Barfuß, Kreativität & Aufgeschlossenheit (Hobby? Barfuß! 2)

Jay, Stammposter, Thursday, 23.08.2007, 06:17 (vor 6239 Tagen) @ Descalzar

Hi,
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Auch ich bin der Meinung, daß Kreativität und Barfuß einhergehen. Natürlich gibt es auch Menschen die auch ohne barfuß zu laufen recht kreativ sind, aber am letzten WE konnte ich wieder einmal feststellen, daß grad Menschen, die Barfuß als etwas Natürliches ansehen, sehr interessant und kreativ sind.

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Hi Descalzar,
was man jetzt grad' nicht weiß: Bist du am letzten WE Menschen begegnet, die selber BF liefen - es gibt aber auch (zur großen Erleichterung von unsereins) genug Beschuhte, die BF ganz nüchtern als etwas gleichermaßen Natürliches ansehen wie ein kurzärmeliges Hemd oder einen Pullover mit hochgekrempelten Ärmeln. Wäre ich jetzt industrielle Führungskraft wie einst, müßte ich Sätze wie

Auch wenn man nur in deren Nähe ist, merkt man daß man allein durch deren Anwesenheit ungemein aufgebaut wird.

eigentlich mit Besorgnis vernehmen. Verstrahlt man denn eine Psycho-Aura, ohne die die Menschen herum - seien sie nun barfüßig oder nicht - sozusagen an geistigem Vitaminmangel leiden, gehandicapt wären? WAS wird denn psychodimensional vermittelt? Die Beruhigung, daß es Gleichgesinnte gibt? Das Feeling der Sicherheit, daß man beim Chef, dem BF wurscht ist, auf menschliche Geborgenheit setzen kann? Aufgrund meiner industriellen Führungspraxis ist für mich der Satz des einstigen indischen Wirtschafts-Nobelpreiskandidaten C. K. Prahalad erwiesen: Kreativität gedeiht nur in einer angstfreien Atmosphäre.

Wichtig ist: Man lasse die Menschen SIE SELBER sein. Sie sind mit ihren Aufgaben belastet genug. Wenn ich bei strenger winterlicher Kälte mein Auto anlassen will, erschwere ich das nicht dadurch, daß ich auch noch Fernlicht & Heckscheibenheizung einschalte. Bei einem 'Vertriebsbeauftragten im Außendienst' mag das etwas anderes sein - der braucht seinen beschlipsten Nadelstreifenanzug samt Schuhen als Werkzeug, um die Kundschaft psychologisch zu manipulieren - auf daß sie auf dieses "Seriositätssignal" 'reinfalle. Selber schuld. Nie ließ sie sich besser etwas "andrehen" als mit diesem Tool.

Zuerst nahm mich mein letzter Chef im Angestelltenverhältnis, Jürgen Kern, auf die Seite & versuchte es im "Guten" mit mir. Er sprach: "Sagen Sie mal! Sie sind Bereichsleiter. In der Jeans,...barfuß [er brachte das Wort kaum über die Lippen]...& mit diesem Fetzen am Leib [gemeint war mein T-Shirt], das können Sie doch nicht machen, das geht doch nicht! Wenn DAS Kunden sehen! Ich erwarte von Ihnen, daß sich das ändert. Arbeiten Sie mal an sich."
Ich entgegnete, daß wohl kaum Chance bestünde, daß die Kundschaft jemals das Innere von Forschung & Entwicklung zu Gesicht bekäme. Die fehlende Fähigkeit, Wesentliches von Unwesentlichem zu unterscheiden, sei das sicherste Kennzeichen von mangelndem oder fehlendem Durchblick. Durch diesen ganzen Etikettekram werde der Job meiner Unterstellten & von mir noch anstrengender, er steigere keinesfalls die Leistung. Unsere Geräte würden dadurch nicht besser. Ich zitierte seinen langjährigen Amtsvorgänger: "Wir wollen, daß Sie sich bei uns wohlfühlen."
Dann machte er sich über meinen Führungsstil her. "Sie glauben doch nicht, daß Sie von 'Ihren' Leuten akzeptiert werden, wenn Sie SO 'rumlaufen wie jetzt!?" Meine Reaktion war höfliches Lachen. "Da machen Sie sich 'mal keine Sorgen. Als Bereichsleiter muß ich überlegene technische Kompetenz zur Verfügung stellen. Wie halt eben in einer TV-Werkstatt der Meister einen Fernseher reparieren kann, den der Geselle nicht reparieren kann." Der Rest sei Koordination der Abteilungsarbeit mit anderen Bereichen wie Produktionsüberführung, Vertrieb etc. sowie die Vertretung dieser Gruppe nach außen hin. Er bezweifelte, daß ich insbesondere Letzteres könne. Deswegen & wg. meinem Äußeren sei ich in letzter Wirklichkeit als Führungskraft von meinen Untergebenen nicht akzeptiert.

