Hi Guenther,
bei allem Bemühen um kurze Schreibe ist es wieder 'mal - aufgrund deines sehr klugen & konzentrierte Information be-inhaltenden Beitrages, auf den ich mich im folgenden fragmentiert beziehe - absolut unmöglich, kurz zu antworten.
Die Antithese zwischen einerseits "Barfüßigkeit und freiem Denken" und andererseits "Latein und Zwangsbeschuhung", die aus Deiner Reimprosa hervorgeht, finde ich dann doch etwas subjektiv und einseitig, ein Klischee wie etwa das des barfußlaufenden Ökos auf dem Alternativbauernhof, der alle moderne Technik ablehnt.
Einerseits deutest Du unschöne persönliche Erfahrungen mit dem Schulfach an...
Nun, im wesentlichen war´s "biografisch-historisch" so: Als ich mich im Alter von 12 Jahren zwischen Latein und Französisch als 2. Fremdsprache entscheiden mußte, hatte ich einen mehrmonatigen Spleen, Chemie studieren zu wollen & meine Eltern hielten Latein für geeigneter. Meine ursprünglich durchschnittlichen Leistungen in diesem Fach fielen bis zur 10. Klasse in den Keller. Wie bereits berichtet, war das an unserem Gymnasium bestehende BF-Verbot in der Praxis aufgeweicht & zwar "fächerspezifisch", Lehrer antiker, toter Sprachen & Religion (auch der Schulleiter war Altphilologe) bestanden mit Zero Tolerance auf dessen Einhaltung, wohl als Respektsbezeugung vor der Autorität. Soviel zu "Latein & Zwangsbeschuhung", ich glaube auch nicht, daß die Klasse & ich in diesem Fach bessere Leistungen erbracht hätten, hätten uns die Lehrer BF im Unterricht sitzen lassen. Natürlich hat die von dir erwähnte Antithese keine reale oder philosophische Grundlage, man kann lateinische Texte garantiert BF genausogut oder eben doch noch etwas besser, weil entspannter etc. lesen, übersetzen, sinngemäß verstehen & interpretieren. Wenn aus meinem "Gedicht" eine solche Antithese herauslesbar war, war sie relativ psychodimensional aus der Sicht von Pennälern: Latein war kein angenehmes, einfaches Fach, man mußte sich damit herumschlagen, um in der Schullaufbahn weiterkommen zu können, & das mit besonderer Vehemenz durchgesetzte BF-Verbot stieß einigen anderen & mir "sozusagen für dieses Fach typisch & AUFFÄLLIG" zusätzlich sauer auf. Das war es, was ausgedrückt werden sollte, mehr nicht. Eine wirkliche Antithese wäre allenfalls dann (& noch dazu unscharf) begründet gewesen, hätte es im alten Rom z. B. definitiv ein BF-Verbot in der Öffentlichkeit gegeben.
Jedoch muß ich sagen - & das ist der Grund, weshalb ich mich so vehement für ein Off-Topic-Ausweichforum einsetze - BF hat insbesondere in der Neuzeit 'was mit einer spezifischen, sehr freien Denkungsart und Nichtanerkennung von Autoritäten [als genau das empfinden sie es] zu tun. Der Satz: Free your feet & your mind will follow, oft zitiert von Descalzar (er wünschte sich das z. B. [siehe Archiv] als lateinische Übersetzung als Heckschriftzug auf seinem Auto) hat eine mächtige Grundlage. Bei mir heißt das: Es kommt mir so vor, daß Latein überhaupt nicht = Latein ist. Betet z. B. die römisch-katholische Kirche das Glaubensbekenntnis auf Lateinisch, ist das weitaus "sequenziell - direktverständlicher" als das Wortstellungschaos eines Cäsar "Vom gallischen Krieg". Ja, ich behaupte: Es gibt sie, die typische Barfuß-Denke. Man sollte einmal genau hinterfragen, ob solche "ewiggültigen" literarischen Ergüsse wirklich solche eines militärischen Genies sind. Statt genauer deduktiver, systematischer Taktik- & Strategie-Entwicklungen (Frontverlauf/Formationen, topologische Geländeverhältnisse [bei dieser betont "konventionellen" Kriegsführung wichtig] anhand von Kartenmaterial, exakte zahlenmäßige Kräfteverhältnisse, Waffentechnik des Gegners, im Idealfall ausspionierter Angriffsplan) wirkt dieses Werk eher wie eine arrogante, alzheimerische Selbstdarstellung ("ich kam, glotzte & siegte"), unbrauchbar auf jeder Militärakademie. Bei mir hat sich (speziell seit Beginn meiner 2., eigentlichen BF-biografischen "Ära") der Eindruck breitgemacht, als ob die deutsche "offizielle" Kultur allem schaudernden Respekt entgegenbringt, wenn es nur alt ist. So wird jeder noch so dilettantisch geschnitzte, mühelos nachbaubare Holzspan in irgendeinem Gemäuer (sehr im Unterschied z. B. zu Altargemälden in den Kirchen meines Wohnsitzes, die ich hinten & vorn nicht nachmalen kann) zum unwiderbringlichen Kunstwerk erklärt, dem Ehrfurcht gezollt werden muß, manchmal z. B. durch nichtBFiges Betreten.
