2002, 13:27 (vor 7944 Tagen) @ Michael (wat)

Auf der genannten WDR-Seite, die Teil einer allgemeinen Reihe zum Thema "Fitness durch Laufen" ist, steht u.a.:

| Vielleicht denken Sie jetzt: Warum dieser Aufwand? Sogar Weltklasseläufer aus Afrika sind teilweise barfüßig zu Wettkämpfen angetreten, da kann ein Schuh doch gar nicht so wichtig sein! Falsch. Denn jeder, wirklich j e d e r afrikanische Profiläufer bedeckt nach kurzer Exoten-Karriere seine "Arbeitsgeräte" mit HighTech-Schuhen. Denn meist früher als später entdecken die "Natur-Läufer", dass sie mit modernen Sportschuhen besser laufen.
| Für unsere verwöhnten westeuropäischen Füße geht es gar nicht ohne. Uns fehlt Hornhaut an den Sohlen, und viele Mitmenschen müssen sich mit Fußfehlstellungen herumplagen. Seit Generationen stecken unsere Füße in Schuhen und daran haben sie sich gewöhnt. Bei außergewöhnlicher Belastung brauchen unsere Beine Unterstützung.

Ich bin mir bewusst, dass ich voreingenommen und nicht umfassend informiert bin, aber trotzdem ein paar Kommentare dazu:

Hallo Michael,
das gilt für mich auch. Die Autoren solcher Texte wie des obigen sind es aber nicht minder : sie schreiben ziemlich unreflektiert nieder, was scheinbar offensichtlich und mit ziemlicher Sicherheit trotzdem falsch ist.

1. Auf welchen Böden arbeiten afrikanische Profiläufer? Die Spitzenathleten können natürlich von der Teilnahme an nur den größten Veranstaltungen gut leben

Sie "leben" von Sponsoren bzw. Preisgeldern der Veranstalter, die ihrerseits Sponsoren haben.
Wichtige Sponsoren in der Leichtatlethik sind die Sportartikel - Hersteller - also faktisch die Hersteller von Sportschuhen. Die wiederum haben verständlicherweise keinerlei Interesse, solche Atlethen zu sponsern, die öffentlich zeigen, dass es ohne Schuhe mindestens genauso gut geht wie mit. Das wäre ja geradezu geschäftsschädigend. Also wird mit Verträgen geködert - und in denen steht als Paragraph eins, dass man sich nur noch in der Kleidung dieser Firma auf dem Sportplatz blicken lassen darf.

Ich will aber auch nicht ausschließen, dass man in Schuhen tatsächlich etwas schneller ist; zumindest für Spikes - die allerdings für kürzere Strecken genutzt werden - scheint mir das wahrscheinlich zu sein. Ob es genauere Untersuchungen dazu gibt, weiß ich nicht. Was ich weiß ist, dass Wettbewerbe oft genug mit Zeitdifferenzen entschieden werden, die in Zehntel oder Hundertstel Sekunden gemessen werden und die Psyche ine große Rolle spielt. Vielleicht reicht es da ja, wenn man den Atlethen - ähnlich wie der Öffentlichkeit - einredet, sie seien in Schuhen schneller?

2. Bei Fußfehlstellungen ist es sehr gut denkbar, dass Schuhe zum Ausgleich der durch die Fehlstellungen bedingten unnatürlichen Belastungsmuster nützlich sind. Die Frage ist, was ist Ursache und was Wirkung? Wo kommen die Fehlstellungen her?

Die wichtigsten Gründe sind : viel zu wenig Barfußlaufen, stattdessen viel zu häufiges Tragen von dann noch schlechten / falschen Schuhen, allgemein viel zu wenig Bewegung und Übergewicht.

Werden die westeuropäischen Füße von Schuhen am Ende doch nicht so verwöhnt, wie hier impliziert wird?

Sie werden ja nicht verwöhnt, sondern missgebildet!

3. Meines Erachtens wertet die Äußerung, dass uns die Hornhaut fehle, den Text deutlich ab. Es ist einfach ungenau: Hornhaut an den Sohlen ist nicht erstrebenswert, eine flexible Lederhaut dagegen ein großartiger Schutz.

Davon hat der Autor dieses Textes genauso wenig Ahnung wie - leider - viele Orthopäden. Mangels eigener Erfahrung und mangels geeigneter Aufklärungskampagnen werden unsinnige Vorurteile vervielfältigt.

4. Es dürfte klar sein, dass bei wirklich außergewöhnlicher Belastung jede Hilfe gut und nützlich ist, die man nur bekommen kann. Nur, was hat das in einem Text über Laufschuhe verloren? Laufen ist doch ein derart grundlegender Akt, dass es ? zumindest bei kurzen bis mittleren Distanzen ? an sich nicht außergewöhnlich sein sollte.

Ist es eben doch! Dass zuwenig gelaufen und sich bewegt wird, hat ja die in der Kindheit / Jugend erworbenen Fehlstellungen bewirkt. Der Erwachsene, in dem die Erkenntnis reift, seinen Lebensstil ändern zu sollen - aus welchen Gründen auch immer - hat nun ein Problem. Und die Sportschuhhersteller versprechen, dieses Problem zu lösen.
Ob das mit Schuhen tatsächlich gelingt, sei mal sehr dahingestellt. Andererseits halte ich es aber auch für wenig hilfreich, mit beträchtlichen Fehlstellungen der Füße und dem damit verbundenen Fehlen einer leidlich ausgebildeten Fußmuskulatur barfuß über unnachgiebige Böden zu laufen.
Vernünftig wäre es, den Fitnessbedarf zunächst z. B. mit Schwimmen, Radfahren, Rudern oder anderen Sportarten zu decken, die die Füße nicht mit einem Mehrfachen des Körpergewichts belasten, wie es beim Laufen der Fall ist. Parallel dazu könnte ein Fußmuskulaturaufbautraining mit Barfußwandern und gezielter Gymnastik Wunder wirken, die nach einiger Zeit Barfußlaufen zumindest auf Naturböden - später auch auf harten Böden - ermöglichen.
Aber wer nimmt schon soviel Aufwand in Kauf, wenn (angeblich) die Lösung für gut 100 Eure im Regal steht ?

Wie weit führen ein unnatürlicher Boden und unnatürliche Haltungs- und Bewegungsmuster erst zum Entstehen der außergewöhnlichen Situation?

Das hatte ich oben schon angesprochen.
Extrem hilfreich wäre mit Sicherheit, wenn die Kinder und Jugendlichen beim Sport in Kindergärten und Schulen nicht mehr aus Angst vor Elternklagen in Schuhe hineingezwungen, sondern im Gegenteil bei jeder passenden Gelegenheit davon befreit würden. Das täte nicht nur der Fußmuskulatur gut, sondern würde hoffentlich auch ein Bewusstsein dafür schaffen, wie man seinen Füßen (übrigens auch Knien und Rücken) mit einfachen Mitteln Gutes tut!

Nachdenkliche Grüße, Michael

Es füßt zurück
Georg


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