Unsere Zukunft - ein barfüssiges Weihnachtsmärchen (Hobby? Barfuß! 2)
Herr Freigedank war auf dem Weg in den grossen Supermarkt, um sich rechtzeig vor dem Fest mit allem Notwendigen einzudecken; in wenigen Tagen schon war Weihnachten. Gutgelaunt schob er den Einkaufswagen durch die automatische Tür, freundlich grüßte er den Aufpasser in seiner bügelfaltigen Phantasieuniform. Doch statt wie immer freundlich zurückzugrüssen, denn schließlich war Herrr Freigedank hier Stammkunde, erscholl ein barsches "Halt! So kommen Sie hier nicht rein"! Irritiert blieb Herr Freigedank stehen, und sah den Wachmann fragend an. Der deutete nur naserümpfend auf die nackten Füsse des Kunden. "Aber ich bin doch hier immer....." entfuhr es Herrrn Freigedank. "Keine Diskussionen," schnitt ihm der Türsteher den Satz ab, demonstrativ seinen Schlagstock streichelnd. "Schuhe an oder raus"! Herr Freigedank zog von dannen, die Welt nicht mehr verstehend. Andere Kunden blickten ihm nach, hämisch oder einfach nur erstaunt; peinlich war es in jedem Fall. Was war los? Er war doch schließlich kein Ladendieb ! Herrr Freigedank hätte jetzt mit den Sandalen, die er für Notfälle im Kofferaum seine Wagens gleich neben Feuerlöscher und Verbandzeug aufbewahrte, erneut den Konsumtempel betreten können. Doch diesen Triumph wollte er dem "geschniegelten Wachhund" nicht gönnen.
Vielleicht hatte der ja nur einen schlechten Tag, Krach mit der Alten oder dem Chef. Herrr Freigedank fuhr nach Hause, von dort rief er den Manager des Supermarktes an, um diesen unerfreulichen Vorfall zu klären.
"Unser Assistant Receiving Stuff and Customer Housetrooper (Abgekürzt: A-R-S-C-H, sinnierte Herrr Freigedank im Stillen) hat völlig korrekt gehandelt", hiess es dort; schließlich trieben sich ja vor Weihnachten immer zwielichtige Typen mit üblen Absichten herum, und die wären am ehesten an unvollständiger oder nachlässiger Kleidung zu erkennen. Schließlich müsse man ja den ordentlichen Kunden ein Gefühl der Sicherheit geben; und barfuß sei sowieso zu gefährlich, man wolle ja auch keinen Ärger mit verletzten Besuchern haben. Nein, der Wachmann hatte wohl einfach nur seinen Job getan...
Herrr Freigedank ließ zwei Tage lang Gras über die Sache wachsen, und beschloss dann, die Kröte zu schlucken. Schliesslich hätte er weit umherfahren müssen, um anderswo die Zutaten für das besondere Weihnachtsessen zu besorgen, das er seinen Lieben versprochen hatte. Er mochte es, barfuß zu gehen, immer und überall, es war geradezu essentiell für ihn; doch momentan rebellierten sein Füße gegen die quälenden Käfige, in denen er mürrisch über den Parkplatz des Einkaufscenters schlurfte. Es herrschte ein großer Trubel, klar, heute Abend würde ja überall gefeiert! Doch was wollten all die Presseleute vor dem Eingang? Wozu die Kameras? Herrr Freigedank gesellte sich zu einer der Menschentrauben, und auf seine Frage nach dem Anlaß antwortete jemand aufgeregt: "Da kommt sie!" Tatsächlich fuhr in diesem Augenblick ein pompöse Stretchlimousine vor, beinahe durch die Tür des Supermarktes, und ihr entstieg, umringt von einer Handvoll Leute in schwarzen Anzügen, die plötzlich herbeigeschossen waren, diese atemberaubende, anbetungswürdige, karriereträchtige Filmdiva, im äußerst knappen Engelskostüm und - Herr Freigedank traute seinen Augen kaum - barfuß !!! Ihr folgten sechs jüngere Mädchen, Sternchen von Morgen, und alle identisch gekleidet, wie die Diva ! Ein wirklich atemberauber Anblick, Glanz und Glamour, funkelnde Diamanten, ein Hauch weisser Samt, drapierte Flügel, unverhüllte, endlose Beine bis zu den nackten Zehen. Kälte brauchten diese zarten Geschöpfe trotz der Jahreszeit nicht zu erleiden, denn dank der immer häufigeren Wetterkapriolen war es seit zwei Wochen mit 25 Grad zwar unpassend, aber dennoch sehr angenehm warm.
