Barfuß um die Welt, Polartraum (Hobby? Barfuß! 2)

Bernd A @, Sunday, 26.11.2000, 16:35 (vor 8766 Tagen)

Polartraum
Unterwegs im winterlichen Skandinavien, ein Abenteuer in Eis und Sturm
von Bernd Attner

Es ist Ende Januar. Nach einer grimmigen Kältewelle zum Jahresbeginn strecken bei uns in Karlsruhe bereits die ersten Krokusse ihre Köpfe aus dem Boden, ein Hauch von Vorfrühling weht über das Land. Ich bereite mich jedoch auf den richtigen Winter vor. Dicke Klamotten, Handschuhe, Pudelmütze, Skiausrüstung und sogar dicke warme Schuhe! Auch das Auto hat Winterreifen bekommen. Schneeketten werden griffbereit im Kofferraum verstaut, ebenso die gesamte Ausrüstung inklusive Zelt, Schlafsack und warme Decken. Und natürlich auch Verpflegung. Die Fahrt, die mir bevorsteht, ist nicht ohne. Doch was mich später im winterlichen Skandinavien wirklich erwarten wird, übertrifft alle meine Vorstellungen.
Bei der Abfahrt ist das Auto vollgepackt, als ob eine ganze Armee verreisen wollte, dabei bin ich alleine unterwegs.
Morgens in der Frühe geht es los. In der Nacht gab es Frost, danach dann etwas Nieselregen, also aufgepasst, Glatteis! Mit der nötigen Vorsicht geht die Fahrt nach Norden. Manche ignorieren den Straßenzustand einfach. Mit rasender Geschwindigkeit zischen sie vorbei, im blinden Vertrauen, dass sie nie bremsen müssen...
Gott sei Dank passiert nichts und die Fahrt nach Kiel verläuft ungewöhnlich ruhig und störungsfrei. Bereits am frühen Nachmittag kann ich in Kiel auf die Fähre fahren, die am Abend in Richtung Göteborg auslaufen wird. Die Fähre ist um diese Jahreszeit nur schwach belegt, die Sturmwarnung hält auch die Kurzentschlossenen von der Reise ab, so gibt es im Bordrestaurant nicht das während der Sommersaison übliche Gedränge. Nur einige Kurzreisende auf Göteborg-Tour tummeln sich in den Bordeinrichtungen. Und der Sturm hält sich auch in Grenzen. Dass ich an Bord barfuß in Sandalen herum lief, ist glaube ich niemandem aufgefallen.
Frühlingsgefühle
Bei schönem milden Wetter erreicht das Schiff am Morgen Göteborg und ich starte meine Fahrt durch Schweden. Ein starker aber milder Wind fegt an diesem Tag über das Land, von Schnee keine Spur. Ich komme gut voran, die Straßen sind fast leer, andere Touristen sind gar keine unterwegs. Mittagspause nördlich von Karlstad am Nordende des riesigen Vänern-See. Auch hier strahlt die Sonne, als ob Frühling wäre, kein Krümel von Schnee ist zu entdecken. Das Thermometer zeigt +8°C. Nur der Wind aus Süd ist stark und etwas unangenehm. Die Fahrt geht weiter immer entlang der Straße Nr 45 über Torsby Richtung Malung. Nach Torsby wird es langsam dämmerig, dabei ist es erst 15:00 Uhr. Der Campingplatz in Torsby hat geschlossen, also fahre ich weiter ins Gebirge. Die ersten dahinschmelzenden Schneereste tauchen auf. Weiter oben ist die Schneedecke geschlossen, wenn auch schmutzig grau und vom Regen aufgeweicht. Da, ein Schild: "Stuga"! (Hütte, in Schweden und Norwegen gibt es auf dem Land überall preisgünstig private Hütten zu mieten). Der Pfeil zeigt nach rechts in eine Waldweg. Ich versuche es, habe aber keine Chance. Auf dem vereisten steilen Weg komme ich nicht weiter und an der Straße kann ich nicht parken, also geht die Suche nach einer Unterkunft weiter. Einige Kilometer weiter kommt ein Campingplatz, der Eigentümer ist auch da, aber nur, um nach dem Rechten zu sehen. "We have closed, I'm sorry!" ist seine Auskunft. "The cabins are not for winter, it's to cold!" Dann steigt er in seinen Volvo und fährt nach Hause. Ich schaue auf die Karte. Auf den nächsten 50 km gibt es bestimmt keine Unterkunft, nur Wildnis. Ein paar Kilometer zurück gab es einen Waldweg, der befahrbar schien, also kehre ich um. Bald erreiche ich den Weg. Ein paar hundert Meter kann ich reinfahren, bis ich eine Lichtung erreiche. Die erste Nacht im Schnee steht bevor. Und die ersten Barfußschritte im Schnee! Das Zelt wird aufgebaut, die Decken ausgebreitet. Eingerollt in den Schlafsack und in Decken lässt es sich aushalten. Sehr kalt ist es nicht. Leichter Regen lässt den Schnee während der Nacht weiter zusammenschmelzen.