...andererseits erinnere mich an Beiträge von Dir, in der Du das Phänomen der "phobieartigen Abneigung gegen Barfüßigkeit" krampfhaft zu latinisieren versuchst - obwohl man das Phänomen doch eigentlich auch gut ohne Latein verstehen kann. Wenn Dir das Fach in Deiner Schulzeit nichts gebracht hat, warum setzt Du Dich denn noch bis heute damit noch so intensiv auseinander? Da erscheint mir Leos Reaktion "Stowasser in den Eimer" wesentlich naheliegender.
Der Begriff "PNP" wurde nicht von mir, sondern von Ralf(BN) in Analogie zu den typisch griechisch-lateinischen Wortschöpfungen psychopathologisch-affektiver Syndrome (Haßausbrüche, Schreikrämpfe, Paranoia, hier, wenn BFige Person gesichtet wird) vorgeschlagen und ich stimmte begeistert zu. Vorher trat (siehe Archiv) der neue amerikanische Mensch auf, für den lt. Umfragen der Schuh das wichtigste Kleidungsstück ist, und Tiziana brachte mir den korrekten Gebrauch der lateinischen Termini "Homo sapiens..." bei (diese lateinischen Namen sind in der Anthropologie üblich, warum auch immer) - ich bin unschuldig. Dennoch wirkt hier wieder das eben beschriebene Psycho-Flair, Latein ist chic & imponiert oft - genau wie der mit Kratwatte & Schuhwerk versehene Herren-Nadelstreifenanzug. Der Medizin würde dieses Psycho-Flair als gehobene Wissenschaft der Gebildeten völlig abhanden kommen, würde man z. B. die einige 1000 bis einige 10 000 "greifbaren" Einzelteile des menschlichen Körpers mit Indexteileummern international klassifizieren wie beim Auto. Operieren & therapieren ließe sich bei dieser seit einigen Jahr100 000en unveränderten Konstruktion genauso - wenn auch die beschreibende Funktion sprachlicher Namen fehlt. Der Trend geht aber auch in der Medizin - wie bei allen hochkomplexen Systemen - dahin, gemäß Werner Heisenberg´s Denkökonomie funktionelle Wortkürzel einzuführen - man könnte also (pures Sprachjux-Beispiel) z. B. arterielles Blut OTFE (Oxygene Transmission Fluid Enriched) nennen.
Sind im übrigen nicht eigentlich technische Berufe (die ja, sofern sie nicht völlig theoretisch bleiben, oft Sicherheitsvorschriften mit sich bringen) ihrem Wesen nach viel "barfußfeindlicher" als Beschäftigungen mit einer Sprache?
Ja & Nein. Die Beschäftigung mit einer Sprache vollzieht sich auch auf hochprofessioneller Ebene wohl ausnahmslos in einem Büro- & Bibliothekenambiente, während das in Technik & Naturwissenschaft mannigfaltig sein kann. Labors & Werkstätten können höchst unterschiedlichen "Charakter" haben. So wird es z. B. in einer mechanischen Werkstatt, die Metallteile für Geräte-Prototypen herstellt, schnell lästig, ständig auf diese winzigen, wie gekräuseltes Christbaumlametta aussehenden nichtentgrateten Dinger am Boden achten zu müssen, die beim Betreten tiefrote Füße ergeben. Auf der anderen Seite ist mir aber nicht klar, wer eigentlich Michael aus Zofingen im Chemielabor Sicherheitsschuhe vorschreiben will & weshalb. Gewiß, Gefäße können 'runterfallen & die Splitter werden per nassem Lappen & Staubsauger nicht notwendigerweise vollständig entfernt, auch wird man situativ in den seltensten Fällen seine Arbeit unterbrechen können, um auch die feinsten Mikrosplitter zu beseitigen. Weshalb es aber nicht Flipflops oder andere Minimalschuhe "tun", bleibt mysteriös. Das Geschehen in Chemielabors spielt sich meist auf keramikgekachelten Tischen in Brust- & Augenhöhe ab, "zerreißt" es irgendwas, sind vor allem die Augen gefährdet & der V-förmige Brustausschnitt des weißen Labormantels, der die übrige Kleidung schützen soll, läßt konzentrierten Säure- & Laugenspritzern freie Bahn, Hemd & ggf. Krawatte sind sofort penetriert.
Außerdem: Wir Produktentwickler in der Industrie, sei es in Chemie oder Elektronik, sind die technisch-wissenschaftliche Elite des Unternehmens, da keiner auch nur annähernd so genau die neuentstehenden Geräte bzw. Produkte kennt. Genauso, wie niemand außer uns wirklich genau Bescheid weiß, wo jetzt 'grade im Labor Hochspannung etc. auftreten.
Tatsächlich sind mir Schuhe selbst im Militärelektroniklabor unbekannt. Sie würden auch nichts nutzen, da sie spätenstens von Spannungen ab 20 kV einfach durchschlagen werden & vor HF-, Mikrowellenenenergie, Röntgenstrahlung nicht im geringsten schützen.
