Matschkunst (Hobby? Barfuß! 2)

Lothar, Stammposter, Saturday, 19.02.2005, 11:17 (vor 7161 Tagen)

Gestern sah ich im Fernsehen einen Bericht über die "Matschkunst" in Hannover. Ein Künstler hat zwei Räume eines Museums mit Matsch füllen lassen und die Besucher sollen da durch laufen und anschließend die Dreckspuren ihrer Schuhe auf dem Boden des Museums hinterlassen.
Das wäre barfuss sicherlich sehr interessant. Nach dem nachfolgenden Artikel aus der Welt, bezweifle ich allerdings, ob man da tatsächlich dann barfuss auch durchlaufen darf.
Vielleicht kann das jemand, der in Hannover wohnt, mal ausprobieren.
Für mich ist das leider zu weit weg.

Der Eintritt kostet übrigens fünf Euro.

Matschen verboten
Der Künstler Santiago Sierra hat in Hannover ein "Haus im Schlamm" inszeniert
von Uta Baier

Es ist schöner schwarzer Moorpackungsschlamm, der die Hannoveraner aufregt. Denn der Schlamm liegt nicht als heilende Paste auf kranken Menschen, sondern im Museum. Ein Glücksfall, denn Erregung ist gut für den Erfolg von Kunstausstellungen. 120 Tonnen feinsten Heilschlamms hat der spanische Künstler Santiago Sierra in die Kestnergesellschaft bringen lassen - als Symbol für den richtigen Schlamm aus dem nahen Maschsee, der aus Gründen der Hygiene nicht ins Museum durfte, um den es Sierra aber in seiner Installation "Haus im Schlamm" geht.

Eine Riesen-Sauerei, denn die Installation, verteilt auf zwei Säle, soll von den Besuchern unbedingt betreten werden. Das ist Teil des Konzepts, und dazu gehört auch, daß der Dreck nicht weggeputzt wird. So zieht sich der Matsch, je mehr Besucher kommen, durchs ganze Haus und auf die Straße vor das Museum. Die Arbeit soll auf das Anlegen des städtischen Maschsees Anfang der dreißiger Jahre hinweisen. Eine Arbeitsbeschaffungsmaßnahme wie viele, in der bezahlte Arbeit und sinnlose Beschäftigung eine zwiespältige Verbindung eingehen, die den Arbeitslosen das Gefühl gibt, irgendwie gebraucht und doch erniedrigt zu werden.

Das ist das Thema von Santiago Sierras Arbeiten - und nicht der Nationalsozialismus, der sich das Anlegen des Maschsees als Propaganda-Projekt zu nutze machte. Der Nationalsozialismus soll ausgeklammert und nur im demnächst erscheinenden Katalog verhandelt werden. Was wirklich schade ist, denn auch die Kestnergesellschaft wurde 1936 von den Nazis geschlossen. Hartz IV und die Ein-Euro-Jobber kommen leider auch nicht direkt vor, weil das Arbeitsamt für das technisch komplizierte Schlammabfüllen keine Arbeitskräfte zur Verfügung stellen wollte.

Genügend Diskussionsstoff, doch Hannover diskutiert - zum Erstaunen des Museums - weniger über die Bedeutung zweier schlammgefüllter Ausstellungssäle, als über den Dreck an sich. Und darüber, daß der Matsch keine Einladung zum matschen sein soll, sondern eine ehrfurchtsvoll zu betrachtende Kunstinstallation. Einige Besucher hatten die Installation in den ersten Tagen nach Ausstellungseröffnung als Angebot zur Schlamm-Schlacht, als Mitmach-Kunst verstanden. Sie haben sich im Dreck gesuhlt und auch die Wände beschmiert. Die Beschmutzung der heiligen Kunsthallen durch den Künstler war für sie die Aufforderung zum fortgesetzten Matschen, zumal der Dreck sowieso an ihren Schuhen haftet.

Schlammbad und Schmierereien sind jetzt verboten, die Galeriewände wurden wieder weiß gestrichen, denn Spaßkunst ist mit Sierra nicht zu haben. "Im Zentrum der Hannoverschen Installation steht eine Konstante im Schaffen Santiago Sierras: Es geht um Ausbeutung, um die Frage nach Bewertung von Arbeit und um den Einsatz derselben zu Herrschafts- und Machtzwecken", schreibt die Kuratorin. Es geht um Arbeit, um Geld und was man dafür zu tun bereit ist, um all das also, was Santiago Sierra in seinen Projekten seit langem thematisiert und in Hannover in einer neuen Variante durchspielt.

Für frühere Projekte suchte er einen Untätowierten, der bereit war, sich für Geld eine 30 Zentimeter lange Linie auf den Rücken tätowieren zu lassen - und er fand ihn. Er heuerte Arbeiter an, die in einer Galerie eine Wand im Winkel von 60 Grad stundenlang zur Unterhaltung der Galeriebesucher halten mußten. Er färbte 133 illegalen Straßenverkäufern in Venedig die schwarzen Haare blond, um auf ihr Schicksal hinzuweisen, ließ Menschen in Büßergeste in Galerien stehen oder bezahlte zwei Drogenabhängige mit Drogen dafür, daß sie sich die Haare ausrasieren ließen. Manche finden solche Aktionen zynisch, andere halten sie für eine durchaus legitime Form, das Thema künstlerisch zu behandeln. Und auch den Kunstbetrieb selbst macht er zum Thema. Sein spektakulärstes und seinen Namen endgültig bekannt machendes Projekt war der spanische Pavillon auf der Biennale in Venedig vor zwei Jahren. Sierra hatte den Vordereingang des Pavillons zumauern lassen und ließ am Hintereingang ausschließlich Besucher mit spanischem Paß in den leeren Pavillon. Die Kunstwelt war irritiert, verstand die Anspielung, war amüsiert und machte weiter wie bisher.

Über die Mißverständnisse in Hannover ist Sierra nun einigermaßen erstaunt. Dabei gewinnt die Kunstinstallation durch die Schlammschlacht durchaus an Aktualität. Denn durch ihre aktive Teilnahme haben die Besucher vorgeführt, daß in Deutschland der Schritt vom Kunstrezipienten zum ABM-Betroffenen sehr klein ist.

Hannover, Kestnergesellschaft, bis 10. April,


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