Es ist noch dunkel, als ich am Morgen aufbreche. Doch das will nicht so viel sagen, denn hier lugt die Sonne um diese Jahreszeit erst gegen 10:00 über dem Horizont hervor.
Richtung Malung geht die Fahrt zunächst. Eine wilde Gebirgsstrecke. Die Schneedecke wird höher, auch auf der Straße sind nun Schnee- und Eisreste. Eine tückische Rutschbahn, vor allem an schattigen Stellen, die einer Autofahrerin dann auch zum Verhängnis wurde. In einer langgezogenen Linkskurve landete sie mit ihrem Ford zwischen den schneebedeckten Felsblöcken neben der Straße. Glücklicherweise wurde niemand verletzt, aber das Auto ist Schrott. Sie wird wohl eine Weile in der Kälte ausharren müssen, bis der Kranwagen kommt, um ihr Auto aus dem Geröll zu ziehen.
Malung liegt im Tal. Die Straße ist wieder schneefrei, es regnet leicht, Temperatur ca +5°C. Hier biege ich Richtung Norden ab, nächstes Etappenziel ist Särna. Bei trostlosem Nieselwetter geht die Fahrt weiter, rechts und links der Straße schmilzt die Schneedecke zu einem grauen Papp zusammen. Viele Autos mit Skiern auf dem Dach kommen mir entgegen. Frustrierte Skisportler, die sich auf der Heimreise befinden. Hier in der Umgebung gibt es einige in Schweden sehr beliebte Skigebiete.
Später hört der Regen auf, der Schnee wird auch mehr und auch die Straße ist mehr und mehr schneebedeckt. Ich tauche ein in eine märchenhafte Winterlandschaft. Schneebeladene Fichten, kleine, teilweise zugefrorene Bäche, deren Wasser sich seinen Weg durch die Schneemassen sucht.

Glatteis!
Andere Autofahrer sind kaum noch unterwegs, es geht nur noch langsam voran. Mit der entsprechenden Vorsicht ist die schneebedeckte Straße ganz gut zu befahren. Immer wieder halte ich an, um Fotos zu machen. Da ich im Auto natürlich barfuß bin, gehe ich bei den kurzen Fotostops barfuß raus in den Schnee. Einmal hat der Fahrer eines entgegenkommenden Autos fast die Kontrolle verloren, als er mich barfuß über die frisch verschneite Straße huschen sah. Von Särna aus führt eine kleine Straße Richtung Westen. Ich benutze sie, um dann später Richtung Norden abzuzweigen. Bald merke ich, dass dies wohl keine vernünftige Idee war, doch ich bin hartnäckig. Die Straße ist fürchterlich, oftmals das blanke Eis. Wenigstens sind keine nennenswerte Steigungen zu überwinden. Langsam und vorsichtig komme ich vorwärts. Nach gut 20 km kommt die Abzweigung, ein Fahrweg, den ich von mehreren Sommerreisen kenne. Er ist notdürftig geräumt, eigentlich befahrbar. Also, vorwärts! Doch nun wird es hügelig, eine langgezogene Kuppe nach der anderen. Die Schneedecke ist festgefahren, darauf hat es geregnet, an den letzten milden Tagen. Das Wasser ist auf dem kalten Boden sofort gefroren, oder noch einige Meter auf der Fahrbahn entlanggeflossen und dabei festgefroren. Es bildete sich eine spiegelblanke Eisfläche! Nun können die Winterreifen sich bewähren! Mit höchster Vorsicht geht es weiter. Ich darf nicht ins Rutschen geraten, sonst bekomme ich das Auto nicht mehr unter Kontrolle. Bald sind Hände und Füße schweißnass. Wenn das nur gutgeht! Ich fahre kaum noch schneller als Schritttempo. Für eine Strecke, die im Sommer ungefähr 10 Minuten Fahrzeit benötigt, brauche ich heute über eine Stunde. Anderen Verkehr gibt es nicht, ich bin ganz alleine. Wenn ich hier liegen bleibe, kann es möglicherweise Tage dauern, bis mir jemand helfen kann. Diese Erkenntnis ist nicht unbedingt förderlich für meinen Gemütszustand.
