Weltanschauung (war: ADG) (Hobby? Barfuß! 2)

Kai (VS) @, Tuesday, 26.09.2006, 08:31 (vor 6572 Tagen)

Hallo,
Hans-Martin schrieb am 21.09., was ich jetzt erst gesehen habe:

"Barfußlaufen ist per se keine Weltanschauung. Es könnte aber sein, daß jemand eine Weltanschauung hat, aufgrund derer er z.B. Schuhe ablehnt."

Aha, das kann ich zwar nachvollziehen, aber woher nimmst du diese Festlegung? Steht das irgendwo? Es könnte ja sein, dass jemand keine explizite Weltanschauungs-Theorie hat, aber trotzdem aus Weltanschauung Barfüßler ist. Von Sokrates z.B., dem mir frühesten bekannten überzeugten Barfüßler, kann man wohl berechtigt sagen, er habe eine Weltanschauung gehabt. Trotzdem kommt in dem, was er sagte, kaum jemals (nie?) was von seiner Fußbekleidung vor. Hinsichtlich seines Barfußgehens ist also wohl genau das Barfußlaufen der entsprechende Teil seiner Weltanschauung, ohne jede weitere Theorie.

Gruß, Kai (VS)

Nochmal Sokrates

Guenther, Tuesday, 26.09.2006, 09:21 (vor 6572 Tagen) @ Kai (VS)

Hallo Kai!

Von Sokrates z.B., dem mir frühesten bekannten überzeugten Barfüßler, kann man wohl berechtigt sagen, er habe eine Weltanschauung gehabt.

Diese Aussage erscheint mir etwas problematisch. Die Sokrates-Figur wird uns, wie schon Pedro mal vor ein paar Wochen richtig bemerkte, vor allem durch die Schriften Platos vermittelt. Dieser benutzt Sokrates als einen Exponenten seiner eigenen, stark dualistisch ausgerichteten Philosophie (die in der modernen westlichen Philosophie und insbesondere im Christentum stärkstens nachwirkt). Was Sokrates als historische Person gewollt hat, wissen wir einfach nicht - wir wissen nur, wie Platon ihn im Sinne seiner Philosophie dargestellt hat.

Trotzdem kommt in dem, was er sagte, kaum jemals (nie?) was von seiner Fußbekleidung vor.

Das ist, soweit ich weiß, für Platon richtig. Das Barfußlaufen ist nur ein biographisches Detail in Platons Dialogen (die ja im Gegensatz zu modernen philosophischen Abhandlung über trockene Fachphilosophie weit hinausgehen), wird nicht funktional mit den philosophischen Zielen des Sokrates in Verbindung gebracht. Aber in einer anderen, nicht-platonischen Quelle, nämlich in den Memorabilien des Xenophon (1,6) setzt er sich mit der Frage des Antiphon auseinander, warum er so lebt wie er lebt und insbesondere barfuß geht. Er antwortet (speziell zum Barfußgehen), daß die Menschen Schuhe tragen, weil sie fürchten, daß sie wegen Dingen, die an den Füßen schmerzen, nicht überall hingehen könnten, daß er (Sokrates) aber stets überall hingegangen sei, wo er wolle, und daß man seinen Körper auf Bedürnislosigkeit hin üben bzw. trainieren könne. Er selbst habe andere, höhere Ziele als die Versorgung des Körpers mit Genußgütern.
Und diese Stelle erklärt m.E. ganz deutlich die gesamte antike und mittelalterliche Haltung zum Barfußlaufen: Es bedeutet Askese, "Abtötung" des "Fleisches" (um einmal eher christliche Terminologie zu verwenden), Abhärtung gegen körperliche Luxusbedürfnisse. Barfußlaufen als etwas positiv Sinnvolles etwa im Sinne eines harmonischen Seele-Körper-Verhältnisses zu verstehen, ist m.E. völlig unantik/ unmittelalterlich, vielmehr eine neuzeitliche "Erfindung". Plato hat den barfüßigen Sokrates als Exponenten einer dualistischen, äußerst leibfeindlichen Philosophie eingesetzt. Somit ist Sokrates gerade nicht Vorläufer moderner "Barfußphilosophien".

Hinsichtlich seines Barfußgehens ist also wohl genau das Barfußlaufen der entsprechende Teil seiner Weltanschauung, ohne jede weitere Theorie.

