Werbung für Selbstverständliches? (Hobby? Barfuß! 2)

Michael K. (BO) ⌂, Stammposter, Saturday, 23.09.2006, 01:19 (vor 6641 Tagen) @ Stefan27

Lieber Stefan,

Ich hatte letzte Woche ja mal einen Eintrag in dieses Forum gemacht, um zu sehen ob es hier auch Leute zwischen 15 und 30 gibt. Offensichtlich ist da eine Lücke.

die Lücke schlüpft zumindest in meinem Fall bei Bedarf ganz gerne in diesem Forum hier unter...

Im Gegensatz zu anderen Interessensgruppen wie z.B. religiösen Sekten, die einen Riesenaufwand zur Werbung von Neumitgliedern auch im Internet betreiben (und damit leider auch Erfolg haben) scheint es den meisten Barfüsslern egal zu sein, wer sonst noch mit macht.

Nein. Im Gegenteil: Es sollen bitte die Menschen mitmachen, denen es Freude bereitet und die sich aus freien Stücken dafür entschieden haben. JedeR einzelne ist ein Gewinn, für sich selbst und für die anderen. Barfußlaufen ist keine Geheimwissenschaft, nichts, das man sich nicht mit ein wenig Nachdenken und Fühlen selbst erschließen könnte. Solange immer noch die Mehrheit der Menschen barfuß geboren wird, ist der Weg dahin prinzipiell einfach und erfordert lediglich gesunde Gedanken im inneren des Kopfes, die einem auch Interessengruppen von außen nicht authentisch beibringen können.

Werbung sehen einige grundsätzlich negativ als Kapitalismus und Einschränkung der Freiheit. Warum, weiss ich nicht. Jeder Dorfturnverein macht schliesslich Werbung und das hat nichts mit "missionieren" zu tun.

Nun gibt es ganz unterschiedliche Bedeutungen des Wortes „Werbung“. Die Art von Werbung, die vielfach als negativ und einschränkend empfunden wird, findet von oben herab statt. Eine beliebige Institution stellt sich auf eine erhöhte Plattform, bedient sich bunter, lauter, bewegter Medien, und vermittelt Botschaften, die möglichst von dem gewünschten Publikum gesehen, gehört, gefühlt werden sollen.

Die Mittel, welche die Institutionen dafür einsetzen, sind aufwändig mit wissenschaftlichen Mitteln gewonnen worden, um möglichst genau den Nerv der Publikums zu treffen. Zumeist wird ein Mangel beschworen, dann eine Lösung angeboten, die in Form eines Produktes im Tausch gegen Geld erhältlich ist. Das Muster ist stets derart ähnlich, dass einige wenige Alleinstellungsmerkmale den Hauptunterschied zu der gleichartig aufgebauten Werbung anderer Institutionen darstellen. So kommt es dann, dass sogar Grundfarben oder kurze Wortteile eng mit Institutionen verknüpft werden, und ihre exklusive Verwendung eifersüchtig überwacht wird, Verstöße mit der Macht des Gesetzes unterdrückend. Ganz besonders gut funktionieren Tabubrüche als Alleinstellungsmerkmal, etwa mit schockierenden Fotografien.

Das sehen in der Tat einige Menschen negativ, die weder gerne von oben herab angeredet werden möchten, noch sich geschickt manipulieren lassen mögen oder den Einsatz von Zwang begrüßen. Sie spüren vielleicht, dass dabei die Vielfalt des Lebens verengt wird: Wenige hätten gerne, dass viele ganz exakt das tun, was sie ihnen vorgeben.

Dann gibt es die Art von Werbung, die etwa der Dortturnverein macht. Sie ist viel weniger aufwändig gestaltet, und es gibt keinen annähernd so extremen Höhenunterschied. Der Vereinsvorstand mag sich vielleicht etwas wichtig nehmen, oder die Trainerin ihre Schützlinge zu sehr über den grünen Klee loben, aber wenn ein Dorfturnverein in seinen Anzeigen gegen den guten Geschmack verstößt, wird er das sofort, direkt und deutlich zu spüren bekommen. Es passiert etwas von Mensch zu Mensch. Und die betreffenden Zeitungsartikel oder Schaukästen kann man leicht ignorieren, wenn sie einen stören.

Und zuletzt gibt es noch die Werbung, welche etwa von den Aktiven in diesem Forum betrieben wird: Sie findet gänzlich auf gleicher Augenhöhe mit der Umgebung statt. Niemand fordert einen laut dazu auf, das Best-Of zu lesen oder einen Barfußpfad zu begehen. Trifft man als Beschuhter auf Barfüßige, kann man sie sofort ansprechen oder sie bloß staunend betrachten. Sie sind ein lebendes Beispiel, wie du und ich. Drängt sich jemand damit in den Vordergrund und will andere überzeugen, kann man das getrost der Persönlichkeit oder einer Laune zuschreiben, genauso wie andersherum die ganz Schüchternen erst bei 30 Grad aus den Puschen kommen und daheim bei Muttern Socken anziehen. Und kommt die direkte Frage, ob es nicht zu kalt ist, reagiert man anders, als es die spezialisierten Telefonierer im Callcenter auf die Frage tun, ob man bei Produkt xy nun den Nippel durch die Lasche ziehen muss oder doch erst die Kurbel drehen, oder als es der zu den Mitgliedsbeiträgen befragte Kassenwart des Sportvereins tut.