Es ist eine unbeschreibliche Erleichterung als ich endlich die Hauptstraße von Idre nach Norwegen erreiche, die im Verhältnis zu dem gerade erlebten geradezu ideal befahrbar ist.

"Haben Sie ein Zimmer frei...?"
Nun geht die Unterkunftssuche wieder los! "Stuga" heißt es auf einem Schild. Ich fahre auf das Anwesen mit mehreren Gebäuden, in denen auch teilweise Licht brennt. Es sind auch einige Hütten da. Ich klopfe am Hauptgebäude. Keine Reaktion! Ich hupe. Nichts! Niemand da.
Ich fahre weiter, das Verlassen des Geländes über die steile Zufahrt zur Hauptstraße bereitet Schwierigkeiten. Erst mit dem dritten schwungvollen Anlauf klappt es.
Ein paar Kilometer weiter stehen wieder einige Stugor bei einem Wohnhaus. Erneuter Versuch. Ich klopfe. Es dauert eine Weile, dann höre ich Schritte im Haus. Ein alter Mann öffnet. "Can I rent one of your nice cabins? frage ich ihn. Achselzucken!
"Tysk?" fragt er mich. "Ja!" Er schüttelt den Kopf zum Zeichen, dass er auch kein deutsch versteht. Aber er zeigt mir ich solle warten. Hoffnung! Dann erscheint seine Frau. "Sind Sie Deutscher?" "Ja" "Ich spreche sehr wenig deutsch, habe jedoch das meiste vergessen!" "Kann ich eine Hütte mieten?" "Nein!" Ich schaue sie ungläubig an. "Es ist zu kalt, die Heizung braucht zu lange!" "Ach das macht doch nichts, es ist immer noch besser, als im Schnee zu schlafen!" versuche ich sie zu überreden. "Nein, ich kann die Hütten nicht vermieten, das geht nicht!" Ich verabschiede mich enttäuscht. Bald erreiche ich die norwegische Grenze. Am Femundsee gibt es zwei Campingplätze. Vielleicht habe ich da Glück. Ich erreiche den ersten. Es sind Leute da. Er ist offen! Er ist tatsächlich offen! In der Rezeption brennt Licht. Ich gehe hinein. "Kann ich eine Hütte mieten?" "Ja!" Erleichterung, die Nacht ist gerettet. Allerdings kostet die Übernachtung umgerechnet 100,- DM. Die Frau geht mit mir zur Hütte. Dabei sieht sie, dass ich barfuß in Sandalen bin. Sie zeigt zu meinem Auto und fragt: "Hast Du dort auch Sommerreifen drauf?" "Ähm, nein!" Ich war überrascht über diese Frage, die eine gehörige Portion Humor verriet. "Ist das nicht etwas kalt?" "Im Auto geht es!" "Na, da bin ich mir nicht so sicher!" Wir unterhielten uns übers Wetter, das immer noch ungewöhnlich mild ist. Auf den Wegen des Platzes ist aufgeweichter Schneematsch. Ich erzählte ihr, dass bei uns zu Hause bei 15°C bereits die ersten Blumen blühen. "Das ist ja wie bei uns im Sommer!" stöhnte sie sehnsüchtig. Doch der Frühling und erst recht der Sommer sind hier noch weit. Vor Mai schmilzt der Schnee kaum weg.
