Versuch über die Ängste vorm Barfußlaufen (Hobby? Barfuß! 2)

Mercator, Thursday, 30.05.2002, 07:29 (vor 8156 Tagen)

Liebe Leute,

als mehr oder weniger stiller Teilhaber verfolge ich seit ein paar Wochen Eure Berichte über Erfahrungen mit dem Barfußlaufen. Zusammengefaßt zeichnen sich folgende Erkenntnisse ab:

1.) Leute, die es tun, finden es geil, und die meisten davon würden gerne mehr davon wollen, trauen sich aber häufig nicht, es zu dürfen.

2.) Leute, die es blöd finden, haben definitiv keine stichhaltigen Argumente, bringen es aber trotzdem immer wieder fertig, die meisten Leute aus Punkt 1.) zu verunsichern.

Weil ich mich selbst ziemlich zum K***** finde, wenn ich mich - wie beim Thema Barfußlaufen - von Leuten aus Punkt 2.) verunsichern lasse, bin ick mal in mir jejangen, und mir sind da ein paar Ideen gekommen, die allesamt nicht wirklich neu sind, mit denen ich Euch im Folgenden aber dichtsülzen werde, wenn Ihr nicht sofort auf den "Zurück"-Button im Browserfenster klickt.

Erste Idee: Barfußlaufen contra Triebverzicht

ich weiß nicht mehr, welcher berühmte Mensch vor langer Zeit feststellte, dass ein wichtiges Merkmal des bürgerlichen Selbstverständnisses der Verzicht auf das (unmittelbare) Ausleben der Triebe (nicht nur des Sexualtriebs) ist. Sowohl die Adligen als auch die Sklaven, die Prolls, die Bauern konnten da wesentlich lockerer zur Sache gehen. Wenn wir barfuß laufen ist das ganz deutlich sichtbar, und es ist ganz deutlich etwas, was wir vor allem deshalb tun, weil es uns Spass macht. Kommt jetzt nicht mit dem Gesundheitsargument: Ich habe in diesem Forum bei Niemandem den Eindruck, dass medizinische Aspekte als Motiv fürs Barfußlaufen im Vordergrund stehen. Wir finden’s erstmal geil!

Und dann hat Barfußlaufen auch noch etwas mit Nacktheit zu tun, indem wir etwas entblößen, was nach bürgerlichen Moralvorstellungen bedeckt gehört. Und schließlich outen wir uns als Leute, denen sinnliche Wahrnehmungen qua Hautkontakt Spaß machen.

Nackt? Hautkontakt? Hallo? Das zielt doch ganz klar in eine Richtung: SEX! oder zumindest Wohlgefühl.Und Alles, was damit zu tun hat, tut man nicht öffentlich. Und - schwupps - haben wir Barfüßer einen Pfeiler bürgerlichen Selbstverständnisses in Frage gestellt. Lest doch mal einige Postings durch S. Freuds Brille, dann werdet Ihr wissen, was ich meine.

Lest besonders aufmerksam die Berichte über die Negativreaktionen, denn daraus stammt meine

zweite Idee:

Stellt Euch vor, das hier wäre ein Forum für Leute, die - sagen wir - gerne tote Ratten auf den Grill schmeissen, um sie anschließend zu verspeisen. Dann würden hier andere Berichte stehen: "Ich heisse Fritz, und gestern ist wieder keiner meiner Kollegen zur Grillparty gekommen, obwohl ich ganz viele eingeladen habe..." "Hallo ich bin die Petra, und meine Schulfreundinnen meiden mich, seit ich in der Pause meinen Rattenburger esse...." Jaja, wieder ein blödes Beispiel, aber was ich sagen will ist dies: Wären wir Rattenesser statt Barfüßer, dann würden die Anderen, so sie uns bei Ausübung unseres Hobbys denn zuschauten, nur stumpf ins Essen brechen, und der Fall wäre erledigt.

Als Barfüßer treffen wir sie viel empfindlicher, denn wir führen Ihnen etwas vor, wovon ich behaupte, dass sie es selber gerne täten, es sich aber selbst verbieten.

(Achtung: In dieser Argumentation liegt die Gefahr eines Zirkelschlusses a la Freud: "Hey, Du bist schwul!" "Bin ich nicht!" "Bist Du wohl!" "Spinnst Du? Ich bin nicht schwul!" "Deine agressive Reaktion zeigt, dass Du `s bist, es Dir aber verbietest bla bla...")

Trotz der Gefahr eines Zirkelschlusses bleibe ich dabei: Wir Barfüßer machen manche Leute nervös, weil wir ihnen zeigen, dass ihre Wünsche realisierbar wären, wenn sie erst ihr Denken und anschließend ihr Verhalten ändern würden. Langgehegte Verhaltensmuster zu ändern ist aber ein Preis, den viele nicht zahlen wollen. (Fällt mir selbst ja mitunter auch schwer.) Da ist es für Nicht-Barfüßler viel einfacher, das Barfußlaufen im Allgemeinen und anwesende Barfußläufer im Besonderen für bekloppt zu erklären, ohne sich dazu in die Niederungen der sachlichen Diskussion zu begeben.

Unbeabsichtigt halten wir den Leuten einen Spiegel vor, und das macht viele Menschen sauer.

