Verlorengegangener Standard & barfüßige Ehrgeizprofile (Hobby? Barfuß! 2)

Markus U., Stammposter, Monday, 18.06.2007, 08:09 (vor 6305 Tagen) @ Jay

Hi Jay!

ich weiß, daß ich jetzt möglicherweise verlacht werde, aber BF-Alltagstauglichkeit ist meines Erachtens auch etwas sehr Relatives & Ansichtssache. So fordere ich von mir nicht, einen BFigen Sprint über 250 m Gleisbettschotter mit unbewegtem Gesicht ablaufen zu können (wann kommt denn das im Leben situativ vor?), weitaus stärker stört mich schon meine ausgesprochen geringe Hitzebeständigkeit, sodaß ich - so, wie sich der Sommer voraussichtlich entwickeln wird - wie einst in Amerika bei prallem Sonnenschein im Zeitraum von 12 - 15 h zugegebenermaßen auf eine Sohlen-Wärmeisolation durch irgendwelche MinimalSTschuhe angewiesen sein werde.

Auch Temperaturbeständigkeit (Hitze & Kälte)kann man barfuß trainieren, und zwar nach den allgemeinen Regeln: Man finde die Grenzen der eigenen Belastbarkeit heraus und verschiebe diese allmählich. Bezogen aufs barfüßige Hitzetraining heißt das, daß Du, wenn der Tag heiß & sonnig zu werden verspricht, so zeitig rausgehst, daß der Boden für Dich noch gut begehbar ist, und dann auf diesem Boden bleibst, auch wenn es unangenehm wird. Zwinge Dich, langsam zu gehen, und bleibe an einer roten Ampel möglichst reglos stehen. Wenn Du in der Stadt unterwegs bist, ist es ja jederzeit möglich, in den Schatten zu wechseln, wenn der Boden wirklich unerträglich heiß wird. Ein sehr häufig vorkommender Fehler beim Training besteht in mangelnder Geduld, welche sich darin zeigt, daß man sich zu früh zu großen Belastungen aussetzt und dann zwangsläufig scheitern muß. Gerade im langsamen und schrittweisen, aber kontinuierlichen Verschieben der eigenen Grenzen liegt das Geheimnis des Erfolges, also etwa darin, den heißen bzw. sich erwärmenden Boden heute etwas länger ausgehalten zu haben als sonst. Günstig sind auch positive Verstärker wie z. B. ein barfüßiger Begleiter, der tainierter ist als man selbst und auf dezente Weise Mut macht, oder indem man die Situation positiv deutet ("Heute ist der Boden schön warm, so daß ich keine kalten Füße bekomme"). Kältebeständigkeit läßt sich analog trainieren; hier ist das Training sogar noch einfacher, denn das ganze "Geheimnis" besteht darin, im Herbst mit dem Barfußlaufen nicht aufzuhören und es im Winter fortzusetzen, wobei man sich auch von "weißer Scheiße" nicht schrekken läßt und in dieser seine nackten Fußabdrükke hinterläßt - oder eben statt Stiefeln die geliebten "Badeklapperln" oder auch Sabots trägt, natürlich ohne Sokken.

Übrigens biete ich jedem im Forum folgende Wette an:
Kriterien: Freisinger Innenstadt, Sommer, praktisch wolkenloser Himmel, T außen >= 27° C, Zeitraum: 13 - 15 h. Es ist die Untere Hauptstr., beginnend ab Heiliggeistgasse über den Marienplatz bis Ende Obere Hauptstr. (Anfang der Wippenhauser Str.) und zurück auf der sonnenbeschienenen Seite auf dem dunkelrotbraunen Kachelpflaster barfuß in normaler Gehtechnik abzuWANDERN. Laufen, Hüpfen, "Tapsen" etc. sowie jede chemische Imprägnierung der Fußsohlen sind verboten. Danach wird 1/4 h auf normalem Terrain weitergegangen.
Behauptung: Undurchführbar, ohne danach [Beobachtungszeitraum: 2 h] Brandblasen aufzufinden & auch zu spüren. Man zeige das Gegenteil.

Ich traue mir zu, der geforderten Leistung zumindest nahe zu kommen, wäe aber nicht bereit, zwei Stunden lang dauernd hin und her zu gehen, zumal ich mich auch wegen der Gefahr eines Sonnenbrandes nicht zu lange der prallen Sonne aussetze. Ich kann mir jedoch vorstellen, die beschriebene Strekke bei Temperaturen von 27° C bis 30° C in meinem gewöhnlichem Tempo, freilich recht zügigem Tempo abzugehen.

