Retro, Entliberalisierung der Gesellschaft - Vorschlag einer Gegenbewegung (Hobby? Barfuß! 2)

Jay, Stammposter, Monday, 19.03.2007, 02:32 (vor 6397 Tagen)

Hi!
An verschiedenen Stellen im Forum flackert das derzeit durch die BF-Prohibition an bayer. Schlössern, Burgen etc. gegebene Rahmenthema immer wieder auf. Es mag verwundert haben, daß sich jemand, der sonst bei jeglicher Anti-BF-Bervormundung sofort parodistisch & ausgesprochen frech 'rumkrakeelt, diesmal in Schweigen gehüllt hat.
Tatsächlich konnte ich nichts schreiben, was Hand & Fuß hatte. Der Vorgang in Zusammenhang mit dieser "Sehenswürdigkeiten"-Verwaltung ist zwar besonders bezeichnend, aber nur ein Symptom einer größeren, allgemeineren Modifikation der Gesellschaft. Gut gefallen hat mir, daß Lorenz (der ja nun eher wenig von einem Althippie hat) schrieb: "Es kotzt mich an, alle paar Tage in der Presse lesen zu müssen, WAS man zu Vorstellungsgesprächen anzuziehen hat, sodaß man zur Realisierung dieser Outfit-Spezifikation locker € 500,- verspritzen kann".

1. Kernthese: Es sind in immer stärkerem Maß, die Entwicklung in den USA zum Vorreiter nehmend, gesellschaftliche Strömungen in Gang, das Rad der Geschichte zurückzudrehen & alles wieder aufzuheben, wofür in den 60ern teils auch aufopfernd gekämpft wurde (tageweiser Rausschmiß von zu Hause bei vielen meiner Generation, Mietrechtsprozesse um "Haare ab oder ausziehen" etc. etc.). Eine Gesellschaft von erwachsenen Menschen läßt sich zunehmend wieder vorschreiben wie kleine Kinder, wie sie sich zu was zu kleiden haben (inkl. z. B. auch BF). Zwar bin ich - ich weiß gar nicht, warum - ein Befürworter der Bedeckung der menschlichen Genitalien in der "Standard"-Öffentlichkeit, aber ansonsten sollte alles erlaubt sein.

Aufgrund der beiden Threads mit der Korrespondenz mit der bayer. S.- & B.-Verw., die ich als regelrechte Aufgabenstellung zur Lösung des Problems [Diese Verwaltung dazu zu kriegen, das BF-Verbot wieder aufzuheben] betrachtete & an ihr scheiterte (immer wieder nicht "abgedrückte" Schreibversuche, weil sie nichts taugten) ergab sich die wahrscheinlich wenig geliebte

2. Kernthese: Um PRO BF etwas bewirken zu können, ist BF als Feature per se zu schwach. Da muß Stärkeres & vor allem Breiteres her, um für die Sache Barfuß etwas tun zu können.

Anhand möglicher "Problemlösungen", um wieder BFiges Entree´ in Bayerns Blaublüter- & Aristokratenpalazzi zu erhalten, sei das illustriert. Ich vermute jetzt 'mal, daß insbesondere die ältere Leserschaft mit der extrapolativen Einschätzung menschlicher Verhaltensweisen konform geht:
x Protestemail- oder Brieflawine, die erkennbar von BF-Freaks stammt: Wird weggesteckt "Minderheit, Sekte mit einer eigenartigen Gewohnheit. Die brauchen wir nicht, die stören nur (unserer Befürchtung nach auch die anderen 'korrekten' Gäste)." Ist zu durchsichtig.
Außerdem wäre das authentische Aufkommen (sofern nicht manipuliert wird [unter Benutzung von Falschnamen, unterschiedlicher Stile, technische Tricks mit über Proxyserver getürkte IP-Protocols], d. h. pro Person viele Mails) zu gering.
Wenn alle hier loslegen: Wieviel entsteht denn dann? Einige 100 ? Einige 1000 ? (vermutete Zehnerpotenz-Größenordungen)