Diese zweite Idee enthält - wie gesagt - die Schwäche eines möglichen Zirkelschlusses. Aber sie würde erklären, warum die Negativreaktionen, über die Ihr hier berichtet, immer dem gleichen (hirnlosen) Schema entsprechen.

Dritte Idee:

Es ist schon ein paar Jahre her, da gab`s im TV eine Dokumentation über einen Stamm von Urwaldbewohnern (Ich hoffe, das ist politisch korrekt formuliert.), ich weiß nicht mehr genau wo und wer, aber was hängengeblieben ist, ist ein Verhalten, das ich für unser Thema übertragbar halte: Die Leute wohnen in einer Gegend, in der es ständig ziemlich warm ist. Folglich laufen sie nicht nur dauernd barfuß, sondern auch sonst ziemlich leicht bekleidet umher: Ein Band um die Hüften, das einen Lappen trägt, dem es mehr oder weniger mißlingt die Genitalien zu verdecken. Praktisch, locker, luftig. (Ich wünschte ernsthaft, ich könnte im Sommer auch mal sowas tragen, ohne auf der Stelle meinen Job zu verlieren. Und wir nennen die unterentwickelt...) Das Film- und Forscherteam war überrascht über das Verhalten jener Menschen, lachend wie zur Begrüßung diesen Lappen anzuheben und somit den ungehinderten Blick auf die Genitalien freizugeben. Sehr spät dämmerte es den Europäern, dass dieses Verhalten beleidigend gemeint war. Die Botschaft lautete nämlich: "Richtigen Menschen gegenüber entblöße ich mich nicht völlig. Dir gegenüber schon, denn da Du kein richtiger Mensch bist, ist es mir egal, was Du denkst / siehst / fühlst."

Um Himmels willen, nein, unsere Barfüßerei soll niemanden beleidigen, und wer sich beleidigt fühlt, ist selber Schuld. Aber. Nonkonformes Verhalten (wie Barfußgehen, schwul/lesbisches Verhalten öffentlich machen etc.) schließt auch immer die Botschaft ein, dass uns das eventuelle Kopfschütteln, das mögliche Unverständnis zumindest soweit egal ist, als dass es uns nicht dazu bringt, unser Verhalten deshalb zu ändern.

Und jetzt kommt die eigentliche Idee: Stellt Euch mal vor, dass in den Köpfen der Nicht-Barfüßer der vorletzte Satz holzschnittartig verkürzt ankommt, nämlich so: "Denen ist es egal, was ich denke / fühle. Die tun`s trotzdem!"

Bevor Ihr aufschreit "So ist das doch nicht gemeint" überlegt bitte, welche Tipps hier den Barfüßigen gegeben werden, wenn sie in diesem Forum berichten, sie seien mit dummen Sprüchen konfrontiert worden: Ignorieren und / oder schlagfertig abschmettern!

Das ist gut so! Jedenfalls fällt mir zur Zeit auch nüscht Besseres ein.

Bei den Nicht-Barfüßigen kommt das aber ganz anders an: Die fühlen sich verletzt, weil ihr Unterbewußtsein nur den Satz "Denen ist egal, was ich fühle." realisiert und folglich abwehrend reagiert. Wenn sie dann auch noch blöderweise eine Äußerung vom Stapel lassen und wir, die Barfüßigen, auch noch intelligenter reagieren - und wir reagieren grundsätzlich intelligenter, weil wir Argumente haben und die nicht - dann ist der Bock fett und der Konflikt programmiert. Denn wir signalisieren nicht nur, dass uns deren Gefühle egal sind, sondern wir beweisen stante pede (stehenden Fußes - eine göttliche Metapher in diesem Zusammenhang) auch noch, dass wir intelektuell und überhaupt überlegen sind.

Sollte diese dritte Idee entgegen meiner Hoffnungen inhaltlich zutreffen, lautet unsere zusammengefaßte Botschaft: "Ich bin Dir weit überlegen. Es ist mir egal, was Du fühlst."

In Nicht-Barfüßers Kleinhirn wird daraus die Information "Arrogantes Ar.......".

Jaja, diese Analyse geht sehr, sehr weit und ist höchst spekulativ, aber ich habe mir nochmal jays Postings zum Kollegen aus der Buchhaltung angeschaut, und ich finde schlicht keine anderen Motive für dessen Verhalten.

Herrje! An dieser Stelle habt Ihr wahrscheinlich schon Alle auf den "Zurück"-Button Eures Browser-Fensters geklickt. Aber trotzdem will ich zum Schluß noch meinen ganz persönlichen Tipp zum expansiven Barfußlaufen verraten.

Sagt einfach "Ich hab` `ne Klatsche. Ich mag das so." (Betonung jeweils auf dem "ich")

Damit stellt Ihr klar, dass Ihr weder an bürgerlichen Normen rütteln wollt, noch selbständiges Denken, noch Verhaltensänderungen initiieren wollt. Ihr stellt auch klar, dass Ihr nicht glaubt, dass die Anderen falsch liegen und / oder doof und / oder intolerant sind.

Ihr werdet feststellen, dass so eine kleine Macke wie das Barfußlaufen plötzlich akzeptiert wird.

Denn die Menschen sind gewohnt, von kompletten Idioten umgeben zu sein.

Wenn da jemand bewußt nur eine kleine Privatmacke pflegt, ist das geradezu erholsam.

Horrido!

Mercator


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