Ich fürchte, es gibt sehr wohl eine Theorie, das ist die dualistische platonische Philosophie, und der Herbwürdigung des Körpers in diesem Sinne dient das biographische Detail der Barfüßigkeit des Sokrates (und anderer asketischer Philosophen). Nicht, daß ich das persönlich so bejahen möchte, aber es scheint mir philosophiegeschichtlich so zu sein.

Gruß, Guenther

Sokrates und Franz von Assisi

Pedro, Stammposter, Tuesday, 26.09.2006, 09:39 (vor 6572 Tagen) @ Guenther

Hallo Guenther,

Und diese Stelle erklärt m.E. ganz deutlich die gesamte antike und mittelalterliche Haltung zum Barfußlaufen: Es bedeutet Askese, "Abtötung" des "Fleisches" (um einmal eher christliche Terminologie zu verwenden), Abhärtung gegen körperliche Luxusbedürfnisse.

Dass das die gesamte mittelalterliche Haltung zum Barfußlaufen ist, kann ich mir kaum vorstellen. Es gab sicher viele, die zur Abtötung des Fleisches barfuß gingen. Aber Franz von Assisi zum Beispiel, dieser Naturliebhaber, dieser Gaukler, der soll zur Selbstkasteiung barfuß gewesen sein? Würde doch mal annehmen, dass er seine Freude daran hatte. Und sich gegen körperliche Luxusbedürfnisse abzuhärten ist ja nicht unbedingt Leibfeindlichkeit.

Gruß
Pedro

Sokrates und Franz von Assisi

Guenther, Tuesday, 26.09.2006, 09:59 (vor 6572 Tagen) @ Pedro

Hi Pedro!

Daß antike/ mittelalterliche Barfußgänger am Barfußlaufen Spaß gehabt haben, will ich mitnichten ausschließen (wiewohl man es wohl nur schwer beweisen kann; oder gibt es da Zeugnisse? bei Franz von Assisi kenne ich persönlich mich weniger gut aus als bei Sokrates).
Aber entscheidend erscheint mir doch immer der "ideologische" Zusammenhang, in den solche Gesten gestellt werden. Und Franz von Assisi hat sich doch mit einer symbolischen Entkleidung von seinem väterlichen Erbe distanziert (http://de.wikipedia.org/wiki/Franz_von_Assisi#Berufung). Das zeigt m.E., daß der Verzicht auf äußerlichen Luxus zumindest primär auch als Verzicht, also als Negation, konzipiert war. Daß er nachher an dieser Lebensweise auch seine Freude gefunden hat, wollen wir mal hoffen - sonst wäre sein Leben ja furchtbar gewesen. Ähnliches darf man auch Sokrates wünschen ...
Im übrigen meinte ich natürlich nicht, daß wir solche antiken oder mittelalterlichen "Vorbilder" als normativ für unser eigenes Verständnis von Barfüßigkeit nehmen sollten. Eher als signifikante Kontrastfolien ...
Aber versuch mal ein mittelalterliches Zeugnis für eine naturverbundene/ ökologische Freude am Barfußlaufen zu finden. Ich fürchte, die Suche wird schwierig ...

Gruß, Guenther

Andererseits ...

Guenther, Tuesday, 26.09.2006, 10:24 (vor 6572 Tagen) @ Guenther

... gibt es auch zumindest eine antike Stelle, die heraushebt, wie angenehm Barfußgehen sein kann, nämlich am Anfang von Platons Phaidros (229 a), wo Sokrates´ Gesprächspartner (der sonst nicht barfuß geht) hervorhebt, wie glücklich es sich fügt, daß er gerade zu diesem Zeitpunkt barfuß ist; verwiesen wird auf Jahres- und Tageszeit und auf das Durchwaten eines Bächleins (erinnert mich jetzt an Georgs Septemberwanderung). Natürlich gibt es solche Äußerungen auch in der Antike, aber ich glaube nicht, daß solches Empfinden entscheidend dafür war, daß asketische Philosophen (und später Mönche) barfuß gingen. Generell kann man aber natürlich nicht pauschal über das Emopfinden von riesigen Epochen wie Antike und Mittelalter urteilen, sondern nur bedeutende philosophiegeschichtliche Argumentationsweisen herausstellen. Insofern ist Dein Einwand, Pedro, gerechtfertigt.

Übrigens sei noch angemerkt, daß Barfußlaufen in antiken Städten sicherlich weniger angenehm war als in modernen. Man denke nur an das Fehlen jeder ableitenden Kanalisation. Wenn man etwa in Pompeii mal die hohen Trittsteine auf den Straßen gesehen hat, weiß man, daß der antike Stadtmensch abseits von diesen im Prinzip durch die Faekalien seiner Nachbarn watete....

