Barfuß in Biasca (Hobby? Barfuß! 2)

Michael aus Zofingen, Stammposter, Wednesday, 12.09.2007, 08:57 (vor 6218 Tagen)

Sonntag, 9.9.2007: Es war 6.45 Uhr, als ich mich von meinem Schlafplatz in Bissone erhob, um mich zum Bahnhof von Melide zu begeben. Wenn man gerade aus dem Schlafsack kommt und unmittelbar danach barfuß über unebene Wege geht, dann kommt es einem deutlich schmerzhafter vor als sonst. Vielleicht tat aber auch die Anstrengung vom Vortag ihr übriges dazu bei. Die ersten ca. 200 Meter bergab waren besonders mühsam wegen der Steine. Die Brennnessel konnte ich, da es nicht mehr dunkel war, deutlich sehen, anders als am Abend zuvor. Es folgte Asphalt und die Brücke über die Bahn, die dann folgende Treppe mit sehr "typisch Tessiner" Kopfsteinpflaster empfand ich als unangenehm.

Dann aber blieb ich in der Ebene, als ich den Seedamm überquerte. Bevor mein Zug fuhr, ging ich noch durch den Ortskern von Melide und zum Seeufer. Nur wenige Leute waren zu so "unchristlicher" Zeit an diesem doch recht kühlen Sonntagmorgen unterwegs. Und keiner interessierte sich für meine Füße. Mit der S-Bahn (TILO) fuhr ich nach Biasca, hier sollte ein "Pufferküsser-Festival" (125 Jahre Gotthard) stattfinden. Da dort der Bahnhof unmittelbar neben einer Bergkette liegt, erreicht ihn die Sonne erst relativ spät. Daher war es auch noch recht kühl, als ich die Bahn verließ. Zu diesem Zeitpunkt war außer mir keiner barfuß. Bei den anderen Leuten fiel mir auf, daß diejenigen, die von Norden her anreisten, deutlich winterlicher gekleidet waren als die von Süden kamen. Demnach war das Wetter auf der Alpennordseite kälter als im Tessin. Die aus Norden anreisten, trugen nicht selten geschlossene Schuhe, während die aus Süden oft Sandalen trugen. Da es aber noch recht frisch war, hatten viele noch Wollpullover an, also Kleidungsstücke, die man bei einbrechender Hitze schnell entfernen kann.

In Biasca fand in einem Lokschuppen um 10 Uhr die Radio-Talkshow "Persönlich" (auf deutsch) statt, ich wollte mir die Live-Übertragung auch anhören. Würde man mich barfuß reinlassen? Vor dem Gebäude waren Bahnpolizisten postiert. Aber sie standen nur dort, niemand wurde kontrolliert, auch ich nicht. Es sollte neben der Besitzerin eines Tessiner Steinunternehmens auch der SBB-Chef Andreas Meyer interviewt werden, also sozusagen der "Schweizerische Mehdorn". Lustig fand ich, daß die Moderatorin vor Beginn der Sendung befahl, wo die Zuschauer zu klatschen hatten. Ich klatschte übrigens auch nur mit den Händen, nicht zusätzlich mit den Füßen, dafür bin ich zu unsportlich, ich wollte mir ja auch keine Schmerzen zufügen wie "Butler James" bei Hacken zusammenknallen in "Dinner for One"!

Der SBB-Chef machte auf mich einen sympathischen Eindruck. Es erschien auch nicht im Nadelstreifenanzug, sondern ohne Krawatte (aber in langen Hosen und mit Schuhen). Von seinem Sitzplatz war es sicher möglich zu erkennen, daß ich keine Schuhe trug. Aber er starrte nicht in meine Richtung. Und wenn er es mitgekriegt haben sollte, dann wird es für ihn sicher kein Grund sein, ein Barfußverbot in die Beförderungsbedingungen der SBB einzubauen. Von den erwachsenen Zuschauern interessierte sich auch keiner für meine Barfüßigkeit, nur von den Kindern starrten einige auf meine Füße, darunter auch zwei Mädchen und ein Junge, die selber mit 3/4-Hosen und Sandalen (die Mädchen mit, der Junge ohne Socken) nicht gerade winterlich gekleidet waren und manchmal sich von den Sitzen erhoben und taten, als ob sie dort zu Hause waren. Kein Wunder, es waren, wie sich später herausstellte, die Kinder des SBB-Chefs.

Gegen 11 Uhr war die Sendung vorbei. Mittlerweile war die Sonne hinter dem Berg hervorgekommen und es war glühend heiß geworden, so heiß, daß ich das Träger-T-Shirt im Rucksack verschwinden lassen mußte. Die Wege zwischen den Gleisen empfand ich in Biasca als weniger barfußfreundlich als tags zuvor in Erstfeld. Beide Bahnhöfe liegen in einem Tal, aber in Biasca dürfte es deutlich und weniger feucht sein, so daß Moose in Biasca weniger Chancen haben zum Überleben. Auch mußte man in Biasca mehr auf Unregelmäßigkeiten achten.