Die Hütte ist recht komfortabel. Dusche, WC, Farbfernseher. Ich schaue mir den Wetterbericht an. Es soll kälter werden, Schneefälle sind zu erwarten. Die Nachrichten zeigen Bilder von einem Sturm über der Ostsee. Alle Fährverbindungen zwischen dem europäischen Festland und Skandinavien sind eingestellt! Da habe ich ja Glück gehabt, als ich gestern ankam.
Wintermärchen
Es geht wieder zurück nach Schweden. Durch eine herrliche Winterlandschaft geht es ins Hochgebirge, nach Grövelsjön. Eine zauberhafte Landschaft in weiß eröffnet sich. Die Straße hat eine festgefahrene Schneedecke ohne Eis. Sie ist gut zu befahren. Bei Grövelsjön erreiche ich die Baumgrenze. Nur einige verstreute Bäume stehen noch in der weißen Unendlichkeit des Gebirges. Die Straße hinunter nach Idre ist gut geräumt, nur einige Schneereste. Von Idre aus geht es nach einem Einkauf wieder Richtung Norden, auf einer kleinen Nebenstraße entlang dem weitgehend zugefrorenen Oberlauf des Öster-Dalälven. Auf der verschneiten Straße ist es relativ gut zu fahren. Dann setzt Schneefall ein. Schön gleichmäßig rieseln die Flocken vom Himmel. Es ist eine märchenhafte Landschaft. Wälder, unterbrochen von offenen Flächen, einige verstreute Bauernhöfe. Einige Rentiere ziehen im Schneegestöber durch den tiefen Schnee. Es ist traumhaft schön. Auch heute mache ich natürlich wieder viele barfüßige Fotostops. Das Wechselbad zwischen warmem Auto und kaltem Pulverschnee ist immer wieder ein total anregendes Gefühl.
Am Abend erreiche ich die Hütte, die ich für die nächsten Tage gebucht habe. Sie ist verschlossen. Aber der frisch geräumte Zugangsweg zeigt, dass ich erwartet werde. Nun gilt es die Schlüsseladresse zu finden. Zwei Kilometer nördlich von hier muß ein kleines rotes Haus stehen. Ich fahre zu der Stelle und da steht auch ein rotes Haus. Doch leider ist es das falsche, der Bewohner zeigt mir den Weg zum Richtigen. Die Dame dort ist ziemlich knapp, gibt mir den Schlüssel und sagt, ich solle ihn bei meiner Abreise in einer Woche einfach in die Dose vor der Tür legen.
Die Hütte ist sehr schön eingerichtet und hat einen offenen Kamin. Und eine Sauna! Die wird natürlich gleich eingeheizt. Nachdem ich mein Gepäck im Haus habe kann ich also erst mal schwitzen. Und danach geht es raus in die klare Winternacht. Das Außenthermometer zeigt -22°C. Genau das Richtige, um sich nach der Sauna im Schnee zu wälzen... Das wird nun zum täglichen Ritual, genauso, wie der allabendliche Barfuß-Spatziergang im Schnee!
Ich bin selbst überrascht, wie gut das geht, selbst bei sehr kalten Temperaturen um -20°C.
Die folgenden Tage sind von Ausflügen in die herrliche Umgebung ausgefüllt. Langlauftouren durch herrlichen jungfräulichen Tiefschnee! Ganz alleine in der herrlichen klaren Natur. Nur das gleichmäßige Surren der Skier ist zu hören. Abends, vor der Hütte ist es so ruhig, dass man sogar die Schneeflocken fallen hört. Es ist eine unglaubliche Stille. Kein Motor, keine Stimmen, keine Vögel, auch keine Mücken, die summen, noch nicht einmal ein Wässerchen, das irgendwo dahinplätschert, nichts! Absolut ruhig!