Gruß, Guenther

Andererseits ...

Pedro, Stammposter, Tuesday, 26.09.2006, 10:38 (vor 6572 Tagen) @ Guenther

... gibt es auch zumindest eine antike Stelle, die heraushebt, wie angenehm Barfußgehen sein kann, nämlich am Anfang von Platons Phaidros (229 a), wo Sokrates´ Gesprächspartner (der sonst nicht barfuß geht) hervorhebt, wie glücklich es sich fügt, daß er gerade zu diesem Zeitpunkt barfuß ist; verwiesen wird auf Jahres- und Tageszeit und auf das Durchwaten eines Bächleins (erinnert mich jetzt an Georgs Septemberwanderung). Natürlich gibt es solche Äußerungen auch in der Antike, aber ich glaube nicht, daß solches Empfinden entscheidend dafür war, daß asketische Philosophen (und später Mönche) barfuß gingen. Generell kann man aber natürlich nicht pauschal über das Emopfinden von riesigen Epochen wie Antike und Mittelalter urteilen, sondern nur bedeutende philosophiegeschichtliche Argumentationsweisen herausstellen. Insofern ist Dein Einwand, Pedro, gerechtfertigt.

Übrigens sei noch angemerkt, daß Barfußlaufen in antiken Städten sicherlich weniger angenehm war als in modernen. Man denke nur an das Fehlen jeder ableitenden Kanalisation. Wenn man etwa in Pompeii mal die hohen Trittsteine auf den Straßen gesehen hat, weiß man, daß der antike Stadtmensch abseits von diesen im Prinzip durch die Faekalien seiner Nachbarn watete....
Gruß, Guenther

Hi Guenther,

freut mich, dass Du doch noch eine antike Stelle über die Annehmlichkeiten des Barfußlaufens gefunden hast.

Ja, man ging in den Fäkalien der Menschen. Aber auch der Tiere, deren Fäkalien vielleicht sogar noch größere Mengen ausmachten. Und das tut man in manchen Gegenden der Dritten Welt auch heute noch. Auch barfuß.

Gruß
Pedro

Sokrates und Franz von Assisi: Asketen??

Pedro, Stammposter, Tuesday, 26.09.2006, 22:31 (vor 6571 Tagen) @ Guenther

Hi Guenther,

ich musste nochmals über den Askese-Begriff nachdenken. Mir ist Dein Askese-Begriff zu breit. Unter Askese verstehe ich, dass mein Geist meinem Körper etwas vorenthält, was dieser eigentlich haben wollte. Wenn aber mein Geist und mein Körper übereinstimmend etwas nicht haben wollen, so ist das keine Askese.

Ich habe nochmals die von Dir erwähnte Wikipedia-Stelle über Franz' Berufung gelesen und fühle mich in der Ansicht bestärkt, dass Franz seine Entkleidung und seine Abkehr von dem Lebensplan, den sein Vater ihm gesetzt hat, wohl kaum als Negation, sondern eher als Befreiung empfunden haben dürfte.

Und wenn ich auf ein Menü im x-Sterne-Restaurant zugunsten einer zünftigen Brotzeit im Biergarten "verzichte", so ist das auch keine Askese. Und wenn ich auf Schuhe "verzichte", eben auch nicht.

Viele Grüße
Pedro

Hi Pedro!
Daß antike/ mittelalterliche Barfußgänger am Barfußlaufen Spaß gehabt haben, will ich mitnichten ausschließen (wiewohl man es wohl nur schwer beweisen kann; oder gibt es da Zeugnisse? bei Franz von Assisi kenne ich persönlich mich weniger gut aus als bei Sokrates).
Aber entscheidend erscheint mir doch immer der "ideologische" Zusammenhang, in den solche Gesten gestellt werden. Und Franz von Assisi hat sich doch mit einer symbolischen Entkleidung von seinem väterlichen Erbe distanziert (http://de.wikipedia.org/wiki/Franz_von_Assisi#Berufung). Das zeigt m.E., daß der Verzicht auf äußerlichen Luxus zumindest primär auch als Verzicht, also als Negation, konzipiert war. Daß er nachher an dieser Lebensweise auch seine Freude gefunden hat, wollen wir mal hoffen - sonst wäre sein Leben ja furchtbar gewesen. Ähnliches darf man auch Sokrates wünschen ...
Im übrigen meinte ich natürlich nicht, daß wir solche antiken oder mittelalterlichen "Vorbilder" als normativ für unser eigenes Verständnis von Barfüßigkeit nehmen sollten. Eher als signifikante Kontrastfolien ...
Aber versuch mal ein mittelalterliches Zeugnis für eine naturverbundene/ ökologische Freude am Barfußlaufen zu finden. Ich fürchte, die Suche wird schwierig ...
Gruß, Guenther

Sokrates und Franz von Assisi: Asketen??