Tags darauf kam die Polizei in unser Building. Mit einem unserer Firmenwägen war in der Stadt wieder 'mal über 100 gefahren worden & "sie" 'ermittelten' jetzt mit ihrem Blitzfoto. Der Eintrag im Fahrtenbuch war unleserlich; eine frisch eingestellte Sekretärinnen-Vollidiotin half "denen" auch noch, herauszufinden, daß es sich um eine Einkaufsfahrt dringend benötigter Elektronikteile nach München handelte, die ich veranlaßt hatte. Das Telefon auf meinem Schreibtisch klingelte:
"Herr NN, die Polizei ist da & möchte mit Ihnen sprechen..."
[Ich:] "In welcher Angelegenheit? Ich hab' mit denen keinen Termin gemacht..."
Es ward' keine Ruhe. Die Beamten staunten nicht schlecht, was ihnen da für ein Typ im Besprechungszimmer entgegentrat. Ein weißer Labormantel wie ein Arzt. Ein bläulich-türkisfarbenes T-Shirt, & unten leuchtete eine blaue Jeans mit nackten Füßen heraus. Mein Bart war bald wieder 'mal zur Rasur fällig. Das war also der Chef, den sie sprechen wollten.
"Wer ist da gefahren?!"
"Weiß ich nicht."
"Ah Kruzifix nocheinmal [BRÜLL BRÜLL], Sie werden doch verdammt noch 'mal wissen, wer von Ihrer Abteilung da gefahren ist! Wenn Sie hier Straftäter decken, dann können´ S was erleben!!! Was sind denn DAS für Zustände hier 'drin! Schauen Sie sich das Foto gefälligst genau an!"
Sie sahen mir mit strengem Blick ins Gesicht, ob ich vielleicht selbst gefahren sei. Ich wimmelte einfach ab: "Meine Jungs sind sehr gestreßt & haben das wahrscheinlich an irgendeinen Kollegen irgendwo weiterdelegiert, der grad' etwas mehr Luft hatte...das kommt hier öfters vor..."
Toll. 1640 Mitarbeiter gesichtsmäßig screenen. Als Chef werd' ich grad' ein Interesse daran haben, daß mein Mitarbeiter 1 Stunde früher aufstehen kann, bloß weil er seinen Schein für ein paar Monate verliert....(!) Wo bin ich denn. Ich glaub', ich spinn'. Ich stelle mich auch schützend vor meine Leute. Und so hatte ich als barfüßiger Chef keinerlei Acceptance-Probleme im nichttechnischen Bereich, wie Herr Kern berfürchtete.

Die andere Sache, die einen günstigen Nährboden für Kreativität bereitet, ist eine gewisse Aufgeschlossenheit, wenn man BF als etwas Natürliches betrachtet oder selbst BF geht. Eine Raumpflegerin ("ist schon krass, barfuß in einem Labor mit dem Hochspannungsblitzpfeil-Warnschild") fragte mich einmal, ob ich ihr erklären könnte, was in "meinen" Räumlichkeiten mit ihrem bizarr-technischen Interieur eigentlich gemacht werde. Ich hatte situativ etwas Glück & es gelang mir einigermaßen allgemeinverständlich. Seither grüßte mich das Reinigungspersonal schon von weitem freundlich, was ich ebenso freundlich erwiderte. Es hieß unter den Bodenpflegern & Fensterputzern: "Der, der in dem weißen Mantel barfuß geht, ist echt ein Entwickler zum Anfassen."
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Das war jetzt nur ein kurzes Statement, weil mir im Moment Zeit und Konzentration fehlen, um dieses Thema noch weiter auszuführen.

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Fragt sich, ob das in einer vernünftigen Beitragslänge überhaupt möglich ist, ich konnte ja selbst nur auf die Peripherie, d. h. Schaffung günstiger peripherer Umstände zur Entfaltung von Kreativität eingehen. Der Focus der Sache [BF beflügelt Kreativität] dürfte gemein schwierig darzustellen sein. Ferner: Wenn man beruflich stark gestreßt ist, ist man für´s Schreiben in diesem Forum überhaupt nicht philosophisch 'drauf. So mußte ich mir mit lange zurückliegenden Alltagsgeschichten über die Runden helfen.
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Gruß und Fuß,
Descalzar

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Ebenso von mir an den kreativen Kollegen, der sein Wohnungsinterieur teilweise selbst zimmert (mir fehlen die handwerklichen Fähigkeiten dazu). Ein weiterer Beweis für die Sache ist Engel´s fast schon wie ein Gesamtkunstwerk eingerichtetes Tipi (sein 2twohnsitz), das bisher jeden beeindruckt hat, der es sehen durfte. Trotzdem hat diese Innenarchitektur nicht im geringsten das Charakteristikum, daß die einzelnen Objekte zentimetergenau an ihrem Platz bleiben müssen, wie man vielleicht mit "Gesamtkunstwerk" assoziieren könnte...
Jay


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