An einem Tag steht ein Ausflug zu Schwedens höchstem Wasserfall auf dem Programm. Dazu muss ich die 60 km zurück nach Särna fahren und von dort aus wieder auf die Piste abbiegen, die ich auf der Herfahrt schon gefahren bin. Aber inzwischen hat es ja geschneit und das Glatteis sollte zugedeckt sein. Das bestätigt sich auch. Dann muss ich abbiegen auf die Straße, die zum Wasserfall hochführt. Und da ist es wieder, das Eis. Spiegelblank! Eine Steigung ist zu überwinden, mit blankem Eis! Oben ist eine Hofausfahrt zu erkennen. Davor ist gestreut. Also, Schwung holen und hoffen. Immer mehr drehen die Reifen durch, nur noch ein paar Meter, langsamer und langsamer. Nein, es reicht nicht! Das Auto kommt zum Stillstand. Also, raus und Schneeketten...! Ich kann den Gedanken nicht zu Ende denken, da bewegt sich das Auto schon wieder, rückwärts! Nein, mehr schräg als rückwärts rutscht es den Hang wieder hinunter. In Sekundenbruchteilen schießen mir die Gedanken durch den Kopf. Meine Reaktionen sind nur noch Reflexe: Bremsen auf, rollen lassen, Rückspiegel schauen, Schneehaufen suchen, versuchen dort hin zu lenken... Geschafft! In einem Schneehaufen kommt das Auto unbeschadet zum Stehen. Durchatmen! Also, jetzt raus und die Schneeketten drauf. Ich steige aus, plumps, schon geht's wieder abwärts, auf dem Hintern sitzend... Ich kann mich gerade noch am hinteren Kotflügel festhalten und wieder hochrappeln. Irgendwie schaffe ich es dann doch, die Ketten über die Reifen zu stülpen. Der fachgerechte Sitz der Ketten sieht allerdings anders aus! Was soll's. Ich lege den Gang ein und gebe langsam Gas. Keinen Meter geht es weiter. Als die Ketten einige Zentimeter Eis weggeraspelt haben, gebe ich auf, versuche zu wenden, fahre zurück zum Anfang der Steigung, wende abermals, nehme Anlauf und schaffe mit viel Mühe die Steigung.
Dann erreiche ich den tiefverschneiten Parkplatz, wo der Wanderweg zum Wasserfall beginnt. Eine gespurte Loipe gibt es natürlich nicht. Aber ich kenne die ungefähre Richtung vom Sommer. Also, los geht's. Keine Spuren vor mir, nur die Färten der Rehe und Füchse.
Durch tiefverschneiten Föhrenwald ziehe ich meine Spur, auf freien Flächen ist der Schnee vom Wind so hartgepresst, dass er hart wie Eis ist. Und dann wieder diese unglaubliche Stille, diese klare, eiskalte Luft. Später erreiche ich einen Fluss, das Zeichen, dass ich richtig bin. Dem Fluss muss ich nun folgen, er entspringt unterhalb des Wasserfalls. Das Flussufer ist so unwegsam, dass ich mit den Skiern nicht durchkomme. Ich lasse sie stehen und stapfe zu Fuss weiter, wobei ich manchmal bis zu den Hüften einsinke. (Auf solchen Wanderungen habe ich natürlich Stiefel an, klar) Dann erreiche ich den Wasserfall, das heißt, die Stelle, wo er eigentlich sein sollte. Denn dort an der Felswand hängt nur ein gigantischer Eiszapfen, 90m hoch und ca. 30m breit! Unten plätschert ein schmales Bächlein heraus, das sich seinen Weg unter dem tiefen Schnee hinunter ins Tal sucht. An manchen Stellen ist der Schnee darüber eingebrochen und man sieht das dunkle Wasser unten durchfließen.
Nachdem ich diesen unglaublichen Anblick tief in mich aufgenommen habe, gehe ich zurück, schnalle die Skier wieder an und folge meinen Spuren zurück zum Auto. Die Fahrt zurück zur Hütte verläuft ohne Zwischenfälle.