Guenther, Wednesday, 27.09.2006, 08:55 (vor 6571 Tagen) @ Pedro

Hi Pedro!

Zunächst muß man mal sagen, daß ein Großteil der griechischen Philosophie (und daran anknüpfend wohl auch die christliche Moralphilosophie) so stark dualistisch angelegt ist, daß sie die von Dir beschriebene Situation eines harmonischen Miteinanders zwischen Körper und Seele im Verzicht kaum jemals fokussiert. Der Körper ist eben der böse "Kerker" bzw. das "Grab", welches die Seele von ihrer eigentlichen Tätigkeit abhält. Nach Plato soll sich die menschliche Seele mit der Ideenwelt beschäftigen, und davon wird sie durch alles Körperliche einfach abgehalten. Für ein Miteinander zwischen Seele und Körper ist in diesem System einfach kein Platz.

Die von Dir beschriebene rationale Übereinkunft zwischen Körper und Seele im Verzicht könnte man im antiken System der Philosophie am ehesten noch im Epikureismus unterbringen. Weil dieses System von den anderen antiken Philosophenschulen relativ weit entfernt ist, wird es in der Polemik immer wieder - zu Unrecht - als bloße Rechtfertigung der Sinnenlust abgewertet. In diesem System ist die körperliche Lust das entscheidende, freilich in einer durchaus rational sublimierten Form. Hier wäre Raum für eine Überlegung der Art, daß man auf allzu üppiges Essen verzichtet, weil es für den Körper langfristig besser ist, oder (um es wieder ein bißchen on-topic zu machen) daß man auf Schuhe unter geeigneten Umständen verzichtet, weil es dauerhaft für die Füße von Vorteil ist.

Zum Askese-Begriff: Der Begriff wird in der Moderne sehr viel enger gebraucht als in der Antike. Modern würde man wohl nur ein solches "Vorenthalten", also etwas Negatives, als Akese verstehen. Auf Griechisch heißt askein aber einfach "üben", d.h. es liegt in diesem Begriff durchaus impliziert, daß das Vorenthalten durchaus zu einem positiven Ziel führen kann. Sokrates redet an der von mir zitierten Memorabilien-Stellen in der Tat auch im weiteren Zusammenhang der Barfüßigkeit vom "Üben" des Körpers (zwar verwendet er ein anderes Verbum, worauf hier aber nichts ankommt). Daß solche Askese auch zu erfreulichen Ergebnissen wie erhöhter körperlicher Widerstandsfähigekiet führen kann, wird auch in griechischer Philosophie nicht bestritten (lies z.B. im Gastmahl Platons das Lob des Alkibiades auf Sokrates mit dem Höhepunkt seiner barfüßigen Eiswanderungen, 220 b). Nur wird diese Kräftigung eben immer (zumindest in Systemzusammenhängen wie dem platonischen) als Ergebnis eines dem Körper von der Seele aufgezwungenen Verzichts angesehen, nicht als harmonische Übereinstimmung zweier Instanzen. Das ist eben alles unter dem Denkzusammenhang eines rigiden Dualismus zu sehen.

Natürlich wird kein moderner Mensch diesem rigiden Dualismus folgen. Wenn man platonisches Denken zu Ende denkt, ist der Mensch erst dann wirklich glücklich, wenn er sich vom Kerker des Körpers befreit und tot ist (der Gedanke begegnet im Zusammenhang mit Sokrates´ Hinrichtung mehrfach). Die Askese kann diesen Zustand nur insofern praeparieren, als sie die Seele schon im lebenden Menschen relativ unabhängig vom Körper macht. Wie es dem Körper dabei geht, ob er einfach nur vor sich hin leidet oder sich an der Askese stärkt, ist für den Platoniker eigentlich sekundär. Wie gesagt: Nicht als normative Vorstellung, sondern nur einfach als eine sehr wirkmächtige philosphiegeschichtliche Richtung auffassen.