Für ungünstig halte ich, im Forum & anderswo lautstark zu verbreiten, daß Barfußlaufen ERLERNT werden müsse. Das schreckt u. U. Interessenten ab, die die Sache außerhalb der Privacy erstmalig ausprobieren wollen. Gleichwohl ist es aber auch erschreckend zu hören, daß es heutzutage Menschen geben soll, die tatsächlich außerhalb ihres Schlafzimmer-Teppichs nicht barfußlaufen KÖNNEN, das wäre dann tatsächlich ein verlorengegangener zivilisatorischer Standard (ebenso wie die weitreichende Tolerierung von Fußschäden bis hin zu bereits motorisch behindernder Wirkung).

Wenn dieses Forum über das barfußlaufen informieren soll, dann darf man auch nicht verschweigen, daß man es tatsächlich hart trainieren, oder wenn man so will, sogar ERLERNEN muß. Auch die kompetentesten Barfüßer wie etwa Engel, Manfred (Ten) oder Dominik R. haben ihre heutige Geländegängigkeit nicht auf einen Schlag, sondern nach und nach erworben. Es ist natürlich auch eine Frage des Ehrgeizes und der Bereitschaft zu trainieren. Je mehr man trainiert, desto rascher macht man auch Fortschritte. Und wenn man das Training nicht allzu verbissen betreibt und es, wie das z. B. bei Engel, der aufgrund seiner Lebensumstände mitunter große Strekken zu Fuß zurücklegen muß, der Fall ist, ganz zwanglos in seinen Alltag einbauen kann, dann macht man natürlich auch raschere Fortschritte als jemand, der nicht so häufig trainiert.
Daß viele Menschen außerhalb ihrer Wohnung und allenfalls noch des Strandes oder Freibades gar nicht barfuß laufen KÖNNEN, weil sie dann nur mehr mit schmerzverzerrtem Gesicht über den Boden staksen, ist zwar traurig, aber leider eine nicht selten zu beobachtende Tatsache und auch gar nicht verwunderlich, wenn man bedenkt, wie barfußentwöhnt ein durchschnittlicher Europäer heutzutage ist. Nähme man z. B. lästernden Jugendlichen ihre "Sneakers" mitsamt den Sokken oder Füßlingen weg und zwänge sie, barfuß heimzugehen, bliebe zumindest ein beträchtlicher Teil von ihnen auf der Strekke (gegeben sei eine Strekkenlänge von 3 km mittleren Schwierigkeitsgrades wie Kopfsteinpflaster, Waschbeton und Feinschotter).

Man sollte eigentlich erwarten, daß jeder normale gesunde Mensch Alltagshandlungen [BF aus dem Auto aussteigen, im Supermarkt einkaufen & wieder zurück] physisch ausführen kann (psychisch bekanntermaßen weit weniger). Wenn selbst das nicht mehr "geht" & womöglich förmlich geübt werden muß, ist das eindeutig eine "Behebung" eines 'zivilisatorisch' degenerierten Status.

Leider ist das bei manchen Menschen der Fall; denn manchen Menschen ist bereits grober Asphalt zu "pieksig", so daß sie nicht oder nur mit Schwierigkeiten darüber gehen können. Für die meisten Anfänger lassen sich Asphalt und Gehwegplatten jedoch gut bewältigen.

Ungewöhnliche BFige Fähigkeiten wird es immer geben, gelegentlich sind auch Tricks dabei. Soll man aber "ehrgeizmäßig" soweit gehen, schlimmstenfalls per Extremtraining mit dem indischen Yogi gleichzuziehen, der ja tatsächlich BF über glühende Kohlen gehen kann? Irgendwo ist für mich eine Vernunftgrenze erreicht, mir genügt es, problemlos den Weg vom einen Ende "meiner" Stadt zum anderen barfuß zurücklegen zu können.

Den Ehrgeiz, barfuß über glühende Kohlen zu laufen, habe ich nicht (wozu soll das gut sein?), aber meine "Geländegängigkeit" möchte ich durchaus weiter trainieren.