Ich nutzte auch die Möglichkeit, eine in mehreren Wagen aufgebaute Schulungseinrichtung zu besichtigen. Dort werde normalerweise Schulklassen durchgeführt, denen erzählt wird, wie man sich in Zügen zu verhalten hat und wie nicht. Es ging um Vandalismus, Gewalt gegen andere Fahrgäste, Schwarzfahren, Vermüllung, unerlaubtes Rauchen. Mit keinem Wort wurde erwähnt, daß das barfüßige Benutzen von Bahneinrichtungen unanständig wäre. Der Mann der den Vortrag (auf deutsch) hielt, nahm auch keinen Anstoß an meiner Aufmachung.

Auch erfuhr ich, daß die Schweizer Bahnpolizei keine Schußwaffen trägt. Gut zu wissen. Wenn mich also in Schweizer Bahneinrichtungen die Bahnpolizisten kontrollieren wollen, etwa weil ich barfuß (und möglicherweise in Kombination mit kurzen Hosen und dann noch außerhalb des Hochsommers) mit dem Zug fahre, dann kann ich mich durch Davonlaufen der Kontrolle entziehen, ohne Gefahr zu laufen, daß man auf mich schießt. Anders als in deutschen Bahnhöfen, wo die Bundespolizei das Sagen hat. Diese trägt Schußwaffen und ist sehr wohl berechtigt, durch Schußwaffengebrauch eine "verdächtige Person" an der Flucht zu hindern. Zwar grenzt es an Unverhältnismäßigkeit, einen Menschen der nichts anderes getan hat außer daß er barfuß ist und für die Jahreszeit zu leicht gekleidet ist, gleich zu schießen, wenn er davonrennt. Aber mit großer Wahrscheinlichkeit würde nach einer Untersuchung es immer als "bedauerlicher Zwischenfall" abgetan werden, selbst wenn die Schüsse tödlich waren.

Gab es andere Barfüßer auf dem Bahnfestival? Gerade zwei kleine Kinder trugen keine Schuhe, das eine wurde vom Vater am Tragegurt getragen, das andere (unabhängig davon) von der Mutter in der Kinderkarre gefahren . Dann befindet sich unmittelbar neben dem Bahnhof ein Wasserfall. Dort, wo das Wasser sich sammelt, spielten einige Kinder barfuß, hatten jedoch Schuhe dabei.

Als ich hinterher noch durch das Städtchen ging, vorbei an den beiden auffälligen Kirchen, sah ich keine Barfüßer, erst wieder dort, bei den drei Brücken (Eisenbahnbrücke, heutige Straßenbrücke, alte Steinbrücke mit Radweg), wo ich noch einige Zeit am Fluß verbrachte, waren Leute in Badekleidung. Zum Schwimmen ist der Fluß freilich zu flach, aber neben steinigen Flächen gibt es auch ein paar Flächen aus feinstem Sand.

Gegen 18.15 Uhr verließ ich wieder Biasca mit dem Zug, der mich ohne Umsteigen nach Zofingen brachte. Im Zug waren einige Fahrgäste barfuß, jedoch hatte sie Schuhe dabei, die sie sofort wieder anzogen, wenn sie sich vom Platz erhoben (es waren also "unechte Barfüßer" nach der "Ratinger Definition", nach "Badener Art" wurden sie ja im anderen Zusammenhang gebraucht). Als der Zug die Alpennordseite erreichte (dort war es bewölkt und deutlich kälter), wurden plötzlich "Wintersachen" hervorgekramt: Wollpullover oder Jacken wurden angezogen, Trainingshosen über kurze Radlerhosen, Zip-off-Hosen wurde auf maximale Länge gebracht, und diejenigen, die bisherigen "unechten Barfüßer" zogen Socken über. Was lästere ich da überhaupt? Ich war doch selbst nicht besser. Erst auf der Alpennordseite hatte ich registriert, daß ich bisher "vergessen" hatte, mir ein T-Shirt überzuziehen, das holte ich jetzt nach.

Ein komplett barfüßiges Wochenende ging vorbei, und das überwiegend auf "Off-topic-Gelände". Ich habe den Eindruck, daß auf "Pufferküsser-Festivals" die Menschen im allgemeinen toleranter gegenüber Barfüßern sind als anderswo. Wer dorthin geht, den interessieren die Fahrzeuge usw., nicht die Fußbekleidung der anderen.

Schöne Grüße

Michael aus Zofingen


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