Barfuß und Armut (Hobby? Barfuß! 2)
Samstag, 5.4.2008: Es war sonniges Wetter, also beschloß ich, mit dem Velo loszufahren, diesmal in Richtung Solothurn, selbstverständlich barfuß. Zwar war es morgens derart frisch, daß ich anfangs eine Jacke benötigte, aber sonstige Winterkleidung war überflüssig. An meinem Rucksack, den ich aufs Velo klemmte, hing immer noch das berüchtigte Schild "Nein, es ist nicht zu kalt!" (ich war zu faul, es zu entfernen). Gegen 11.30 Uhr hatte ich die Solothurner Altstadt erreicht, hier schob ich das Velo. Auf der Treppe zur St.-Ursen-Kathedrale spielte gerade eine Musikkapelle. Einige Leute machten große Glotzaugen, als sie mich in meiner nicht allzu winterlichen Aufmachung in der Stadt sahen.
Eine zierliche gut aussehende Frau, ca. 25, elegant gekleidet in "schicken" Stiefeln, mittellangem Rock, Lederjacke ging auf mich zu und fragte: "Warum gehst du ohne Schuhe?" "Weil es gesund ist", war meine Antwort. Sie sprach ein gutes Hochdeutsch, man hörte ich nur wenig an, daß deutsch nicht ihre Muttersprache war. Weshalb sie das vertrauliche "Du" gebrauchte (da sie deutsch gut beherrschte, dürfte sie sicher wissen, daß es auch ein formales "Sie" gibt), weiß ich nicht. Aber es störte mich nicht weiter, denn es klang mehr wie das kollegiale du, nicht wie das hierarchische, wie es in der Schweiz selten, in Deutschland häufiger von Polizisten angewendet wird, wenn sie einen vermeintlichen Straftäter erwischt haben (und wenn man sie zurückduzt, gilt das als Beamtenbeleidigung).
Dann klagte sie, daß sie die Wohnung verlieren würde, wenn sie nicht sofort Geld für die Miete bekäme. Sie hätte Kinder und wüßte nicht, was sie tun sollte. Sie fragte, ob ich ihr Geld leihen könnte. Ich konnte nicht, denn so billig ist in der Schweiz keine Wohnungsmiete, wie ich an Geld dabei hatte. Sie fragte nach meiner Telefonnummer, nach meinem Beruf, und ob ich nicht mal eben nach Hause fahren könnte, um Geld zu holen. Sie tat so, als ob sie sich wunderte, daß es ca. 4 Stunden dauern würde, bis ich wieder zurück war. Ich war übrigens nicht stehen geblieben, während wir sprachen, sondern ich schob mein Velo barfuß durch die Altstadt, während sie neben mir stiefelte. Als wir das Bieltor erreichten, verabschiedete sie sich schnell.
Ich war mir sicher: Diese Frau war eine Betrügerin. Jedes ihrer Kleidungsstücke das sie trug, war im Anschaffungspreis teurer als die entsprechenden Kleidungsstücke, die ich trug, nicht nur in Bezug auf Fußbekleidung. Möglicherweise hat sie erheblich weniger Geld auf dem Konto als diese Ospels, Ackermänner, Schmidheinis, Mühlemänner usw., vielleicht auch als ich, aber bettelarm ist sie niemals. Wäre sie wirklich bettelarm gewesen, dann wäre sie zwar wohl kaum barfuß gewesen, jedoch wäre ihre Kleidung und ihre Frisur nicht in einem derart korrekten Zustand gewesen. Ich frage mich allerdings, wieso sie ausgerechnet mich um Geld angebettelt hat. Ein armer Mensch würde doch keinen Menschen anbetteln, der selber so arm ist, daß er sich nicht einmal Schuhe leisten kann. Ich vermute einmal, daß sie mir angesehen hat, daß ich trotz Barfüßigkeit nicht der allerärmste sein kann, vielleicht aufgrund meines zwar über 10 Jahre alten, jedoch nicht gerade billigen Velos. Oder wirkt man als Barfüßer eher als einer, den man Vertrauen schenken (oder in diesem Fall übers Ohr hauen) kann?
Sicher sehe ich so aus, daß ich nicht gleich zur Faust greife, wenn ich angesprochen werde. Und ein "saures Gesicht", wie es Markus U. immer aufzusetzen pflegt, wenn er nicht gestört werden will, hatte ich auch nicht aufgesetzt. Das ist auch nicht meine Art, denn ein saures Gesicht machen strengt mehr an als ein leichtes Grinsen. Zumindest war ich froh, daß ich die Frau los war.
Ich radelte weiter bis nach Altreu und schob von dort stellenweise mein Velo direkt über barfußfreundliche Wege an der Aare entlang. Als ich wieder die Stadt erreichte, ließ ich es mir nicht nehmen, mir die Füße vor dem Bieltor im Brunnen, auf dem Platz zu duschen. Ich schob das Velo durch die Altstadt, wo vor dem Rathaus ein junger Mann Dudelsack spielte, wie in Ekstase. Er trug übrigens keinen Schottenrock, sondern "normale" Kleidung mit einem deutlich höheren Bedeckungsgrad als bei meiner Kleidung. Und barfuß war er auch nicht, sondern fett beschuht.
Ich schritt zur Kathedrale und nahm auf der Treppe Platz, um der Musik zuzuhören. Hier waren übrigens auch ein paar männliche Jugendliche in mehr oder weniger kurzen Hosen, aber alle in fetten Turnschuhen, oft in Kombination mit "normalen" Socken, einige aber auch in Minisocken, mit denen sie auf "arglistige" Weise Sockenlosigkeit vortäuschten, aber mich betrügt man nicht auf diese Weise.
Plötzlich verstummte die Musik. Langsam rollte ein Polizeifahrzeug aus Richtung Rathaus. Hatten die Polizisten dem Dudler das Handwerk gelegt? Würden sie nun aussteigen, und auch mir das Handwerk (oder Fußwerk?) legen? Nein, sie fuhren weiter. Als sich der Himmel dunkel färbte, machte ich mich auf den Weg, um nicht vom Regen überrascht zu werden. Ich wurde zwar nicht vom Regen überrascht, dafür erlebte ich eine ganz andere Überraschung. Nein, keine Polizeikontrolle usw., denn das wäre für mich keine Überraschung, sondern eine lästige Begleiterscheinung, an die ich mich als kurz behoster Barfüßer allmählich gewöhnt habe.
Schöne Grüße
Michael aus Zofingen