Dann gibt es auch noch Sachen, hinter denen gar kein Trick steckt. Vor kurzem waren wir [Markus U. & ich] im Deutschen Museum in München, welches in der Abteilung Starkstromtechnik eine wunderschöne Hochspannungsanlage mit eindrucksvollen Demonstrationsversuchen beherbergt. Ganz früher wurden bei den Vorführungen manchmal Besucher gefragt: "Wer traut sich freiwiliig, sich in die Faraday´sche Käfigkugel zu setzen & sich [SCHEINBAR, das wurde nicht gesagt] unter 160 000 Volt setzen zu lassen?" Ich hätte mich sofort gemeldet & sogar demonstrativ meine Zehchen von innen an das feinmaschige Metallgitter gesetzt. Nicht fachkundige Zuschauer hätten überproportional über die Sache "Barfuß" gestaunt...
Daher würde ich die beiden Ehrgeiz-Dimensionen "Kältefestigkeit" & "Geländegängigkeit" nicht unbedingt zum alleinigen Maß aller Dinge erheben, wenn es darum geht, den genauen Performance Level eines Premium Grade Barfüßers zu ermitteln. Dazu ist die Sache nämlich viel zu mannigfaltig, wie folgendes Beispiel zeigt:
Vor vielen Jahren flackte ich immer wieder mal im Wohnzimmer [frei, Eltern verreist] eines Freundes zusammen mit anderen Freunden 'rum, weil sich eben zum x-ten Mal eine spontane, wilde abendliche Party ergeben hatte. Wir lagen mehr auf dem Sofa als wir saßen, hatten i. d. R. unsere Füße auf dem sehr niedrigen Tisch, glotzten TV oder hörten plaudernd Musik, dabei wurden natürlich auch mächtig die Verdauungswege mit verdünntem C2H5OH* gespült. Aufgrund des kurzen zurückgelegten Weges in die Nachbarschaft waren meine Füße noch verhältnismäßig sauber. Es wäre nun ein reizvoller Partygag gewesen, mit den Zehen des einen Fußes eine Bierflasche am Hals zu umklammern, festzuhalten & mit dem anderen Fuß einen Kronkorken-Hebelöffner zu ergreifen & die Flasche zu öffnen. Ich konnte es jedenfalls nicht & kann es auch heute nicht; über so ein Kunststück würde eine contergangeschädigte Person mit verstümmelten Armen & Händen nur müde lächeln**.
Vor einigen Tagen hatten Leo, Markus U. & ich einen kurzen Abschnitt zum Gipfel eines Mini - Mount Everests zurückgelegt. Weitaus mehr als den ganzen Berg barfuß erklimmen zu können interessiert mich z. B., wie man einen Hubschrauber perfekt BF fliegt. Das dürfte nicht einfach sein, Markus & ich hatten im Deutschen Museum verschiedene Modelle besichtigt & dabei gesehen, daß deren Pedalerie sogar für Schuhträger recht ungünstig war, weil sie in allen Fällen nur aus rechtwinkling umgebogenen Metallstangen bestand.
Tatsächlich hab' ich ein ganz anderes BF-"Ehrgeizprofil". Wenn ich z. B. auf orthodoxe Theologie abfahren würde, würde ich meine Gehirnzellen solange auf Höchstleistung arbeiten lassen, bis ich einen Dreh gefunden hätte, die im Altarraum bestehende BF-Prohibition zu kippen, weil es einfach keinen vernünftigen Grund (gegeben durch Physik etc.) dafür gibt. Persönlich glaube ich, denselben Drang wie Michael aus Zofingen mit der Minimalkleidung bei niedrigen Temperaturen in anderer Ausführung zu haben: Vor Nobelrestaurants, Kultstätten etc. hab' ich eines mit Ex-Bundeskanzler Gerhard Schröder gemein, der einst am Gitterzaun des Bundeskanzleramts rüttelte: Ich will da rein, & zwar in meinem Standard-Outfit & barfuß! Kein Trick ist mir zu abgefeimt, um das jeweilige Ziel zu erreichen. Dieser Art ist in etwa MEIN Ehrgeiz, ich will ihn von der Dimension "BF & Gesellschaftliches" ebensowenig verabsolutieren, wie wohl mir Olympiaden in den beiden genannten Ehrgeizdimensionen [bei minus 70° C über die zugefrorene & zusätzlich mit Schottersplit überschüttete Beringstraße flott von Rußland nach Alaska gewandert] ebenfalls fremd sind.

Das letztgenannte Beispiel ist wohl allzu extrem, aber an einer barfüßigen Wallfahrt, die mehrere Tage dauert, oder etwas Vergleichbarem wie Engel's Wanderung entlang der Westfront des Ersten Weltkrieges tät ich gerne teilnehmen.

Barfüßige Sommergrüße,
Markus U.


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