Engel und Mignon (Hobby? Barfuß! 2)

Ralf RSK, Stammposter, Thursday, 30.11.2006, 14:49 (vor 6571 Tagen) @ Tiziana

Denn das auf der Postkarte dargestellte Mädchen stimmt mit der
Goetheschen Mignon-Beschreibung überhaupt nicht überein.

Es fand sich eben, daß der Geburtstag von Zwillingsschwestern, die sich immer sehr gut betragen hatten, nahe war; ich versprach, daß ihnen diesmal ein Engel die kleinen Geschenke bringen sollte, die sie so wohl verdient hätten. Sie waren äußerst gespannt auf diese Erscheinung. Ich hatte mir Mignon zu dieser Rolle ausgesucht, und sie ward an dem bestimmten Tage in ein langes, leichtes, weißes Gewand anständig gekleidet. Es fehlte nicht an einem goldenen Gürtel um die Brust und an einem gleichen Diadem in den Haaren. Anfangs wollte ich die Flügel weglassen, doch bestanden die Frauenzimmer, die sie anputzten, auf ein Paar großer goldner Schwingen, an denen sie recht ihre Kunst zeigen wollten. So trat, mit einer Lilie in der einen Hand und mit einem Körbchen in der andern, die wundersame Erscheinung in die Mitte der Mädchen und überraschte mich selbst. ›Da kommt der Engel!‹ sagte ich. Die Kinder traten alle wie zurück; endlich riefen sie aus: ›Es ist Mignon!‹ und getrauten sich doch nicht, dem wundersamen Bilde näher zu treten.

›Hier sind eure Gaben‹, sagte sie und reichte das Körbchen hin. Man versammelte sich um sie, man betrachtete, man befühlte, man befragte sie.

›Bist du ein Engel?‹ fragte das eine Kind.

›Ich wollte, ich wär es‹, versetzte Mignon.

›Warum trägst du eine Lilie?‹

›So rein und offen sollte mein Herz sein, dann wär ich glücklich.‹

›Wie ist's mit den Flügeln? Laß sie sehen!‹

›Sie stellen schönere vor, die noch nicht entfaltet sind.‹

Und so antwortete sie bedeutend auf jede unschuldige, leichte Frage. Als die Neugierde der kleinen Gesellschaft befriedigt war und der Eindruck dieser Erscheinung stumpf zu werden anfing, wollte man sie wieder auskleiden. Sie verwehrte es, nahm ihre Zither, setzte sich hier auf diesen hohen Schreibtisch hinauf und sang ein Lied mit unglaublicher Anmut:

So laßt mich scheinen, bis ich werde;
Zieht mir das weiße Kleid nicht aus!
Ich eile von der schönen Erde
Hinab in jenes feste Haus.

Dort ruh ich eine kleine Stille,
Dann öffnet sich der frische Blick,
Ich lasse dann die reine Hülle,
Den Gürtel und den Kranz zurück.

Und jene himmlischen Gestalten,
Sie fragen nicht nach Mann und Weib,
Und keine Kleider, keine Falten
Umgeben den verklärten Leib.

Zwar lebt ich ohne Sorg und Mühe,
Doch fühlt ich tiefen Schmerz genung;
Vor Kummer altert ich zu frühe;
Macht mich auf ewig wieder jung!

Ich entschloß mich sogleich«, fuhr Natalie fort, »ihr das Kleid zu lassen und ihr noch einige der Art anzuschaffen, in denen sie nun auch geht und in denen, wie es mir scheint, ihr Wesen einen ganz andern Ausdruck hat.«

...

Mignon im langen weißen Frauengewande, teils mit lockigen, teils aufgebundenen reichen braunen Haaren, saß, hatte Felix auf dem Schoße und drückte ihn an ihr Herz; sie sah völlig aus wie ein abgeschiedner Geist, und der Knabe wie das Leben selbst; es schien, als wenn Himmel und Erde sich umarmten.

viele Grüße, Ralf


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