Barfuß und Armut (Hobby? Barfuß! 2)

Michael aus Zofingen, Stammposter, Monday, 07.04.2008, 19:27 (vor 6072 Tagen)

Samstag, 5.4.2008: Es war sonniges Wetter, also beschloß ich, mit dem Velo loszufahren, diesmal in Richtung Solothurn, selbstverständlich barfuß. Zwar war es morgens derart frisch, daß ich anfangs eine Jacke benötigte, aber sonstige Winterkleidung war überflüssig. An meinem Rucksack, den ich aufs Velo klemmte, hing immer noch das berüchtigte Schild "Nein, es ist nicht zu kalt!" (ich war zu faul, es zu entfernen). Gegen 11.30 Uhr hatte ich die Solothurner Altstadt erreicht, hier schob ich das Velo. Auf der Treppe zur St.-Ursen-Kathedrale spielte gerade eine Musikkapelle. Einige Leute machten große Glotzaugen, als sie mich in meiner nicht allzu winterlichen Aufmachung in der Stadt sahen.

Eine zierliche gut aussehende Frau, ca. 25, elegant gekleidet in "schicken" Stiefeln, mittellangem Rock, Lederjacke ging auf mich zu und fragte: "Warum gehst du ohne Schuhe?" "Weil es gesund ist", war meine Antwort. Sie sprach ein gutes Hochdeutsch, man hörte ich nur wenig an, daß deutsch nicht ihre Muttersprache war. Weshalb sie das vertrauliche "Du" gebrauchte (da sie deutsch gut beherrschte, dürfte sie sicher wissen, daß es auch ein formales "Sie" gibt), weiß ich nicht. Aber es störte mich nicht weiter, denn es klang mehr wie das kollegiale du, nicht wie das hierarchische, wie es in der Schweiz selten, in Deutschland häufiger von Polizisten angewendet wird, wenn sie einen vermeintlichen Straftäter erwischt haben (und wenn man sie zurückduzt, gilt das als Beamtenbeleidigung).

Dann klagte sie, daß sie die Wohnung verlieren würde, wenn sie nicht sofort Geld für die Miete bekäme. Sie hätte Kinder und wüßte nicht, was sie tun sollte. Sie fragte, ob ich ihr Geld leihen könnte. Ich konnte nicht, denn so billig ist in der Schweiz keine Wohnungsmiete, wie ich an Geld dabei hatte. Sie fragte nach meiner Telefonnummer, nach meinem Beruf, und ob ich nicht mal eben nach Hause fahren könnte, um Geld zu holen. Sie tat so, als ob sie sich wunderte, daß es ca. 4 Stunden dauern würde, bis ich wieder zurück war. Ich war übrigens nicht stehen geblieben, während wir sprachen, sondern ich schob mein Velo barfuß durch die Altstadt, während sie neben mir stiefelte. Als wir das Bieltor erreichten, verabschiedete sie sich schnell.

Ich war mir sicher: Diese Frau war eine Betrügerin. Jedes ihrer Kleidungsstücke das sie trug, war im Anschaffungspreis teurer als die entsprechenden Kleidungsstücke, die ich trug, nicht nur in Bezug auf Fußbekleidung. Möglicherweise hat sie erheblich weniger Geld auf dem Konto als diese Ospels, Ackermänner, Schmidheinis, Mühlemänner usw., vielleicht auch als ich, aber bettelarm ist sie niemals. Wäre sie wirklich bettelarm gewesen, dann wäre sie zwar wohl kaum barfuß gewesen, jedoch wäre ihre Kleidung und ihre Frisur nicht in einem derart korrekten Zustand gewesen. Ich frage mich allerdings, wieso sie ausgerechnet mich um Geld angebettelt hat. Ein armer Mensch würde doch keinen Menschen anbetteln, der selber so arm ist, daß er sich nicht einmal Schuhe leisten kann. Ich vermute einmal, daß sie mir angesehen hat, daß ich trotz Barfüßigkeit nicht der allerärmste sein kann, vielleicht aufgrund meines zwar über 10 Jahre alten, jedoch nicht gerade billigen Velos. Oder wirkt man als Barfüßer eher als einer, den man Vertrauen schenken (oder in diesem Fall übers Ohr hauen) kann?

Sicher sehe ich so aus, daß ich nicht gleich zur Faust greife, wenn ich angesprochen werde. Und ein "saures Gesicht", wie es Markus U. immer aufzusetzen pflegt, wenn er nicht gestört werden will, hatte ich auch nicht aufgesetzt. Das ist auch nicht meine Art, denn ein saures Gesicht machen strengt mehr an als ein leichtes Grinsen. Zumindest war ich froh, daß ich die Frau los war.

