Keine Barfüsser mehr in Appenzell ? (Hobby? Barfuß! 2)

Michael aus Zofingen @, Stammposter, Tuesday, 14.09.2004, 10:48 (vor 7320 Tagen) @ Aquajeans

Eines vorweg: Ich bin (noch) kein Schweizer, sondern lebe erst seit 15,5 Jahren in der Schweiz. Und Zofingen liegt EINDEUTIG nicht im Kanton Appenzell. Meine Beobachtungen zum Thema "barfuß in Appenzell" kann ich folgendes sagen:

Ende Oktober 1988 war ich erstmalig in Herisau (Vorstellungsgespräch bei einem Chemieunternehmen). Die "Stadt, die immer ein Dorf bleiben will" sagte mir gleich zu. Was mir auffiel, waren die vielen Kühe MIT Glocken und enorm viele Katzen. Aber Barfüßer sah ich keine, weder in Herisau selbst, noch in St. Gallen, wohin ich einen Abstecher machte und was selbstverständlich nicht zum Kanton Appenzell gehört, bzw. in Winterthur und Zürich, wo ich auf der Rückreise Station machte.

Genau einen Monat später wurde ich erneut zum Vorstellungsgespräch derselben Firma eingeladen, ich machte auch einen Abstecher über St. Gallen nach Trogen, ich wollte so gerne mal mit der Straßenbahn fahren. Dasselbe Bild: Kühe mit Glocken, Katzen und KEINE Barfüßer.

Pfingsten 1989: Ich hatte in Zofingen Arbeit gefunden, nicht in Herisau. Aber ich plante eine dreitägige Velotour, die auch das Appenzellerland berühren sollte. Die erste Tagesetappe führte von Zofingen über Zürich, Wil, Gossau, Herisau, Altstätten, Trogen, St. Gallen, Romanshorn, Arbon, Rorschach nach Rheineck. Es war eher regnerisches Wetter bei maximal 13°C. Das Bild: Kühe mit Glocken, Katzen und KEINE Barfüßer.

November 1995: Mit meinen Eltern, die gerade dann anwesend waren, besuchte ich St. Gallen, Inversionswetterlage. In der Altstadt war es neblig um 0°C, die erhöhten Teile der Stadt waren im Sonnenschein und wesentlich wärmer. Wenn meine Eltern nicht dabei gewesen wären und ich kurze Hosen dabei gehabt hätte, hätte ich mich auf der Stelle umgezogen (und aus heutiger Sicht auch meine Schuhe ausgezogen). So aber blieb es beim Haß auf meine Eltern für den Rest des Tages. Wir fuhren noch mit dem Auto durch Teile des Kantons Appenzell im herrlichen Sonnenschein. Das Bild: Kühe mit Glocken, Katzen und KEINE Barfüßer.

Juni 1997: Wieder Elternalarm! Gemeinsam mit dem Auto durchs Appenzellerland gefahren, dabei die Stadt Appenzell (die Bewohner hören es auch nicht gerne, wenn man den Innerrhoder Hauptort als "Stadt" bezeichnet) besichtigt und dort zu Mittag gegessen. Bei Temperaturen um 25°C haben mir meine Eltern ausnahmsweise gestattet, kurze Hosen und Sandalen zu tragen, aber Socken durfte ich nicht auslassen (trotzdem rief keiner "Blödmann" hinter mir her). Ins Restaurant kam ein nur etwa 1,65 Meter großer Mann um die 60, lange schwarze Hose, weißes (Trachten?)hemd, schwarze Weste und barfuß. Meiner Mutter fiel der Kinnladen runter. Sie traute sich nicht, irgendetwas zu sagen. Erst später im Auto fing sie an, über den "Hinterwäldler" herzuziehen, der mitten in der Stadt barfuß läuft. Worauf ich meine Mutter aufklärte, daß es im Kanton Appenzell keine Orte mit Stadtrecht gäbe, sondern die Bewohner mit Stolz in ihren "Dörfern" lebten. Da die Leute hier gerne barfuß laufen, sträubten sie sich auch gegen die Verstädterung. Diese Bemerkung hatte zur Folge, daß meine Mutter fragte, ob St. Gallen auch keine richtige Stadt sei, und noch etwas entscheidendes: Mein Vater traute sich von nun ab bei hohen Temperaturen auch mit kurzen Hosen in Schweizer Dörfer und Städte! Aber ansonsten sahen wir an diesem Tag Kühe mit Glocken, Katzen und KEINE weiteren Barfüßer.

Juni 1999: Schon wieder mit den Eltern unterwegs, diesmal in Herisau. Eine Sportveranstaltung war mitten im "Dorf". Von den Sportlern und den einigen jugendlichen Begleitern hatten einige die Schuhe ausgezogen. Aber ansonsten außerhalb von Stränden das gleiche Bild: Kühe mit Glocken, Katzen und KEINE Barfüßer.

Vermutlich muß man die Barfüßer im Appenzellerland bei den wahren "Hinterwäldlern" suchen, die nur auf unwegsamen Wegen zu erreichen sind. In den "Dörfern" mit zweifellos kleinstädtischem Gepräge (Herisau, Appenzell, Trogen, Speicher, Gais usw.), wo man bequem mit den Appenzeller Bahnen hinkommt hat mittlerweile auch die "Verschuhung" Einzug gehalten. Wollen wir diesen Trend aufhalten? Wollen wir wirklich den Leuten, die früher aus Armut barfuß laufen mußten, auch jetzt, wo sie sich Schuhe leisten können, die Schuhe vorenthalten, nur damit uns verwöhnten Städtern das "Idyll von glücklichen Barfüßern" erhalten bleibt? Nein! Wir können nur eines tun: Wenn wir selber mal das Appenzellerland besuchen, dann können wir freiwillig auf Schuhe verzichten und so oft wie möglich barfuß gehen. Aber warum eigentlich nur an Orten, wo das Barfußlaufen weniger unüblich ist (oder war) als anderswo? Warum nicht gleich vor (und natürlich auch hinter) der eigenen Hautür anfangen?

Warum unbedingt in den Kanton Appenzell, wenn man Barfüßer sucht? Warum nicht auch anderswo in der Schweiz? In Zürich? In Bern? Oder im Raum Zofingen. Mit etwas Glück hat man auch um diese Jahreszeit noch folgendes Bild: Kühe mit Glocken, Katzen und mindestens einen Barfüßer.

Mit freundlichen Grüßen

Michael aus Zofingen


gesamter Thread:

 RSS-Feed dieser Diskussion