Wenn aber nun dieser bärbeissige Uniformkasper der Schar der barfüssigen Elevinnen den Eintritt verwehren würde? Herr Freigedank dachte an sein kürzliches Erlebnis. Ha, das wäre eine äußerst schlechte Reklame für diesen Saftladen! Nun trat der Manager vor die Tür, gefolgt von dem Wachmann, der einen riesigen Besen wie eine archaische Kriegswaffe schwang; er würde doch wohl nicht.... Doch zu Herrrn Freigedanks Beruhigung wurde die Engelsschar vom Manager überschwänglich begrüßt und in die heiligen Hallen geleitet, während der Uniformierte den Boden, der gleich von zierlichen, nackten Füssen betreten würde, zu fegen begann. Und wie er fegte! Zackig, mit wilder Entschlossenheit, als gelte es, auch das kleinste und harmloseste Staubkorn gnadenlos auszumerzen! So verschwand der glitzernde Tross, gefolgt von ekstatischen Leuten mit kostspieligen Fotoapparaten sowie einer Schar mit Musikinstrumenten bewaffneter Weihnachtsmänner in der Burg des Massenkonsumes. Herrr Freigedank, dessen Verstand sich langsam aus entlegenen Hirnregionen wieder dort einfand, wo er eigentlich hingehörte, wurde gewahr, daß es sich hier um einen banalen, wenn auch sicher sehr teuren Werbegag handelte.
Ein Reporter, der wohl nicht mit hinein durfte, jedoch draussen wie wild fotografierte, murmelte ständig etwas von "Erdverbundenheit, gepaart mit Streben nach Höherem" "Meinen Sie etwa das Barfusslaufen ?" fragte ihn Herrr Freigedank. "Ja, das macht sich toll, das hat sowas ursprüngliches, überweltliches und zugleich..." "Ich verstehe, was sie sagen wollen", unterbrach ihn Herrr Freigedank, "aus diesem Grunde laufe ich fast ausschließlich barfuss". Der Reporter, aus seinem Höhenflug gerissen, beäugte mißtrauisch Herrrn Freigedanks uralte Latschen. "Doch, normalerweise gehe ich sogar hier barfuss einkaufen", wand dieser schnell ein. "Ist das nicht verboten?" Der Reporter zog die Stirn kraus. "Ich bitte Sie, soeben sind da sieben Frauen barfuss reinmarschiert" Herr Freigedank deutete auf den Eingang, in den jetzt Massen gewöhnlichen Konsumvolkes strömten. "Das ist doch was ganz anderes". Der Reporter verdrehte vielsagend seine Augen. "Anderes als was ?" Herr Freigedank fühlte sich in seinem Element. Diskussionen dieser Art waren ihm sehr vertraut, und boten immer wieder eine gute Chance, den grossen Wert und den Anspruch auf die Gesellschaftsfähigkeit des Barfußlaufens zu betonen. "Hmmm... und die lassen Sie wirklich barfuss da rein? "
Herrn Freigedanks Beherrschung zog sich in irgendeine dunkle Ecke seines Bewußtseins zurück. Die Zurückweisung seiner, die Willkommenheissung anderer Füsse - egal in welcher Aufmachung- das war zuviel.
Mit den Worten" Nach dem Gleichheitsgrundsatz müssen die das" kickte er seine Treter von sich und stürmte in den Supermarkt, während der Reporter eifrig alles dokumentierte.
"Ich habe Sie gewarnt!" Die rüde Stimme schallte Herrrn Freigedank noch in den Ohren, während er, blutend und mühsam humpelnd, gestützt von dem Reporter, seinem Wagen zustrebte.