Abends gibt's dann wieder Sauna und das Bad im Schnee.
Gleich zweimal fahre ich in diesen Tagen hoch auf den Nipfjäll. Man hat von dort oben einen herrlichen, Kilometer weiten Ausblick bis nach Norwegen im Westen. Und dann diese endlose weiße Weite dort oben. Kein Baum oder Strauch behindert den Blick oder bietet einen Kontrast. Nur die Schattenschattierungen der Schneewehen bilden einen diffusen Kontrast. Es ist eine seltsame, fremdartige Stimmung, wenn man dort oben durch die endlose Weite zieht.
Auch die restliche Umgebung ist sehenswert. Klein verstreute Höfe, die in der Schneelandschaft liegen, Seen, auf denen Eisangler ihr Glück versuchen, und andere Seen, die still und einsam, erstarrt zu Eis, irgendwo tief im verschneiten Wald liegen. Ich mach viele Skitouren durch einsame Wälder und vollkommen unberührten tiefen Schnee und über zugefrorene Seen. Dabei wird mir trotz eisiger Temperaturen gehörig warm und es ist eine wahre Wohltat, am Ende solch einer Skitour die Stiefel auszuziehen und ein paar Minuten barfuß im Schnee zu laufen.
Dann ist die Zeit gekommen, Abschied zu nehmen, weiter zu fahren.
Nach Norwegen führt der Weg. Die 400 km bis Sunndalsøra möchte ich an einem Tag schaffen. Früh morgens geht es los, zunächst Richtung Röros. Ich komme gut voran, mit dem Fahren im Schnee habe ich nun ja schon Routine.

Schneesturm!
Bei Röros setzt leichter Schneefall ein, der jedoch bald nachlässt. In Tynset biege ich nach Westen ab, Richtung Ulsberg. Und jetzt setzen starke Windböen ein, die den leichten Pulverschnee aufwirbeln und jede Sicht nehmen. Diese Windböen kommen ganz plötzlich und man muss dann höllisch aufpassen, nicht von der Fahrbahn abzukommen. Später, nach Ulsberg, geht es hoch ins Gebirge, auf der Straße E6 nach Oppdal. Die Windböen haben sich inzwischen zum ausgewachsenen Schneesturm entwickelt. Nur noch mit maximal 30 km/h fahre ich weiter und habe Mühe, in Oppdal die Abzweigung nach Sunndalsøra zu finden. Unvermindert tobt der Sturm, wirbelt Schnee auf und bringt Kälte. Das Thermometer zeigt nur noch -10°C. Und dennoch sieht man immer wieder Menschen, die sich in den Dörfern zu Fuß durch diesen Sturm kämpfen. Bei dieser Windstärke wirken die -10°C wie -35° oder -40°C. Bei Aufenthalten im freien tut man gut daran, den Wind-Chil-Faktor zu berücksichtigen.
Nur noch im Schritttempo komme ich voran. Langsam geht es hinunter zum Sunndalsfjord, der Sturm lässt etwas nach, dafür verstärkt sich der Schneefall. Sichtweite ist nur noch maximal 10-15 Meter. Die Häuser der Stadt Sunndalsøra verschwinden im Schneegestöber. Da erkenne ich ein Schild, das ein Bett zeigt. Ich folge dem Weg, der steil den Berg hinauf führt. Auf dem frischen Schnee greifen die Reifen gut und ich komme ohne Probleme den Berg hoch.
Dort gibt es eine Jugendherberge mit Haupthaus und Hütten. Ich miete ein Zimmer im Haupthaus. Hier im Warmen sitzend lasse ich den Sturm draußen toben und schaue den dichten Schneeflocken zu, die im Licht der Laterne vor dem Haus wirbeln.