Gruß, Guenther

P.S:: Ich sehe Figuren wie Sokrates immer sehr stark systemimmanent. Natürlich kann man sie auch einfach nur als große menschliche Vorbilder verstehen und einfach seine eigenen Vorstellungen hineinprojizieren. Im Prinzip hat das ja wohl schon Plato mit der historischen Sokrates-Figur so gemacht.

Sokrates und Franz von Assisi: Asketen??

Pedro, Stammposter, Wednesday, 27.09.2006, 09:59 (vor 6571 Tagen) @ Guenther

Hi Guenther!

Danke für Deine Erläuterungen. Worauf ich hinauswill: Es gibt bestimmte (bei manchen anderen Menschen offenbar vorhandene) Bedürfnisse, die ich halt einfach nicht habe. Einem nicht vorhandenen Bedürfnis nicht nachzugehen, braucht weder Abtötung noch Einübung noch auch nur einen langfristig positiven Effekt (wie z.B. Gesundheit). Barfuß ist einfach angenehmer. (Andere Menschen mögen andere Bedürfnisse nicht haben, die mir z.B. wichtig sind.)

Das ist eine ganz einfache menschliche Erfahrung, und ich kann mir nicht vorstellen, dass Menschen der Antike oder des Mittelalters solche Erfahrungen nicht gemacht haben, nur weil die Philosophen der Zeit es nirgendwo niedergeschrieben haben. Nicht umsonst gibt es ja ganze Forschungsrichtungen bei den Historikern, die sich mit der Alltagswelt der Menschen vergangener Zeiten befassen.

Viele Grüße
Pedro

Sokrates und Franz von Assisi: Asketen??

Guenther, Wednesday, 27.09.2006, 10:32 (vor 6571 Tagen) @ Pedro

Hi Pedro!

Danke für Deine Erläuterungen. Worauf ich hinauswill: Es gibt bestimmte (bei manchen anderen Menschen offenbar vorhandene) Bedürfnisse, die ich halt einfach nicht habe. Einem nicht vorhandenen Bedürfnis nicht nachzugehen, braucht weder Abtötung noch Einübung noch auch nur einen langfristig positiven Effekt (wie z.B. Gesundheit). Barfuß ist einfach angenehmer. (Andere Menschen mögen andere Bedürfnisse nicht haben, die mir z.B. wichtig sind.)

Du hast halt gelernt, mit Deinem Körper vernünftig wie mit einem Partner umzugehen. Ein griechischer Philosoph platonischer Ausrichtung sieht ihn aber von vorneherein als "Schweinhund" an. Von antiken Philosophen (ich weiß nicht mehr genau, von welchem) werden Dinge der Art überliefert, daß sie im Hochsommer im Mantel rumliefen, im Winter dagegen nackt. Auf Deinen Fall übertragen heißt das: Schuhe an, wenn´s barfuß angenehmer wäre, dagegen barfuß, wenn´s richtig ungemütlich ist. Aber Du brauchst ja nicht dualistischer Philosoph zu werden ...

Das ist eine ganz einfache menschliche Erfahrung, und ich kann mir nicht vorstellen, dass Menschen der Antike oder des Mittelalters solche Erfahrungen nicht gemacht haben, nur weil die Philosophen der Zeit es nirgendwo niedergeschrieben haben. Nicht umsonst gibt es ja ganze Forschungsrichtungen bei den Historikern, die sich mit der Alltagswelt der Menschen vergangener Zeiten befassen.

Die gibt es natürlich auch in der Altertumswissenschaft, etwa in der alten Geschichte, wenn man sich versucht nicht auf die großen Geschichtswerke zu konzentrieren, sondern auf das Alltagsleben, wie es etwa in Papyrusurkunden oder (nicht politischen) Inschriften deutlich wird. Nur werden Zeugnisse für sowas naturgemäß rarer, je weiter die erforschte Epoche zurückliegt. Die Überlieferung bevorzugt nun mal große Kriegsgeschichten und platonische Philosophie gegenüber trivialen Alltagserfahrungen, die wahrscheinlich überhaupt nicht niedergeschrieben werden, sondern nur umständlich aus archäologischen Funden erschlossen werden können. Übrigens schließt die griechische Literatur in vielen Fällen Alltagserleben geradezu aus: Es soll z.B. in Epos und Tragödie nicht um den Normalmenschen, sondern nur um den Heros gehen. Literaturgattungen, die an das Alltagsempfinden heranreichen, sind verhältnismäßig selten (z.B. stellenweise die Alte Komödie). Und an das Privatempfinden des historischen Sokrates kommt man leider nicht mehr ran. Wir beschränken uns dann halt auf den philosophisch überzeichneten platonischen Sokrates.