Und weitere, praktisch unüberwindliche Hürden hätte ein von einer firmenexternen Instanz ausgesprochenes BF-Verbot für´s Eletroniklabor schon in meiner Angestelltenzeit bei KONTRON überwinden müssen: Nur 2 Personen waren mir gegenüber überhaupt 'weisungsbefugt' (so hieß das ganz offiziell & schön festgelegt in Hierarchie & "Organigramm"): Der Gesamt-Forschungs- & Entwicklungschef (meinen langjährigen 1. intereressierte nur Geld & daß es die von seiner Mannschaft entwickelten Produkte für die Fa. erzeugten) und die GL. Der Oberboß als Boß meines Chefs ließ sich weder dazu herab, jemals im Technikgebäudekomplex überhaupt zu erscheinen, noch bei sommerlichen Gesamt-Feiern BFigkeit zu rügen, tatsächlich signalisierte er per Anheben von Kopf & Nase, "über" so etwas zu stehen.
Was für Arbeitsschutz & Sicherheit zuständige Organisationen anbelangt, so ist es ein Charakteristikum, daß sie sich so gut wie stets nur für Produktions- & Lagerbereiche interessieren. Gerangel ("Zutritt verlangt") gab´s nach meinem Kenntnisstand noch nie - bis zu meinem letzten Chef & Rausschmeißer Jürgen Kern, der damit Industriespionage Tür & Tor öffnete, war(en) (& sind) F & E total verschlossene Geheimhaltungsabteilung(en), in die absolut niemand 'reinkommt.
Insgesamt würde ich sagen, daß es vom geistig-intellektuellen Inhalt her KEINE Tätigkeit gibt, die BF-freundlicher oder -feindlicher ist. Man kann letzten Endes alles BF tun, aber es gibt natürlich situative Unmöglichkeiten, etwa das Herumsteigen in Müllcontainern mit Rasierklingenschrott. Dennoch würde ich sagen, daß BF ganz besonders für geistige Freiheit steht. Wegen der bereits extremen Länge dieser Replik möchte ich das nunmehr nicht weiter ausführen.
Etwa bei Max Frisch im "Homo Faber" wird der moderne Techniker als ein (sehr negatives) Gegenbild zur u.a. an antiker Bildung orientierten Lebensweise dargestellt (irgendwo im Schlußteil des Buchs, wo er unwissentlich ein inzestuöses Verhältnis mit seiner Tochter anfängt, muß er denn auch mal barfuß laufen, was dort wohl ein Symbol der Entfremdung von seiner ursprünglichen Techniker-Existenz ist). Ich hab das schon auf der Schule, als ich das Buch im Deutschunterricht lesen mußte, als ziemlich einseitig und klischeehaft empfunden. Du kommst mir hier mitunter vor wie so eine Art "Anti-Faber", der das in diesem Buch entwickelte Klischee wieder genau auf den Kopf stellt. Dadurch wird es m.E. nicht weniger klischeehaft.
Mein Problem ist, daß ich dieses Schauspiel, Drama oder den Roman nicht kenne. Dennoch gilt für mich keinesfalls die Gleichung BF = [Naturverbundenheit, Technikfeindlichkeit, konservativ, an alten Werten orientiert]. Im Gegenteil, ich weise gerne auf Science-Fiction-Filme hin, in denen Personen BF laufen, ferner: In der Schwerelosigkeit an Bord eines Raumschiffes machen Schuhe auch schon wirklich nicht den allergeringsten Sinn.
Ich persönlich hab zweimal die "Sechs" im Zeugnis geschafft (weswegen man mich theoretisch auch hätte repetieren lassen können), nämlich einmal in Sport und einmal in Kunst (wobei in beiden Fällen wohl gehörige Abneigung gegen den jeweiligen Lehrer eine Rolle spielte). Aber ich sehe heute durchaus Sport- und Kunsterziehung nicht mehr als Behinderung meines "freien Denkens" an und setze mich vor allem mit diesen Fächern nicht mehr innerlich auseinander.
Ja, ich mich mit Latein natürlich auch nicht mehr. Der häufige & unvermeidbare Gebrauch von Fremdwörtern, die hierauf zurückgehen, schafft allerdings irgendwo einen Unterschied im Vergleich zu Kunst & Sport, die vergleichsweise "isoliertere" Disziplinen sind.
Gruß, Guenther
Resumierend darf ich noch einmal bekräftigen: Hervorragende Kompetenz, subtiles Detailwissen in antiken Kulturen samt deren Sprachen / BF sind keine Gegensätze, warum sollten sie es sein? Mit "freier Denke" leistet man sicher auch in diesen Domänen mehr. Bei mir gilt kein Satz "wenn jemand mit 'Antik' drauf ist, ist er kein 'richtiger' Barfüßer". Mir ist jeder Mensch guten Willens recht, dazu muß er sogar nicht notwendigerweise BF sein.
Setzen wir diesen philosophischen Dialog - wg. Länge - am besten im ausführlichen persönlichen Gespräch auf dem Streetlife-Festival in München fort, falls die Möglichkeit dazu besteht?
Grüße, Jay