Sofort alles fallen lassen (2. Teil) (Hobby? Barfuß! 2)

Michael aus Zofingen, Stammposter, Wednesday, 21.11.2007, 12:32 (vor 6213 Tagen)

Samstag, den 17.11.2007, 10.40 Uhr: Gerade den Fängen der Bahnpolizei entkommen, saß ich barfuß in der S-Bahn Bellinzona - Locarno. Bis zur Abfahrt des Schnellzuges nach Domodossola war noch Zeit. Also verließ ich den Bahnhof in Richtung See. Es war so warm, daß ich die Jacke hier nicht anziehen brauchte. Einige Leute starrten mich an, das was sie sprachen, konnte ich meistens verstehen. Ich setzte mich ans Seeufer direkt vor die Steinmauer, dort war es in der Sonne noch angenehmer und ich war nicht im Blickfeld allfälliger Spießer. Denn ich hatte nicht das Verlangen nach einer Bekanntschaft mit den locarnesischen Stadtbullen. Die Zeit bis zur Abfahrt um 12.12 Uhr verging recht schnell.

Gerne wäre ich noch geblieben, aber andererseits reizte mich auch die Fahrt mit der schmalspurigen Centovalli-Bahn. Ich erreichte den "U-Bahnhof", der herrlich barfuß begehbar ist. Ein alter italienischer Zug stand bereit. Zwar wäre ich lieber mit einem formschöneren Schweizer Zug gefahren, aber was soll's. Auch der alte Wagen war barfußfreundlich ausgestattet. Und los ging die Fahrt. Einige Fahrgäste unterhielten sich laut über meine Barfüßigkeit, auf Schweizerdeutsch oder auf richtigem Deutsch, aber längst alle. Pikanterweise hörte das plötzlich auf, als ein deutsches Ehepaar irgendwas nicht wußte und ich es ihnen auf deutsch erklärte. Die Lästerer glaubten wohl, ich wäre Tessiner oder Italiener und würde kein Deutsch verstehen. Sollen die doch italienisch lästern!

Ich war übrigens zum ersten Mal barfuß auf dieser reizvollen Bahnstrecke gefahren. Bis Intragna kannte ich die Bahnstrecke nur fett beschuht. Und bis Camedo kenne ich die Strecke nur aus der Sicht eines fett beschuhten Wanderers. Aber dahinter war ich noch nie. Der Zug durchfuhr interessante Abschnitte. Ich sah das gewaltige Gotteshaus im Pilgerort Re (ohne "h"). Am Bahnhof von Re stiegen viele Leute aus, um dann in Omnibussen zu verschwinden. Waren das etwa Pilger, die zur Kathedrale wollten? "Richtige" Pilger gingen zumindest früher nicht selten barfuß, von diesen tat es keiner.

Der Zug hielt übrigens an Stationen, die eigentlich keine Schnellzugstationen sind, dafür hielt er aber nicht in Santa Maria Maggiore, was als Schnellzugstation im Fahrplan verzeichnet ist. Dort stand übrigens ein historisches straßenbahnähnliches Fahrzeug am Bahnhof abgestellt (pardon, jetzt wird es off-topic). Viel zu schnell verging die Zeit, dann rollte der Zug in Domodossola ein. Von der "U-Bahnstation" der Centovalli-Bahn zum Bahnsteig der "richtigen" Eisenbahn war es barfuß gut begehbar. Es herrschte ein ziemliches Gedränge, die meisten der für die Temperatur zu winterlich angezogenen Personen sprachen schweizerdeutsch. Wer die eher übersichtlichen Anzeigen an Schweizer Bahnhöfen gewohnt ist, hat am etwas verkommenden Bahnhof in Domodossola Mühe. Durch diese Verunsicherung, den richtigen Zug bestiegen zu haben, achtete niemand auf meine nackten Füße. Das änderte sich erst, als eine Familie mit dick vermummten Kindern einstieg und der Zug sich in Bewegung setzte. Die Kinder starrten immer nur auf meine Füße, bis der Vater sagte: "Ja, der ist barfuß! Der ist sicher arm!" Ich konnte darüber nur grinsen.

Im Zug war ein Zöllner, der nur von einigen Fahrgästen die Ausweise sehen wollte. "Selbstverständlich" wollte er auch von mir den Ausweis sehen. Barfuß und kurze Hosen im Zug, noch dazu im November, das zieht solche Leute an wie Ratten und Schmeißfliegen. Allerdings sagte er nichts zu meiner Aufmachung und die Kontrolle dauerte auch nur wenige Sekunden. Ein Fahrgast mit schwarzer Hautfarbe wurde auch Filz-Opfer. Dabei trug dieser Mann Anzug und Krawatte (und Schuhe). Es scheint wohl irgendein Raster zu geben, wer gefilzt wird und wer nicht.