"Geben Sie mir den Schlüssel, ich fahre Sie ins Krankenhaus, und Sie schulden mir dafür eine Story" ! Der Pressemann verstand es, aus solchen Situationen das Beste herauszuholen.
Herrn Freigedank hatte es böse erwischt; an das Zubereiten von Weihnachtsessen war nicht mehr zu denken.
Der Reporter besuchte ihn des öfteren am Krankenbett, und zeigte ihm auch auf seinem Filmmaterial gut erkennbare Einzelheiten des unangemessen brutalen Rauswurfs.
Zufällig bekam das ein Mitpatient mit, ein sehr steitlustiger Rechtsanwalt, der ein ausgeprägtes Gespür für Gerichtsprozesse hatte, die sowohl Kläger als auch Rechtsbeistand wahre Geldlawinen zu bescheren vermochten.
Mit seiner Hilfe, und mit Hilfe des Reporters, der eine Vielzahl wichtiger Leute für diese Sache gewinnen konnte, entschied knapp zwei Jahre später, kurz vor Weihnachten, eine Jury in letzer Instanz gegen eine große Supermarktkette.
Da deren Inhaber nicht die aberwitzige Geldsumme aufbringen konnte, die dem Kläger zugespochen wurde, nahm dieser die ganze Kette kurzerhand in Zahlung. Dies war der Beginn der weltumspannenden Kette der "Freigedank´s Barefoot-Shops".
Soviel zur Vorgeschichte...
Setzte man früher den Begriff "Barfuss" mit schlechter Ausstattung oder Armseligkeit gleich, hat er mittlerweile eine völlig neue Bedeutung erfahren, im Sinne von "Aufrichtig, tüchtig, mit sich und der Welt zufrieden".
Genauso fühlt sich Herrr Freigedank, wenn er seine Läden besucht. Nie hält sein Fahrzeug direkt vor dem Eingang, nein, Herr Freigedank kontrolliert persönlich den Parkplatz auf beste Barfussbegehbarkeit. Die wenigen Kunden, die heutzutage noch Schuhe tragen, sollen diese getrost im Wagen lassen dürfen. Die allfällige Fußwaschanlage vor dem Ein-und Ausgangs-Bereich wird von ihm persönlich inspiziert; besonderen Wert legt er dabei immer auf absolute Sauberkeit und funktionierende Warmluftgebläse. Ein kurzer Besuch in den Fußpflege-, Nagelkosmetik- und Fußschmuck-Shops, an denen jeder vorbei muß. Sie sind ein echter Publikumsmagnet seiner Märkte, und äußerst vielseitig zudem. Nebenbei sind sie natürlich auch eine sprudelnde Geldquelle...
Während der gestresste Kunde bei einer Fussmassage entspannt, kann er sich gleichzeitig die Haare schneiden oder sich anderweitig verschönern lassen. Adrette, natürlich barfüssige Designerinnen führen derweilen Fußschmuck vor, jeder Art und für jeden Geldbeutel. Wie sich die Zeiten geändert haben... mußte es früher ein Würgestrick namens "Krawatte" sein, traut sich heute kaum noch ein Herr ohne Zehenring(e) ins Büro; wer sich für wichtig hält, trägt bis zu 20 Stück und mehr, wobei die ruhig mal aus Platin bestehen dürfen, wenn sie nur mit genug Edelsteinen geschmückt sind.
Die Damen sind ja in dieser Hinsicht etwas bescheidener, vielleicht, weil es ganz einfach bequemer so ist, und schmücken sich lieber mit aufwändigen Fußbemalungen; letzter Schrei sind Miniaturen bedeutender Künstler, nebst filigranen Nageltattoos.
