Warum barfuß und nackt nicht das Gleiche sind: Versuch einer Abgrenzung (Hobby? Barfuß! 2)

Jörg (Hanna), Stammposter, Saturday, 08.12.2007, 23:12 (vor 6195 Tagen)

Um es vorweg zu nehmen: Mir geht es bei diesem Beitrag nicht darum, eine neue Diskussion zu beginnen, ob und inwieweit Naturismus, FKK oder Nacktsein in ein Barfußforum gehören oder nicht, sprich ich möchte keine neue Off-Topic-Diskussion lostreten, sondern mir geht es um den Versuch einer sachlichen (!) Abgrenzung zwischen Barfuß und Nacktsein in unserer Gesellschaft - ganz unabhängig von diesem Forum! Leider ist diese Diskussion im Geschrei der letzten Tage hier untergegangen bzw. gar nicht erst richtig in Gang gekommen.

Zur Einleitung mein eigener Standpunkt: Ich habe kein Problem mit Nacktheit bin aber auch kein ausgewiesener Freund von FKK und Co. Ich finde z.B. Badekleidung in der Sauna schlicht unpraktisch und albern und hatte in meinem Leben - auch während der Pubertät - nie Probleme mit nackt vor meinen Eltern und Freunden zu zeigen. Wenn sich die schönsten Strände - wie neulich in Lanzarote - als von FKK-Anhängern "besetzte" Zonen erweisen, freue ich mich, daß ich hier sicher ohne Badehose baden gehen kann ohne anzuecken. Wenn nicht, lasse ich sie eben an. Kurzum: Ich stehe Nacktheit ziemlich neutral und leidenschaftslos gegenüber. Meine Standpunkte zum Barfußlaufen habe ich ja in den letzten 9 Jahren oft genug hier erklärt; sie lassen sich ggfs. auch im Best-Of oder hier nachlesen.

Warum schreibe ich das alles? Nun, weil ich denke, relativ neutral und unbelastet an eine Abgrenzung zwischen Barfuß und Nacktheit im Alltag herangehen zu können. Als Ingenieur beginne ich natürlich zunächst mit den "technischen" Gründen:

1) Kälte: Wir wissen hier alle, wie lange man barfuß selbst bei niedrigeren Temperaturen laufen kann, wenn man nur in Bewegung bleibt und den Rumpf warm hält. Im Einzelfall sind die Grenzen zwar sehr verschieden (MaZ, "Eisschwimmer"), doch prinzipiell ist die Wärmeabgabe über die große Oberfläche der menschlichen Haut (Konvektion und Strahlung) deutlich stärker als die durch Wärmeleitung (Konduktion) über die vergleichsweise kleinen Fußsohlen. (Eis-) Wasser und kalter Schlamm mögen Ausnahmen bilden. Schon aus diesem Grund ist wärmende Kleidung außerhalb der Tropen wichtiger als Schuhe.

2) Funktion: Wie hier schon sehr oft dargelegt wurde, behindern Schuhe den natürlichen Bewegungsablauf der Füße beim Laufen. Schuhe schränken also die ureigenste Funktion der Füße - nämlich die Fortbewegung - ein. Die ureigenste Funktion der bei Nacktheit entblössten Geschlechtsteile dagegen sind Fortpflanzung und Entleerung der Blase bzw. das Stillen bei der weiblichen Brust. Niemand käme auf die Idee, hier die Kleidung anzulassen. Wenn wir Hosen, Röcke und Blusen anhaben, benutzen wir unsere Geschlechtsteile nicht (bitte jetzt keine Haarspalterei von wegen offener Hosenschlitz). Im Gegensatz zu Schuhen bringt also die übrige Kleidung - von Ausnahmen abgesehen - keine Einschränkung für die Funktion der sie bedeckenden Teile im Alltag mit sich und wo doch, entledigen wir uns dieser.

3) Hygiene: Um jetzt nicht in zu unappetitiliche Details abgleiten zu müssen, mag jeder selber überlegen, welche Funktion (Unter-) Wäsche im Hinblick auf die Hygiene im Alltag hat. Das kann man natürlich abhängig von persönlichen Hygienevorstellungen, körperlicher Verfassung (Stichwort: Verdauungsprobleme ;-), Alter oder Geschlecht (Menstruation) sowohl über- als auch unterbewerten, aber daß Schuhe der Hygiene zuträglich sind, kann man allenfalls bei Fußpilzkranken behaupten.