Der Zug fuhr durch den Simplontunnel und erreichte Brig, wo viele Leute ausstiegen. Hier war es auch sonnig, jedoch lag recht viel Schnee. Vermutlich war es hier auch viel kälter als in Domodossola, was wohl auch erklärte, weshalb man in Domodossola so viele hochwinterlich gekleidete Leute sah. Wer bei Kälte losfährt, nimmt für einen Kurzausflug nicht unbedingt leichtere Kleidung mit. Man kann zwar einiges ausziehen, aber dann muß man es schleppen. Und Schuhe, vor allem Winterstiefel, sind wohl so ziemlich das letzte, von dem man sich als "normaler" Mensch trennt.

Ich aber blieb im Zug sitzen, der mich nach Genf brachte, mit nur wenigen Zwischenhalten in Siders, Sitten, Montreux und Lausanne. Je breiter das Tal des Rottens wurde, desto weniger wurde der Schnee. Die Stadt Sitten war schneefrei. Der Himmel war blau, daran änderte sich nichts bis zum Sonnenuntergang. So genoß ich doch eine schöne barfüßige Bahnfahrt durch das Rottental und am Genfer See entlang.

In Genf, wo ich um 16.50 Uhr ankam, wollte ich eine Runde barfuß Straßenbahn fahren, das war Neuland in zweierlei Hinsicht. In Genf war ich vorher erst einmal, und zwar mit dem Velo und fett beschuht. Das dortige Tram kannte ich nur von außen. Nun aber "durfte" ich Straßenbahn fahren, noch dazu barfuß. Also zwei Fliegen (keine Schmeißfliegen) mit einer Klappe schlagen! Im Bahnhof gab es einige erstaunte Gesichter. Ich schritt zur Tramhaltestelle und bestieg ein Tram, das gerade dort stand. Hier wurde meine Barfüßigkeit nicht beachtet, denn eine Gruppe vermutlich osteuropäischer Musiker waren interessanter für die vielen Fahrgäste. Die Musiker spielten "Zigeunermusik", und das sogar gut. Nachher ging einer rum und kassierte. Wie gerne hätte ich den Musikern zwar kein Geld, dafür aber meine Schuhe überlassen, aber die hatte ich leider nicht dabei.

Die Musiker verließen das Tram, auch sonst wurde der Zug leerer. Erst jetzt konnte ich in der Nähe eines Linienplanes im Wagen Platz nehmen, um überhaupt zu studieren, wohin die Reise ging. Es ging in die Nachbarstadt Carouge, von dort würde die Bahn auf anderem Weg zum Genfer Hauptbahnhof zurückfahren. Es würde wohl auch noch Zeit bleiben, um zum anderen Endpunkt "Nations" zu fahren. Für den anderen Genfer Linienast würde die Zeit nicht reichen, leider!

In Carouge fragte mich eine ältere Frau (auf englisch, da ich kein französisch kann), ob ich Hilfe benötige. Ich konnte sie beruhigen. An der Wendeschleife Nations hielt das Tram etwas länger. Der Tramchaffeur ging durch den Wagen, kam auch an mir vorbei und tippte auch irgendetwas in sein Handy (oder war es ein anderes Gerät?). Dann ging die Fahrt weiter in Richtung Bahnhof. Eine Haltestelle vor dem Hauptbahnhof jedoch betraten ungebetene Gäste die Bahn - zwei Beamte der Genfer Stadtpolizei (da Genf französischsprachig ist, ist die deutsche Abkürzung "Gestapo" für die Ordnungshüter eher unüblich).

Die Polizisten (einer konnte englisch) forderten mich auf, die Straßenbahn zu verlassen. Ich mußte in der Bullenschleuder Platz nehmen. Die Kontrolle ging sehr schnell, offensichtlich sind Polizisten in Schweizer Großstädten toleranter als in kleineren Städten. Trotzdem fand ich es befremdlich, daß Musiker im Tram unbehelligt bleiben, obwohl Musizieren und Betteln dort verboten ist, während gleichzeitig Leute, die barfuß und in kurzen Hosen die Bahn benutzen (was nicht verboten ist) der Polizei ausgeliefert werden. Verkehrte Welt! Die Beamten waren höflich. Ich hatte eher den Eindruck, als ob sie es interessant fanden, mal einen im Winter barfuß in der Stadt anzutreffen. Nach der Kontrolle fuhren sie mich noch zum Bahnhof, wo ich den vorgesehenen Zug um 18.21 Uhr mühelos erreichte.

Schöne Grüße

Michael aus Zofingen (Fortsetzung folgt)


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