Auch wenn die Kunden hierbei viel Geld lassen, muss sich doch kaum einer darum sorgen, daß es nicht mehr für den eigentlichen Einkauf reicht, denn seit geraumer Zeit boomt die Wirtschaft bekanntlich wie verrückt, und das auch im letzten Winkel dieser Erde! Mußten sich manche Leute zu Anfang des 21. Jahrhundert noch Sorgen um Krankheiten, Krieg, Armut oder gar Hunger machen, dreht sich heute alles um die Menge an Körperschmuck, die jeder besitzt. Herr Freigedank war übrigens der erste, der seinen Mitarbeitern hier eine feste Sozialquote zusagte, lange vor den Bestrebungen der Gewerkschaften, und hat diese Quote sogar auch den letzten Schuheträgern zugestanden.
Anfangs zeigte sich die grosse Attraktivität der Freigedank´s Barefoot-Shops in ihrer Auslegung auf angenehme barfüssige Begehbarkeit. Harte Böden wurden durch weichen und fusswarmen Kunststoff ersetzt. Die Einkaufswagen, Regale und diverse Hindernisse wurden zum Schutz der Barfüsse mit entsprechenden Protektoren ausgestattet; heute registrieren und beseitigen zudem Sensobots sofort alle gefährlichen Fremdkörper. Trotzdem patrouillieren noch immer geschulte Wachleute mit besonders empfindsamen Füssen, auf der Suche nach dem, was hier nicht hingehört.
Als Werbegag wurde vor langer Zeit einmal ein Indoor-Barfusspark für Jung und Alt einschlließlich Kinderbetreuung und Animationsprogramm in einer gerade nicht benutzten Lagerehalle eines Marrktes errichtet; die Resonanz war sensationell, und heute kommt keine Freigedank-Niederlassung mehr ohne diese bewährte Einrichtung, die natürlich auch allen Mitarbeitern offensteht, aus. Seit langem schon ziehen weltweit Unternehmen aller Art, die die positive Bedeutung des Barfusslebens erkannt haben, mit. Unbestritten ist, daß das Barfusslaufen den Menschen gut tut; und seit es überall gesellschaftsfähig geworden ist, sind die Leute insgesamt friedlicher, toleranter und zugleich herzlicher und fröhlicher geworden. Verbrechen und Terror sind Auslaufartikel. Die Städte sind ungleich sauberer als früher, denn wer spaziert schon gerne barfuss im Dreck? Angeblich lagen früher mal sogar Glasscherben auf den Gehwegen, was sich heute beileibe niemand mehr vorstellen kann.
Auch als Erfinder war Herr Freigedank tätig: Ein spezielles, bei den zahllosen Barfuss-Wandervereinen sehr beliebtes Werkzeug zum leichten Entfernen von Wegeschotter (eine grosse Bausünde vergangener Zeiten), das selbstredend zum Standard-Sortiment seiner Läden gehört, trägt seinen Namen; eine gute Art, sich zu verewigen!
Aber nicht zuletzt ist der grosse Erfolg des Herrn Freigedank seiner damaligen Kampagne "Es ist wirklich genug für alle da" zu verdanken, mit der er seine bewährte, zertifizierte Kombination aus fairem Handel und partnerschaftlichem, humanem und auf Nachhaltigkeit bedachtem Geschäftsgebaren in einem weltumspannenden Filialnetz realisierte. Sein persönlicher Leitsatz "Barfuss leben, schaffen und erhalten" ist heute kulturelles Gedankengut.
Vermißt Herr Freigedank eigentlich etwas? "Ja", meint er, in früheren Zeiten war es zuweilen ein echtes Abenteuer, einen Laden barfuss zu betreten; eine richtig spannende Angelegenheit. "Das kann sich heute niemand mehr vorstellen", setzt er hinzu, und blickt dabei nachdenklich auf seine erstaunlich bescheiden geschmückten Füsse.
Doch nun ruft ihn die Pflicht, denn es weihnachtet, und in wenigen Minuten wird er höchstpersönlich die erlesene Schar barfüssiger Engel begrüssen...
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Diese kleine Lektüre soll mein bescheidenes Weihnachtsgeschenk an die Forengemeinschaft sein.
Wenn es dem(der) einen oder anderen ein bißchen Lesevergnügen bereitet, hat es schon seinen Zweck erfüllt !
Ein schönes und besinnliches Weihnachtsfest Euch allen
wünsch Ralf (BN)