x Protestkorrespondenz mehr gutbürgerlichen Flairs (nur scheinbar mit BF nix am Hut) etwa mit folgenden Textpassagen: "Der bei Ihnen zunehmend gegebene Trend ist verwunderlich. Wollen Sie demnächst 'Kostüm bzw. dunklen Anzug' vorschreiben? Lassen Sie die Leute doch barfußgehen. Was tut denn das? Es ist irritierend, sich in größtenteils durch Steuergelder* finanzierten Räumlichkeiten wie ein kleines Kind vorschreiben zu lassen, in welcher Kleidung man sich dort aufzuhalten hat. Hängen Sie Ihre Entree´vorschriften auf einer großen Tafel vor dem Gebäude als neue Geßlerhüte gut sichtbar & detailliert auf & finanzieren Sie sich durch Eintrittsgelder gefälligst selber! [Drohung mit Presseinformation]"
Das würde bei hinreichendem quantitativen Aufkommen schon mehr wirken, die Drohung mit der Presse wäre allerdings Bluff. Sie ist heute müde & berichtet viel lieber, daß heute auch immer mehr in der Freizeit Anzüge, Krawatten & pflichtgemäßes Schuh-Beiwerk getragen werden.

x Schuh-Steigerung ad absurdum: Sofern die Potsdamer Sonderbeschuhungs-Maßnahme (Filzpantoffeln) in Bayern nicht Fuß faßt, läßt man einfach einen Bekannten, der mit BF nix am Hut hat, mit harten Stollenschuhen vom Fußball-Trainingsplatz oder noch besser, winters mit Glatteis-Metallspikeschuhen (dieser Artikel fand im ökologisch vorbildlich glatteisbewahrten Freising bei älteren geh-unsicheren Bürgern reißenden Absatz) 'reinschneien, & dann versehentlich KRATZ KRATZ und SCHEUER SCHEUER. Fraglich, ob dann überhaupt die Privathaftplicht-V. (meist nur gesetzesbedingt beim Auto vorhanden) bemüht werden kann - Bürger war kein Ingenieur & konnte auch sonst über die vorhandenen Böden samt Oberflächenerosion nichts wissen. Pech für die BSV - keine "technische Spezifikation" für die Beschuhung aufgestellt.
Der Eklat samt zukünftiger Hinweistafeln & Schuhsohlenkontrollen am Eingang ließe sich in der Presse gut breittreten. Aber das harmlose Barfußlaufen verbieten! Öffentlich LACH LACH! (so gut sind bei uns immerhin noch breitere Bevölkerungsschichten 'drauf, auch wenn´s immer schlechter wird).

x Die Stil- & Etiketteliteratur konstatiert, daß Anzug-, Krawatten-, [besockt & beschuht-] Erscheinen eine Respektsbezeugung vor dem Gastgeber darstellt. Gegenausstellung oder -Galerie (ähnlich der Wehrmachtsausstellung) organisieren (mit ausdrücklichem nonchalantem BF-Einlaß): Zwar fehlen mir Geschichtskenntnisse, ich vermute aber, daß die Typen, die in den Palazzi hausten & denen man jetzt beschuht den Hof machen muß, genügend Kriege verloren, Abertausende hierdurch, durch Hunger oder sonstige Mißmanagementfolgen in den sinnlosen Tod geschickt haben. Versager werden hofiert. Man läßt den Aspekt heutiger Ehr-Erbietung durch Nicht-BF in der Öffentlichkeitsarbeit dezent einfließen.

Sehr viel mehr wird nicht zu machen sein. Deprimierend ist vor allem, um wieviel schwächer - trotz erwiesener zahlreicher positiver gravierender gesundheitlicher Aspekte - die Feature BF im Vergleich zu [Nicht-Tabak-Rauch] ist.

