Barfuß im Dienstbotenheim Oeschberg (Hobby? Barfuß! 2)

Michael aus Zofingen, Stammposter, Monday, 25.09.2006, 11:29 (vor 6638 Tagen)

Man redet ja immer von der "guten alten Zeit". War die wirklich so gut, etwa vor 100 Jahren und mehr? War man froh, wenn man auf dem Land lebte, etwa im Emmental? Gewiß, es gab (und gibt) dort stattliche Bauernhöfe. Und wer dort einen Hof besaß, der brauchte auch kaum hungern. Aber auch die Bauern mußten hart arbeiten, es gab ja noch keine Maschinen wie heute. Und selbst wenn auch die Kinder reicher Bauern im Sommer barfuß liefen (die Kinder armer Leute das ganze Jahr über), so hatten sie sicher keine sorgenfreie Kindheit. Aber die meisten Leute auf dem Lande waren halt keine Bauern, sondern Knechte und Mägde, die von ihren Herren mal mehr, mal weniger "ausgebeutet" wurden. Nichts 8-Stunden-Tag! Nichts 5-Tage-Woche. Und nach Feierabend durften die Knechte und Mägde nicht einfach ihre "Dienstkleidung in die Ecke pfeffern" und barfuß irgendwo hingehen. Viel Geld bekamen die Knechte nie zu Gesicht, aber für Unterkunft und Verpflegung war ja gesorgt. Wenn sie aber nicht mehr arbeiten konnten? Während die Bauern ins Altenteilerhaus zogen, blieb den Knechten Mägden meist nur das Armenhaus. Da war es schon eine Errungenschaft, daß vor 100 Jahren in Oeschberg bei Koppigen (Kanton Bern) ein Dienstbotenheim eingerichtet wurde. Dieses Heim existiert noch heute, und am vergangenen Wochenende war Tag der offenen Tür:

http://www.dienstbotenheim.ch/content/view/26/49/

Auch ich wollte mir dieses Heim ansehen und radelte am letzten Samstag dorthin, so daß ich gegen 10 Uhr dort war. Selbstverständlich ließ ich meine Schuhe gleich zu Hause. Wie würden wohl die alten Bewohner, für die vielleicht barfuß gleich Armut bedeutet? Oder die Betreuer? Oder andere Besucher? Um 10.30 Uhr gab es die erste Führung. In meiner Gruppe hatte der Präsident der Stiftung das Wort. Er trug ein helles Oberhemd und eine helle lange Tuchhose, Krawatte und Jackett hätten zweifellos auch gut dazu gepaßt. Jeder hätte sicher geglaubt, er würde zu der Kleidung schwarze oder braune Halbschuhe und dunkle Socken tragen. Aber nichts da! Er trug Sandalen ohne Socken. Meine Mutter hätte sich über eine solche Kombination sicher aufgeregt, hier aber tat es keiner. Genauso wenig wie sich irgendeiner an meinen fehlenden Schuhen, meiner kurzen Hosen oder an meinem Träger-T-Shirt störte.

Die Führung war wirklich interessant. Es lag nur vergleichsweise wenig Schotter auf dem Freigelände, überall Gras oder ausgestreute Borke oder Platten. Auch die Böden in den Gebäuden waren abwechselungsreich für die Füße: Mal kühle Fliesen, mal angenehmen Teppiche, mal Holztreppen. In einem Gebäude war auch ein roher Holzfußboden, angeblich derjenige Raum, der von den alten Bewohnern am liebsten benutzt wird. Dabei handelt es sich nur um eine Art Werkstatt im Stallgebäude, mit Kohlenofen und Ofenrohr durch den Raum. Hier ist quasi die Zeit stehen geblieben, ohne neumodischen Kram. Vielleicht fühlen sich hier die Leute an ihre aktive Dienstzeit erinnert, an die "gute alte Zeit", trotz Armut? Sicher nicht aufgrund der Tatsache, daß sich der Fußboden unter den nackten Füßen angenehm anfühlte wie der Belag einer gedeckten Holzbrücke.

