Stadtmenschen und Dorfmenschen (Hobby? Barfuß! 2)

Michael aus Zofingen, Stammposter, Wednesday, 16.08.2006, 08:45 (vor 6613 Tagen) @ Pedro

"das liegt ganz einfach daran, dass in der Stadt zu viele Menschen sind. Man kann sich nicht mit jedem befassen und wird desinteressiert an sienen Mitmenschen. Man mancht keine blöden Bemerkungen, aber man schaut blöd. Dorfmenschen setzen sich mit den anderen Menschen intensiver auseinander, und am Ende eines (mitunter langen und schwierigen) Prozesses steht dann meist Respekt vor dem anderen."

Hallo Pedro,

heutzutage ist es nicht so einfach, zwischen "Stadt" und "Land" zu unterscheiden. Nicht jede politische Gemeinde ohne Stadtrecht ist ein "Dorf". Man muß auch die Art der Bebauung in Betracht ziehen:

Wenn man sich in einem typischen Bauerndorf befindet, dann trifft zweifellos das zu, was Du beschrieben hast. Jeder kennt jeden, die Leute sind aufeinander angewiesen, und gegenüber Fremden ist man oft wohlwollend-zurückhaltend. Ein alteingesessener Dorfbewohner würde vielleicht skeptisch dreinblicken, wenn man barfuß daherkommt, vielleicht auch fragen, aber niemals versuchen, dem Barfüßer Schaden zuzufügen.

In den Zentren großer Städte kennt man sich kaum noch. Andauernd kommen Auswärtige zum Einkaufen, zum Arbeiten, als Touristen. Auch Bettler kann man dort antreffen. Die Bewohner haben sich daran gewöhnt, da fällt man als Barfüßer auch nicht mehr auf.

In den Zentren von kleineren Orten, die in erster Linie vom Tourismus leben, muß man differenzieren: Wenn die Touristen in erster Linie einfache Leute sind, dann starren vielleicht die Touristen einen Barfüßer an, aber den Eingeborenen ist es egal. Weitere Folgen hat es nicht. In Orten, in denen zwar eher betuchtere Touristen erwünscht sind (z.B. Ascona, Interlaken), in denen man aber auch als einfacher Bürger willkommen ist, sieht es nicht anders aus. Mondäne Orte, die noch abseits der großen Verkehrsströme liegen, sind nicht unbedingt ein ideales Pflaster für Barfüßer (zumindest nicht für solche, die auch sonst einfach gekleidet sind). Dort wollen die Reichen unter sich bleiben. Jeder der arm ist (oder auch nur für arm gehalten wird), hat sich außer Sichtweite der "High Society" aufzuhalten. Vor etwa 10 Jahren wurde ich mal in St. Moritz von der Polizei kontrolliert, als ich mit dem Fahrrad durch den Ort fuhr, vermutlich hat mich irgendein arroganter Kellner (auf Anweisung eines steinreichen Gastes?) angeschwärzt. Dabei war ich nicht einmal barfuß, aber als Radfahrer in verschwitzen T-Shirt, kurzen Hosen, Turnschuhen ohne Socken, beladen mit Schlafsack ist man wohl eine Zumutung für "bessere Leute".

Wie sieht es in historischen Kleinstädten (z.B. Zofingen) aus? Dort kennt auch jeder jeden. Dort bemerkt man noch Relikte aus dem Mittelalter. Damals waren die Bürger eine verschworene Gemeinschaft, die sich als bessere Leute fühlten im Vergleich zu den Bauern in den umliegenden Dörfern. Die Städte waren von Mauern umgeben, die Bürger verteidigten die Stadt vor potentiellen Eindringlingen. Das waren nicht nur fremde Heere, sondern in erster Linie Bettler, Zigeuner usw. Es hieß zwar "Stadtluft macht frei", jedoch bestimmten die Schultheißen sehr wohl, wer sich in den Mauern niederlassen durfte und wer nicht. Diese Arroganz beobachte man in manchen Kleinstädten noch heute. Manch alteingesessener Zofinger glaubt noch heute, er wäre was besseres als ein Oftringer, Strengelbacher, Brittnauer usw. Einer, der aus diesen umliegenden Ortschaften kommt, wird nie als echter Zofinger akzeptiert, auch wenn er mehr als 20 Jahre in der Stadt gelebt hat. Noch argwöhnischer sind die Zofinger gegenüber Ausländern. Und wer WIEDERHOLT barfuß läuft, noch dazu in Kombination mit kurzen Hosen, wird der Polizei gemeldet. Da im Mittelalter die Bürger ihre Stadt mit Spießen verteidigt hatten, nannte man sie Spießbürger oder "Spießer". Und die heutigen Spießer machen im Grunde ja nichts anderes. Früher versuchten sie alles Fremde nicht in die Stadt zu lassen und zu bekämpfen, heute auch. Nur war es früher sicher bitter nötig, heute zumindest teilweise, z.B. was Kriminalität anbelangt. Aber daß viele Zofinger bereits einen Barfüßer als "Eindringling" ansehen, grenzt an Kleinkariertheit.

In Hochhaussiedlungen (egal ob als Bestandteil einer Stadt oder einer gesichtslosen Großgemeinde) kennt man sich auch nicht gegenseitig, also kommt man dort meist auch ungeschoren als Barfüßer davon.

Fehlen noch die Siedlungen mit "Gartenzwergidylle". Unabhängig davon, ob sie Bestandteil einer Stadt, einer Großgemeinde oder als Neubausiedlung eines Dorfes angelegt sind, hier geht es ähnlich zu wie in einer Kleinstadt. Hier wimmelt es nur so von Spießern. Man wird sehr argwöhnisch betrachtet, und die Polizei ist schnell zur Stelle. Die Gegend um den Bahnhof von Lohmen (weit abseits vom Ortszentrum) ist ein typisches Beispiel. Als ich dort am verlotterten Bahnhof ankam, um von anderen Teilnehmern der Barfußwanderung im Elbsandsteingebirge abgeholt zu werden, waren Spießer und Polizei schneller.

Schöne Grüße

Michael aus Zofingen


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