Ich sehe, um für BF etwas tun zu können, zunehmend nur die Möglichkeit, die Protagonisten des NICHT-BF anzugreifen & ihnen Imageschäden beizubringen, wo man bloß kann, unter größtmöglicher Ausnutzung der u. U. großen Fettnapfe, in die sie treten. Noch ist genügend gesellschaftliche Bewußtseins-Substanz vorhanden, um dagegen kontern zu können, daß wir nach Meinung bestimmter, auch & insbesondere medienbeherrschender Kreise uns in eine (nebenher natürlich auch in allen Lebenslagen voll fett beschuhte) Anzug/Krawattengesellschaft zu verwandeln haben (Vermerk: für Damen in Top-Managementpositionen "ziemen" sich nur Hosenanzüge, nicht Kleider oder Röcke - wo bleibt denn da die Gleichberechtigung im Sinne geschlechtstypischen Outfits?)
Um zu bewirken, daß bei Burgen & Schlössern, die BFig nicht mehr betreten werden dürfen, die Eintrittsgelder auf 0 fallen, bräuchte man eine [politische?] Bewegung. Eine Bewegung contra Entliberalisierung der Gesellschaft. Eine Bewegung, die klar ins allgemeine Bewußtsein rückt, daß Schlips, Nadelstreifen (samt entspr. Beschuhung) zunehmend als Freibrief für (sonst) schlechtes, auch menschenverachtendes Benehmen** & mangelhafte berufliche Leistung** fungiert. Seit ganztägigen Projektmeetings am vergangenen 8./9. März auf höherer industrieeller Ebene (wie ich drin war, ist bekannt) ist mir klargeworden, daß sich ein ["Geschniegelter" + Beschuhter] bei gleicher Hierarchiestufe weitaus mehr Fehler erlauben kann als der Jeans-, T-Shirt- & [durchaus nicht immer] Barfuß-Dr.-Ing. ...
Kurz, es geht darum, das gleiche gesellschaftliche Bewußtsein wiederherzustellen, wie es noch Anfang der 1980er vorhanden war. Ich erinnere mich noch an eine frühsommerliche (selbstverständlich BFige) Fahrt in der S-Bahn nach München in meiner Studentenzeit. Es ging eine tolle Gesprächsrunde los (auf halber Wegstrecke war praktisch der ganze Waggon ein Forum), ausgelöst durch Zeitungsmeldungen: "Prozeß um Kleiderordnung am Arbeitsplatz mit Pauken & Trompeten verloren". Haha. Süffisante Genugtuung machte sich breit. Da spinnt wohl irgendjemand, seinen Mitarbeitern (ob in einer vom Kunden "einsehbaren" Abteilung oder nicht, weiß ich allerdings nicht mehr) vorzuschreiben, wie sie sich zu kleiden haben!
Heute fehlt das völlig.
In genau dieses Bewußtsein muß man BF (bei mir integraler Bestandteil des Gesamtoutfits) einbetten & mittragen lassen.
Nur so geht´s meines Erachtens. Das ist das obenerwähnte "Stärkere" & "Breitere" im Kampf für BF.
Anarchistische & antiautoritäre Barfußgrüße, Jay
--
*) Die an sich starke Argumentation "zum Dank für meine Steuergelder kann ich mir auch noch vorschreiben lassen..." ist bereits anderweitig vorgeschlagen worden (siehe die entsprechenden Repliken, ich möchte mich nicht mit fremden Ideen-Federn schmücken).
**) Unglaublich, wie sich die Gesellschaft von bestimmten Kleidungs-Fetischen imponieren läßt! Aufhören sollte, sich spezifisch von der (natürlich fett beschuhten) Schlips- & Nadelstreifenkaste z. B. folgendes gefallen zu lassen (Beispiel Supermarkt-Zickzackkurs): Bereits nach halbem oder 3/4 des Einkaufs wird der Wagen in die Warteschlange vor der Kasse geschoben. Danach entfernt sich der Kunde wieder, er ist von der übrigen Warteschlange nicht zu sehen. Währenddessen bewegt sich die Schlange weiter. Im Unterschied zu nicht-beschlipsten Kunden wartet die Schlange artig vor dem Wagen. Keiner macht Bypass & sagt, wenn der feine Herr zurückkommt & brüllt: "Ich war vor Ihnen da!": "Moment, mein Herr! Solange Sie Ihren Wagen verlassen, kaufen Sie ja noch ein. Also vollenden Sie Ihren Einkauf & stellen Sie sich gefälligst DANN hinten an!" (ich bin niemand, der nicht toleriert, daß jemand noch schnell Zigaretten oder Waren im näheren Umkreis holt).
Beispiel Bahn: Kleiderordnung noch nie so streng, Performance noch nie so schlecht. Krankenversicherungen & Immobilienfinanzierungsverträge sind regelmäßig doppelt so teuer, nur: einem beschlipsten & beschuhten Vermittler sieht man das "Ach, das hab' ich vergessen" weitaus mehr nach.


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