Eine ältere Besucherin verbesserte den "Führer", weil ihm das Wort "Insasse" anstelle von Bewohner rausgerutscht war. Mit der Begründung, Insassen gäbe es im Gefängnis. Ich hatte so den Eindruck, als ob es den alten Bewohnern nicht allzu sehr behagte, plötzlich mit so vielen fremden Leuten konfrontiert zu sein. Die meisten der alten Leute trugen auch "Sonntagskleidung" im herkömmlichen Sinn (und das sicher nicht, weil die Betreuer es befohlen haben), während die Besucher meist Freizeitkleidung trugen. Flipflops und Sandalen ohne Socken waren bei Männern, Frauen und Kindern nicht selten, auch Männer in kurzen Hosen waren vorhanden. Aber ohne Schuhe war ich der einzige. Die anderen wissen nicht, was sie versäumt haben. Dumme Bemerkungen gab es keine, die Erwachsenen schienen meine Barfüßigkeit nicht zu bemerken, nur einige Kinder machten große Glotzaugen.
Gegen 11.30 Uhr verließ ich das Heim und radelte in Richtung Solothurn.

Schöne Grüße

Michael aus Zofingen

Barfuß im Dienstbotenheim Oeschberg

Guenther, Monday, 25.09.2006, 12:35 (vor 6638 Tagen) @ Michael aus Zofingen

Aber die meisten Leute auf dem Lande waren halt keine Bauern, sondern Knechte und Mägde, die von ihren Herren mal mehr, mal weniger "ausgebeutet" wurden. Nichts 8-Stunden-Tag! Nichts 5-Tage-Woche. Und nach Feierabend durften die Knechte und Mägde nicht einfach ihre "Dienstkleidung in die Ecke pfeffern" und barfuß irgendwo hingehen.

Hi Michael!

Ich glaube, da überträgst Du Deine eigene Situation etwas zu direkt in die Vergangenheit. Die "Dienstkleidung" dieser Knechte und Mägde war "barfuß" (oder meinst Du, man hätte ihnen beim Umgang mit Großvieh Sicherheitsschuhe auferlegt wie Dir im Labor?), und wenn sie denn mal etwas besonderes unternahmen, etwa ins nächste Dorf zum Tanzen gingen, werden sie alles getan haben, um sich - soweit es ihnen möglich war - fein zu machen incl. Schuhe und Strümpfe.

Gruß, Guenther

Holzschuhe!

Michael aus Zofingen, Stammposter, Monday, 25.09.2006, 13:41 (vor 6638 Tagen) @ Guenther

Hallo Guenther,

im Heim waren auch Bilder, und nirgends waren barfüßige Leute zu sehen. Sicherheitsschuhe gab es zwar noch nicht, aber unbequeme Holzschuhe waren bei erwachsenen Knechten durchaus üblich. Sie hielten dem Tritt einer Kuh durchaus stand und wurden in der Regel selber hergestellt. Holz gab es ja reichlich.

Bei weiblichen Bediesteten muß man vermutlich zwischen denen unterscheiden, die von anderen Leuten gesehen wurden oder nicht. Ein wohlhabender Bauern wollte gegenüber anderen Bauern durchaus damit angeben, daß seine Untergeben nicht in Lumpen gehen mußten.

Es gab also auch damals schon so etwas wie "Kundenkontakt".

Schöne Grüße

Michael aus Zofingen

Holzschuhe!

Guenther, Monday, 25.09.2006, 14:01 (vor 6638 Tagen) @ Michael aus Zofingen

Hi Michael!

Holzschuhe dürften in der Tat der zeitgerechte Kompromiß sein. Daß die Knechte das Bedürfnis hatten, diese nach der Arbeitszeit "in die Ecke zu werfen", mag sein, aber das lag sicher nicht am Bedürfnis, barfuß zu sein (dafür lag "barfuß=Armut" als Klischee noch viel zu nah), sondern an den Unbequemlichkeiten.
Die von Dir entwickelte Problematik mit der Barfüßigkeit weiblicher Bediensteter und dem "Kundenkontakt" spiegelt sich möglichewrweise in dem Volkslied "Feinsliebchen, Du sollst mir nicht barfuß gehen", welches einen solchen Dialog schildert (vgl. etwa http://www.walkar.de/Hp%201/texte/InterVL/sg10.PDF).

Gruß Guenther

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