Am Morgen hat sich der Sturm gelegt, es schneit nicht mehr. Von meinem Zimmer habe ich eine herrlichen Blick über die erleuchteten Straßen der noch im Dunkeln liegenden Stadt. In der ganzen Stadt zucken die gelben Blinklichter der Schneepflüge, die sich mühen, um die Straßen wieder von den meterhohen Schneeverwehungen zu befreien. Ich setze meine Fahrt fort, entlang dem Sunndalsfjord und dem Langfjord Richtung Åndalsnes. An mancher Steigung muss ich zwei mal Anlauf nehmen, um nach oben zu kommen. Aber die Landschaft entschädigt für die Mühen. Schiffe, die ganz klein auf dem dunklen Wasser der Fjorde ihre Spur ziehen, das einen scharfen Kontrast bietet zu den verschneiten Bergen. Kleine Dörfer am Ufer, mit ihren "Hexenhäusern" in der Winterlandschaft. Der Auslöser der Kamera steht nicht still.Und die Füße erfahren ihre regelmäßige Erfrischung.
Von Åndalsnes aus fahre ich nach Ålesund. Drohende Schneewolken treiben vom Nordantlantik herein, tief schwarz und schwer. Schneefall setzt ein und plötzlich ist sie weg, die Straße, die Sicht. Alles weiß, rund rum nur weiß. Die Dimensionen verwischen zu einem weißen Einerlei, oben, unten, rechts, links, vorne, hinten, alles ist gleich. Schneeflocken wirbeln in einem wilden Chaos, es gibt keinerlei Orientierung mehr.
Was tun? Anhalten? Aber was ist, wenn von hinten ein Lastwagen kommt? Ich bin auf einer am meisten befahrenen Straßen Norwegens! Also doch weiter, ganz langsam. Der Schneepflug hat rechts und links der Straße hohe Schneewände aufgeschoben, von der Straße abkommen kann ich nicht.
So plötzlich, wie die Schneewand kam, verschwindet sie auch wieder. Die Sicht ist wieder da, was gerade war, erscheint wie ein Traum, unwirklich, unfassbar.
Häuser, eine Stadt! Ålesund ist erreicht. Herrlich auf Inseln gelegen erinnert diese Stadt mit ihren Kanälen etwas an Venedig. Nur dass sie tief verschneit ist. Einen herrlichen Blick über die Stadt und die Inselwelt hat man vom Aksla aus.
Nach einer Stadtbesichtigung fahre ich weiter Richtung Stranda am Storfjord. Hier möchte ich übernachten, aber unter 200 DM ist keine Unterkunft zu bekommen. Also weiter durch die Dunkelheit nach Hellesylt am Geirangerfjord. Hier hat keine Unterkunft geöffnet. Weiter geht's, Müdigkeit macht sich breit. Nur einzelne Häuser ziehen vorüber. Dann ein Schild: "Rom"! Nein, natürlich nicht die italienische Hauptstadt, "Rom" heißt "Zimmer". Na also, wer sagt's denn. Ich folge dem Schild. An dem Haus öffnet ein Mann "Nein, ein Zimmer habe ich nicht zu vermieten" -Pause- "aaaber, ich habe einige Hütten, oben am Berg, da kannst du übernachten!" Erleichterung! "Jetzt komm' erst mal rein, meine Frau hat gerade Kaffee gemacht, das ist gut bei der Kälte!" Ich folge der Einladung, obwohl ich todmüde bin. Die Frau hat ein willkommenes "Opfer" gefunden, um ihre letzten Weihnachtskekse loszuwerden. Und wehe ich würde nein sagen, dann müsste ich wohl weiterfahren. Also bin ich schön artig, in Norwegen legt man sehr großen Wert auf gute Sitten.
Als die Kekse alle sind darf ich dann auch die Hütte beziehen. Über eine kleine Treppe erreicht man die etwa 1,00 Meter hohe Veranda und von dort geht es in die Hütte. Nach dem Abendessen und Waschen gehe ich nur noch kurz auf die Veranda, um die Füße etwas zu erfrischen und sehe, dass es wieder leicht schneit. Dann gehe ich ins Bett.

Wo ist den nur das Auto geblieben?
