Die Schuhkultur der Papalagis (Hobby? Barfuß! 2)

Eugen, Stammposter, Friday, 11.05.2007, 17:53 (vor 6343 Tagen) @ Mercator

Der Text ist lesenswert. Auch wenn sich inzwischen herausgestellt hat, dass er fiktional ist. "Ist's auch nicht wahr, so ist's doch gut gelogen..."
M.

Da dieser Text immer mal wieder hier im Forum auftaugt - einiges zur Erklärung: (siehe auch im Best of)

Die Reden des Südseehäuptlings Tuiavii aus Tiavea an seine
Stammesmitglieder
sind nicht "gelogen", sondern eine fiktive
Zivilisationskritik von ERICH SCHEURMANN an der europäischen
Gesellschaft vor dem ersten Weltkrieg.

Erich Scheurmann wurde 1878 in Hamburg geboren und
starb am 1957 in Armsfeld. Scheurmann war Maler,
Schriftsteller, Dramatiker, Märchenerzähler, beschäftigte sich mit
psychologischen Randgebieten, war Puppenspieler, Lehrer und Prediger.
Im Alter von neunzehn Jahren durchwanderte er ganz Deutschland (barfuß?). Seit
1903 lebte er auf der Halbinsel Höri/Bodensee, wo er mit Hermann Hesse
und anderen zivilisationsmüden Schriftstellern zusammentraf (1904-1907).

Mit einem Vorschuß seines Verleger fuhr er 1914 nach Samoa, wo er vom
Ausbruch des 1. Weltkriegs überrascht wurde (West-Samoa: deutsche
Kolonie von 1899 - 1915). Im Herbst 1915 verließ er Samoa und fuhr in
die USA, kam aber erst kurz vor Kriegsende 1918 nach Deutschland zurück.

Die Reden des Häuptlings Tuiavii wurden wohl zwischen 1915 und
1920 von Erich Scheurmann als Zivilisationskritik
zusammengestellt und in Buchform veröffentlicht. Was viele dabei
nicht bemerkten: Die Reden sind fiktive Reden -- sie sind somit
kein echter Erfahrungsbericht eines Südseebewohners,
der in Europa gereist war und seine Erlebnisse dann aufgeschrieben
hat, was man auch an einigen Stellen merkt (z.B. interne Kenntnisse
über deutsche Geschichte und alternative Medizin: Barfußlaufen ist
gesund (Kneipp!)). Scheurmann legte somit seine
Zivilisationskritik in genialer Weise in den Mund eines
Südseehäuptlings. Bemerkbar ist dabei auch seine Begabung als
Märchenerzähler und auch als Prediger.

Die Reden des Südseehäuptlings Tuiavii waren insbesondere
zwischen 1970 und 1980 Kult (was ich auch noch erlebt habe).
Das Wort Papalagi (gesprochen Papalangi) bedeutet: "Der Fremde", wörtlich
jedoch: der "Himmelsdurchbrecher." Denn der erste weiße Missionar,
der in Samoa landete, kam in einem Segelschiff. Die Eingeborenen
hielten dieses weiße Segel aus der Ferne für ein Loch im Himmel, durch
das der Weiße zu Ihnen kam - er "durchbrach" sozusagen den Himmel.

Außerdem muß man wissen, dass um 1900 eine erste sehr radikale
"Jugendbewegung" (Hippiekultur) entstanden ist - mit dem Ziel einer
Reform aller Lebensbereiche (z.B. Reformkleider für Frauen ohne
Korsetts; auch ohne BH!) - übrig geblieben ist heutzutage nur noch
der Name "Reformhaus". Zudem gab es den Jugendstil, definiert durch
die Zeitschrift "Die Jugend". Es entstand die Bewegung der
"Wandervögel", die mit Reformkleidern, einer Klamphe (Gitarre) und
teilweise barfuß durch die Lande zogen.

Die damaligen Gedanken der "Jugendbewegten" vor 1914 kann man auch
schön an diesem Textausschnitt sehen:

Weil nun die Leiber der Frauen und Mädchen so stark bedeckt sind,
tragen die Männer und Jünglinge ein großes Verlangen, ihr Fleisch zu
sehen; wie dies auch natürlich ist. Sie denken bei Tag und bei Nacht
daran und sprechen viel von den Körperformen der Frauen und Mädchen
und immer so, als ob das, was natürlich und schön ist, eine große
Sünde sei und nur im dunkelsten Schatten geschehen dürfe. Wenn sie das
Fleisch offen sehen lassen würden, möchten sie ihre Gedanken mehr an
andere Dinge geben, und ihre Augen würden nicht schielen, und ihr Mund
würde nicht lüsterne Worte sagen, wenn sie einem Mädchen begegnen.
Aber das Fleisch ist ja Sünde, ist vom Aitu ( Teufel). Gibt es ein
törichteres Denken, liebe Brüder? - Wenn man den Worten des Weißen
glauben könnte, möchte man wohl mit ihm wünschen, unser Fleisch sei
lieber hart wie das Gestein der Lava und ohne seine schöne Wärme, die
von Innen kommt. Noch aber wollen wir uns freuen, daß unser Fleisch
mit der Sonne sprechen kann, daß wir unsere Beine schwingen können wie
das wilde Pferd, weil kein Lendentuch sie bindet und keine Fußhaut sie
beschwert und wir nicht achtgeben müssen, daß unsere Bedeckung vom
Kopfe fällt. Laßt uns freuen an der Jungfrau, die schön von Leib ist
und ihre Glieder zeigt in Sonne und Mondenlicht. Töricht, blind, ohne
Sinn für rechte Freude ist der Weiße, der sich so stark verhüllen muß,
um ohne Scham zu sein.

Es ging Scheurmann um eine ganzheitliche Sichtweise, also nicht NUR
um das Barfußlaufen. Leider ist diese "Weltsicht" zu naiv, zu
idealistisch. Sie wird wohl für immer eine UTOPIA bleiben, wie im
politisch - philosophischen Roman von Thomas More aus dem Jahre 1516.

Zumindest kein Ekel und Scham vor nackten Füßen wünscht

Eugen.


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