4) "Schamkultur": Dieses ist sicher der schwierigste aber auch wichtigste Punkt. Ob Scham anerzogen oder angeboren ist, müssen die Wissenschaftler klären, aber nach meiner persönlichen Überzeugung ist sie anerzogen. Gab und gibt es doch Naturvölker (z.B. am Amazonas oder in Indonesien), bei denen Nacktheit mehr oder weniger selbstverständlich ist und Scham bezüglich Nacktheit folglich kein Thema ist. Auch scheint die Scham vor Nacktheit eher kultur- als wetterabhängig zu sein. Während sich Finnen und Schweden z.B. beim Saunagang gemeinschaftlich nackt im Schnee abkühlen, wird man im türkischen Hamam trotz Geschlechtertrennung u.U. nackt Probleme bekommen. Auf jeden Fall ist ein mehr oder weniger großes Schambewußtsein bezogen auf das Entblößen bestimmer Körperteile in vielen Kulturen tief verwurzelt. Woher es kommt, weiß ich nicht, aber es scheint tausende von Jahren alt zu sein. Wer Anhänger einer der drei großen monotheistischen Religionen ist, mag die Begründung im 1. Buch Moses finden, mich als Agnostiker interessiert die Herkunft dieses kulturell bedingten Schamgefühls weniger, ich kann aber seine Existenz nicht leugnen. Evolutionstechnisch könnte z.B. das Eindämmen sexueller Ausschweifungen den Menschen nach der Entwicklung vom "Affen" zum Bedecken der Geschlechtsteile gebracht haben. Vielleicht ist's aber auch nur ein Überbleibsel aus der letzten Eiszeit ;-) Wie auch immer, die Scham davor, seine Geschlechtsteile in aller Öffentlichkeit zu entblößen ist jedenfalls tief in vielen Kulturen und bei vielen Völkern - uns Mitteleuropäer eingeschlossen - verwurzelt und bis heute (nachwievor) in sehr großen Bevölkerungsschichten vorhanden. Wer dieses bezweifelt, mag gerne am nächsten Montag nackt im Supermarkt einkaufen...

Ganz im Gegenteil dazu das Barfußlaufen. Dieses war bis vor kurzem (menschheitsgeschichtlich gesehen) noch sehr üblich - und sei es nur bei den Armen, die ja meistens die Bevölkerungsmehrheit darstellten - und ist erst in den letzten Jahrzehnten völlig aus unserer Wohlstandsgesellschaft verschwunden. Eine spezifische, historisch tief verwurzelte Kultur des kollektiven Schuhetragens findet sich nach meiner Kenntnis in keiner (Hoch-) Kultur. Wohl auch daher löst das Barfußlaufen in der Öffentlichkeit in Mitteleuropa (noch) keine großen negativen Reaktionen aus - von Einzefällen mal abgesehen. Es gibt noch (!) nicht die kollektiv anerzogene Scham vor dem Barfußlaufen, wie es die anerzogene (oder vielleicht sogar doch angeborene?) jahrtausendalte Scham vor Nacktheit gibt - auch hier von Einzelfällen mal abgesehen. Allerdings besteht durchaus die Gefahr, daß sich das ändern kann. Provozierende Sprüche wie "Warum läufst Du nicht gleich ganz nackt?", die ich als Barfußläufer schon zu hören bekam, sind erste Indizien, in welche unheilvolle Richtung die Sache sich entwickeln kann: barfuß = nackt. Das klingt jetzt zwar fast wie "Barfuß und Naturismus gehören zusammen", aber mit ganz anderen Vorzeichen! Auch die zunehmende Scham, in der Öffentlichkeit barfuß zu laufen (wir kennen ja alle z.B. das "Anfängerproblem"), zeigt, daß nackte Füße allen Flip-Flop-Moden zum Trotz schon lange etwas anderes als z.B. nackte Hände sind. Übrigens gab es ja auch schon eine kurze Epoche, in dem die "vornehme Gesellschaft" in der Öffentlichkeit am liebsten Handschuhe trug - Gott sei Dank*) nicht von langer Dauer. Wenn nackte Füße aber erst mal den Stand nackter Hintern erreicht haben, ist's mit dem Barfußvergnügen in der Öffentlichkeit vorbei. Dagegen wehren wir uns und vor allem deshalb ist eine Trennung von Barfuß und Nacktheit zumindest zur Zeit unverzichtbar. Wer das zusammenbringen will, muss gleich gegen ungleich größere Widerstände ankämpfen, wie der Fall des Nacktläufers von Freiburg zeigt. Wer sich das antun möchte darf das gerne tun, aber bitte nicht in diesem Forum. Denn die gemeinsame Basis unseres Forums ist der Spaß am Barfußlaufen, und jeder Versuch, diese gemeinsame Basis zu verbreitern, führt zwangsläufig zu einer Verkleinerung der Community. Und das kann kaum in unserem Interesse sein.

Serfuß,
Jörg

*) Auch hier zeigt sich, wie tief sich die Religion in unsere Kultur, in unserer Sprache, verwurzelt hat: "Gott sei Dank" verwenden auch Agnostiker und Atheisten.


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