Gruß, Guenther

Sokrates und Franz von Assisi: Asketen??

Pedro, Stammposter, Wednesday, 27.09.2006, 10:51 (vor 6571 Tagen) @ Guenther

Hi Guenther,

Auf Deinen Fall übertragen heißt das: Schuhe an, wenn´s barfuß angenehmer wäre, dagegen barfuß, wenn´s richtig ungemütlich ist. Aber Du brauchst ja nicht dualistischer Philosoph zu werden ...

Nein, keine Angst, ich werde nicht dualistisch - und gehe barfuß, wenn es mir angenehm ist.

Gruß
Pedro

Apropos Askese....

Don Primo, Stammposter, Tuesday, 26.09.2006, 12:07 (vor 6572 Tagen) @ Pedro

In dem Zusammenhang gab es ja noch den guten Diogenes, der ja auch auf Schuhe verzichtet haben dürfte. Ohne daß ich das jetzt belegen könnte. So gibte ja die Anekdote, daß er seinen letzten Besitz, einen Trinkbecher weggeworfen haben soll, als er einen Jungen sah, der mit den Händen Wasser aus einem Bach schöpfte und trank.
Bei Diogenes fällt mir immer eine andere Anekdote ein: Diogenes wurde angeblich einmal übel angegangen, weil er in der Öffentlichkeit masturbiert habe. Seine Antwort soll gewesen sein, daß eine an sich anstößige Handlung ja nicht dadurch besser werde, daß man sie im Verborgenen tue. Also bräuchte er sich dann auch keinen Zwang antun.
Das vielleicht zur Ermutigung derer, die sich noch nicht trauen in der Öffentlichkeit barfuß zu laufen. ;o)

Apropos Askese....

Guenther, Tuesday, 26.09.2006, 13:07 (vor 6572 Tagen) @ Don Primo

Bei Diogenes fällt mir immer eine andere Anekdote ein: Diogenes wurde angeblich einmal übel angegangen, weil er in der Öffentlichkeit masturbiert habe. Seine Antwort soll gewesen sein, daß eine an sich anstößige Handlung ja nicht dadurch besser werde, daß man sie im Verborgenen tue. Also bräuchte er sich dann auch keinen Zwang antun.
Das vielleicht zur Ermutigung derer, die sich noch nicht trauen in der Öffentlichkeit barfuß zu laufen. ;o)

Hi Don Primo!

Die Episode kenn ich (aus dem Philosophie-Historiker Diogenes Laertios, VI 46) mit einem etwas anderen Statement des Philosophen (englische Übersetzung einkopiert von http://classicpersuasion.org/pw/diogenes/dldiogenes.htm):

On one occasion he was working with his hands in the market-place, and said, "I wish I could rub my stomach in the same way, and so avoid hunger."

Die Quintessenz dieser Episode ist, wie einfach man seine natürlichen Bedürfnisse befriedigen kann, letztlich also auch asketisch, wenngleich hier die Askese nicht auf Unterdrückung, sondern unproblematische Befriedigung des Triebs abzielt.

Gruß, Guenther

Nochmal Sokrates

Kai (VS) @, Tuesday, 26.09.2006, 14:24 (vor 6572 Tagen) @ Guenther

Hallo, Günther,

und insbesondere im Christentum stärkstens nachwirkt). Was Sokrates >als historische Person gewollt hat, wissen wir einfach nicht - wir >wissen nur, wie Platon ihn im Sinne seiner Philosophie dargestellt >hat.

Damit hast du natürlich vollkommen Recht, aber darum geht's mir jetzt nicht. Worum's mir geht, ist, dass eine anerkannt hochphilosophische "Figur" keine Weltanschauung zum Thema Barfuß erklärt, sondern dass dieser Teil der Weltanschauung einfach im Tun besteht.

Die Grundfrage ist: Was kann eine Weltanschauung im Sinne des Antidiskriminierungsgesetzes sein?

Immerhin hast du ja jetzt erklärt, dass man auf jeden Fall u.A. die sokratische Bedürfnislosigkeit dafür heranziehen kann. Weitere Weltanschauungen, die eher in Richtung Genuss gehen, können wir ja auch noch finden.

Gruß, Kai (VS)

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