Ich radelte weiter bis nach Altreu und schob von dort stellenweise mein Velo direkt über barfußfreundliche Wege an der Aare entlang. Als ich wieder die Stadt erreichte, ließ ich es mir nicht nehmen, mir die Füße vor dem Bieltor im Brunnen, auf dem Platz zu duschen. Ich schob das Velo durch die Altstadt, wo vor dem Rathaus ein junger Mann Dudelsack spielte, wie in Ekstase. Er trug übrigens keinen Schottenrock, sondern "normale" Kleidung mit einem deutlich höheren Bedeckungsgrad als bei meiner Kleidung. Und barfuß war er auch nicht, sondern fett beschuht.

Ich schritt zur Kathedrale und nahm auf der Treppe Platz, um der Musik zuzuhören. Hier waren übrigens auch ein paar männliche Jugendliche in mehr oder weniger kurzen Hosen, aber alle in fetten Turnschuhen, oft in Kombination mit "normalen" Socken, einige aber auch in Minisocken, mit denen sie auf "arglistige" Weise Sockenlosigkeit vortäuschten, aber mich betrügt man nicht auf diese Weise.

Plötzlich verstummte die Musik. Langsam rollte ein Polizeifahrzeug aus Richtung Rathaus. Hatten die Polizisten dem Dudler das Handwerk gelegt? Würden sie nun aussteigen, und auch mir das Handwerk (oder Fußwerk?) legen? Nein, sie fuhren weiter. Als sich der Himmel dunkel färbte, machte ich mich auf den Weg, um nicht vom Regen überrascht zu werden. Ich wurde zwar nicht vom Regen überrascht, dafür erlebte ich eine ganz andere Überraschung. Nein, keine Polizeikontrolle usw., denn das wäre für mich keine Überraschung, sondern eine lästige Begleiterscheinung, an die ich mich als kurz behoster Barfüßer allmählich gewöhnt habe.

Schöne Grüße
Michael aus Zofingen

Barfuß und Armut

Kai (VS), Stammposter, Monday, 07.04.2008, 20:49 (vor 6072 Tagen) @ Michael aus Zofingen

Hallo, Michael,
ja, das war schon ein wenig dreist, und wahrscheinlich hast Du Recht, dass sie nicht ehrlich war. Wer wirklich in Schwierigkeiten steckt, dem fehlt es auch oft am Selbstvertrauen, so aggressiv vorzugehen.

Barfüßler scheinen allerdings eine geringere Distanz zu Anderen zu präsentieren, so dass die eine niedrigere Hemmschwelle haben, uns anzusprechen oder um etwas zu bitten. Woher das kommt, kann ich noch nicht erklären, es wurde aber mal länger bei der SBL (der amerikanischen Gruppe) diskutiert.

Oft merken wir ja, dass wir irgendwie angesprochen werden, und interpretieren das häufig als Aggressivität. Ich sehe das nicht so, sondern eher positiv, so kommt man mit Leuten ins Gespräch.

Gruß, Kai

Barfuß und Armut

Descalzar ⌂, Stammposter, Tuesday, 08.04.2008, 18:00 (vor 6071 Tagen) @ Kai (VS)

Hi Kai,
das sehe ich auch so. Durch seine Barfü´ßigkeit gibt man etwas von sich Preis, was nicht alltäglich ist. Vielen wird dadurch signalisiert, daß man ein offener Mensch ist, denn merke...jedes Kleidungsstück ist eine Art Rüstung.
Kleidung schützt nicht nur vor Kälte, sondern auch vor eventuellen körperlichen Schmerzen.
Je mehr man von dieser Rüstung ablegt, desto angreifbarer wird man.
dadurch, daß man angreifbarkeit signalisiert, signalisiert man auch Offenheit.Ähnlich wie die Stadttore im Mittelalter.
geschlossene Tore0 nicht angreifbar oder nur schwer einzunehmen= Menschen möchten sich abschotzten
Offene Stadttore=jeder ist willkommen=es heißt ja auch, man "öffnet sich"....

Gruß und Fuß, Descalzar

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Barfuß und Armut

caru (wien) @, Monday, 07.04.2008, 21:54 (vor 6072 Tagen) @ Michael aus Zofingen

ich mache immer wieder die erfahrung, daß mich bettler (auch keiler und andere sorten von berufsschnorrern) ganz besonders gern ansprechen.
eventuell gerade, WEIL ich barfuß bin.

die leute schließen wahrscheinlich nicht: "der ist barfuß, der kann sich nicht mal schuhe leisten, bei dem ist nichts zu holen", sondern "das ist ein mensch mit alternativem lebensstil (/hippie), der ist vermutlich aufgeschlossen und freigebig".

wie auch immer, wenn 5 passanten daherkommen, stürzt sich der/die schnorrerIn meist auf mich, den einzig barfüßigen.

Barfuß und Armut

Descalzar, Stammposter, Tuesday, 08.04.2008, 18:06 (vor 6071 Tagen) @ Michael aus Zofingen

Ich frage mich allerdings, wieso sie ausgerechnet mich um Geld angebettelt hat.

Nimms mir nicht übel, aber vielleicht hat sie dich für geistig nicht ganz auf der Höhe gehalten. Oft werden solche Leute und deren Gutmütigkeit gern mißbraucht...

Gruß und Fuß,
Descalzar

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