Am Morgen trete ich wieder auf die Veranda, barfuß natürlich, und möchte etwas hinaus in den Schnee. Komisch, gestern abend war da doch eine Treppe, denke ich mir. Ich gehe dort hin, wo ich die Treppe vermute und stapfe mit jedem Schritt 15 cm tiefer in den Schnee. Am Ende stehe ich bis zu den Hüften im Neuschnee. Es hat über Nacht etwa einen Meter Neuschnee gegeben! Ich schaue mich um. Auf dem Weg vom Tal herauf durchdringen zwei helle Scheinwerfer die Dunkelheit. Ein Traktor wühlt sich schwerfällig durch den Schnee und hält ein Stück entfernt. Der junge Mann am Steuer ruft mir zu, er sei der Sohn vom Vermieter und wolle den Weg räumen. Ich solle ihm doch nur sagen, wo ich mein Auto geparkt hätte... Gute Frage, denkte ich mir und schaue fassungslos in die Schneemassen. "Der Haufen dort, da muss es sein!" "Okay, ich räume nur hier, das Auto musst du von Hand freischaufeln!"
Nachdem ich das Auto ausgebuddelt habe kann es weiter gehen. Die Vermieterin erzählt mir bei der Schlüsselabgabe, dass die Strasse, auf der ich gestern gekommen war, heute Nacht von einer Lawine verschüttet wurde. Da habe ich ja Glück gehabt!
Meine Fahrt heute führt mich zunächst nochmal zurück zum Geirangerfjord, um ihn bei Tageslicht zu bewundern. Dann geht es zum Nordfjord und in das Oldental.

Eiszeit
Im Oldental präsentierte sich wieder eine Märchen-Winterlandschaft.Eiszapfen hängen zu tausenden an den Felswänden, strahlen im Sonnenlicht und verwandeln den Fels in ein glitzerndes Märchenschloss. Meterhoch liegt der Schnee, blau schimmert der nur dünn gefrorene See in der Sonne. Hoch türmen sich rechts und links die Berge auf und am Ende des Tales ist der Briksdals-Gletscher zu erkennen. Und über allem spannt sich ein tief blauer Himmel.Um die Mittagszeit mache ich ein Picknick im Schnee, ganz wie im Sommer. Ich trete barfuß den Schnee fest, breite ein Decke aus, setze mich drauf und strecke die nackten Füße in die Sonne. Und dann wird gemampft. Die Temperatur im Schatten ist knapp unter 0 aber in der strahlenden Sonne lässt es sich aushalten.
Und dieses Traumwetter bleibt mir erhalten, für den Rest der Reise. Aber es wird grimmig kalt: -20°C als Tages- Höchsttemperatur und nachts geht es auf -30°C runter. Natürlich lasse ich mir das einmalige Erlebnis nicht nehmen, auch bei -28°C barfuß durch den Schnee zu gehen! Das geht natürlich nur ganz kurze Zeit, eine oder zwei Minuten, eben gerade so viel, um ein Foto zu machen. Nach drei weiteren Fahrtagen durch eine zauberhafte Winterlandschaft erreiche ich Kritiansand, von wo aus die Fähre nach Dänemark ablegt.
Einen Zwischenfall gibt es jedoch noch. Als ich mich beim Sognefjord verfahren habe, versuche ich zu wenden und bei diesem Maneuver komme ich zu weit an den Straßenrand und rutsche in den Graben. Das ist jedoch kein großes Malheuer, denn ein gerade vorbeikommender Tanklaster zieht mich wieder heraus.
So erreiche ich wohlbehalten wieder die Heimat.

Eine Winterreise nach Skandinavien ist eines der eindruckvollsten Abenteuer, das man heute in Europa erleben kann. Wenn man, wie ich, mit dem Auto fährt, sollte man in Oslo oder Göteborg unbedingt Spikesreifen aufziehen lassen. Winterreifen sind, wie geschildert untauglich und Schneeketten bei den langen Fahrstrecken nur begrenzt verwendbar. Viele meiner Probleme hätten sich mit Spikes vermeiden lassen. Die Skandinavier fahren fast durchweg mit Spikes.
Übrigens: In Norwegen sind die Straßen besser geräumt, als in Schweden.


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