Das wichtigste ist, dass hier die Vielfalt der Möglichkeiten erhalten bleibt. Würde man alle Teilnehmenden (past and present) dieses Forums im großen Kreis nebeneinanderstellen, gäbe das eine relativ bunte Mischung. Sie könnte unter anderen Umständen auch noch viel größer sein, weil hier hauptsächlich gebildete, deutschsprachige, aus der Mittelschicht stammende, junge bis mittelalte EuropäerInnen mit Computerkenntnissen (und Faible für Eisenbahnen *g*) schreiben, was schon eine recht begrenzte Auswahl ist.

Dass sich die Leute von Werbung beeinflussen lassen, können wir nun mal nicht ändern. Und da man mit Schuhen viel Geld machen kann, verzichten die Turnschuhhersteller sicher nie auf Werbung.

Im Grunde können einem die Turnschuhverkäufer Leid tun. Sobald sie weniger wirksame Werbung machen, werden andere Verkäufer mehr auffallen. Am Ende könnten die Turnschuhverkäufer Pleite gehen und sich bestenfalls als Sozialschmarotzer beschimpfen schlimmstenfalls wegen Obdachlosigkeit verhaften lassen müssen oder vor ihrer Zeit sterben. Da macht man doch lieber mehr Werbung, solange man kann.

Wobei Turnschuhe nun wirklich simpel herzustellen sind und wohl auch für sämtliche Firmen in den selben, outgesourcten Fabriken unter beliebigen, unkontrollierbaren Bedingungen erzeugt werden. Die einzigen Unterschiede bestehen in den eifersüchtig überwachten Logos.

Dass Trends meist einen Höhepunkt haben und dann wieder abflauen, stimmt ja. Nur hätte ich lieber einen Höhepunkt, an dem mein Hobby "Barfuss" wiedermal in ist als einen dauernden Rückgang. Es stimmt nun mal leider, dass in den Schulen heute kaum noch jemand barfuss geht.

Unsere Schulen erscheinen -- Ausnahmen bestätigen die Regel -- als Lernfabriken, die wenig von den tatsächlichen Fähigkeiten vermitteln, die man für ein erfülltes und selbstbestimmtes Leben im Einklang mit der Natur benötigt. Sie verfolgen üblicherweise einen ähnlichen „einer erzählt Abstraktes, der Rest hört vielleicht zu“-Ansatz wie die erstgenannte Form von Werbung. Dies ist vielleicht nur meine persönliche Erinnerung, auch wenn es nicht gar so schlimm war und Georg mich nun gerne niederrunzeln darf ;-). Mir ging es da nicht gut, und Verletzungen durch die im gleichen Boot sitzenden MitschülerInnen und Lehrer kamen vor. Wenn es mir nicht gut geht und ich Verletzungen befürchten muss, ziehe ich Schuhe an und suche Sicherheit in der Uniformität. In unserer Kultur logisch. Volles Verständnis. Kein Grund zur Beunruhigung.

Ich dachte zuerst, unter dem Namen www.barfuss.net sei sowas wie ein "offizieller" Verein, der von irgendeiner Internetfirma gesponsort wäre und etwas Geld hätte. Naja, Geld wünscht sich wohl jeder.

Nein, nicht Geld, sondern das, wofür Geld steht: Die Möglichkeit, Sicherheit, Nahrung, eine Behausung, Erholung, Kontakt mit anderen, Unterhaltung, Bildung, Bewegung zu erwerben und nach eigenem Gusto gestalten zu können. Auch Einflussmöglichkeiten, Macht, Sorglosigkeit, vielleicht Liebe oder körperliche Nähe sind gegen ausreichend Geld erhältlich. Geld an sich ist auch nur ein sehr geschickt beworbenes, durch Gesetze und Zwang unverzichtbar gemachtes, aber dennoch rein künstliches Erzeugnis.

Und wäre barfuss.net glaubwürdiger und „amtlicher“, wenn ein Sack voller Geld dahinterstände, als wenn es reale, anfassbare und in der Regel sehr angenehme Menschen tun, die es freiwillig und mit Freude gestalten? Glaubwürdiger für wen?

Also lasst euch nicht beunruhigen und vergesst die Jugend. Ich werde auch bald 50 und dann stirbt unser Hobby eben aus...

Bitte mache Dir bewusst, dass der Mensch (der Gattung homo) seit Jahrmillionen barfuß geht und Schuhe erst seit einigen hundert Jahren für einen Großteil der Menschen zum Alltag gehören. Zunächst waren sie auch extremen Wetterlagen und Gegebenheiten sowie zeremoniellen Anlässen vorbehalten.

Der totale Überdruss an industriell erzeugten Spezialschuhen für jeden nichtigen Anlass ist noch viel jünger. Erst kürzlich unterhielt ich mich mit einem ca. 65-jährigen Mann, der von seiner barfüßigen Zeit auf dem Dorf schwärmte, davon, wie er über die Stoppelacker rannte, und wie sein Arzt ihm noch heute zu seinen gesunden Füßen gratuliert. Und das sind die Geschichten, die man von alten Leuten immer wieder hört. Unsere Beschuhtheit ist die totale Ausnahme! Sie basiert auf dem enormen Energieverbrauch, der untrennbarer Teil der Zivilisation und Industrialisierung ist und mit dem Ende des Öls bereits in absehbarer Zeit enden dürfte, zumindest in der uns vertrauten Form. Was dann kommt, ist offen.

Ganz unabhängig davon können Schuhe, in falscher Dosis eingesetzt, krank machen. Unsere Füße sind nun einmal dazu da, uns mit dem Boden direkt zu verbinden. Wenn das „Hobby? Barfuß!“ bald ausstirbt, dann wohl hoffentlich bloß, um wieder selbstverständlich zu werden und einem „Hobby? Schuhetragen!“ zu weichen.

In diesem Sinne einen spätsommerlichen Gruß,
Michael

[image] Dave Pollard: Living on the Edge, Comfortably


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