@Mercators These: barfuß+Schichtdenken (Hobby? Barfuß! 2)

Guenther, Thursday, 15.06.2006, 09:48 (vor 6741 Tagen)

Hi Mercator!

Du fragst:
"Wie kömmt's, dass die Reichen irgendwann (wann eigentlich?) begannen, ihren Reichtum durch Schuhtragen auszudrücken? Ich gehe grundsätzlich erstmal davon aus, dass es viel angenehmer ist, barfuss zu laufen (Klima etc. vorausgesetzt). Warum taten die sich das also an?"
Erstmal ist daß wohl ein bißchen zu "barfuß-optimistisch". Wir gehen also gern abrfuß, weil wir es freiwillig tun. Wenn wir im Winter stundenlange Schneewanderungen machen oder jetzt über einen heißen Sandstrand gingen, zögen wir (ich tu es zumindest) Schuhe an. Jemand, der ohne Schuhe gehen MUSS, weil er keine hat, empfindet solche Situation als sehr problematisch. Die mittelalterliche Bauersmagd, die ihre Aufgaben barfuß verrichtet, ist eine schöne und romantische Vorstellung. Aber wenn man sich denn mal in bestimmte Situationen reinversetzt, etwa eine wochenlange Frostperiode im Winter, oder (um noch mal den Pferdethread zu berühren), wenn sie hilflos einem großen Tier, etwa einer Kuh mit ungeschützten Füßen gegenübersteht, wird sie in diesen Situationen ihre Barfüßigkeit verwünschen und den bauern (berechtigermaßen) um seine STiefel beneiden.
Du sprichst aber auch das sehr interessante Problem an, wie Schuhe zum Status Symbol der reichen Schicht wurden. So was kann man gut an Kulturen studieren, die im Prinzip von Natur aus barfu0ß sind, z.B. die Assyrer in Mesopotamien, wo es in der fruchtbaren Ebene an sich keine Veranlassung zum Schuhetragen gibt. Guck dir mal beispielsweise den Artikel "Fußbekleidung" im Reallexikon der Assyriologie an. Das ist eine Auswertung der zahlreichen von diesem Volk erhaltenen Abbildungen, wer Schuhe trägt und wer nicht (ich kann es dir bei Bedarf einscannen und zumailen, sind nur 2 Seiten, aber höchst informativ, Verfasser ist ein Mensch anmens Falkner).
Die Darstellung beginnt in einer "goldenen" Urzeit, wo alle naheliegnderweise in Mesopotamien gingen, auch König und Krieger (im 3. Jahrtausend vor Christus). Dann folgt eine spätere Epoche, wo man in "unwirtlichen Gegenden" Sandalen trägt. Und dann fangen die Herrscher einer bestimmten Eoche an, geflochtene Schuhe zu tragen. Die Sandalen in unwirlichem Gelände sind sicher sinnvoll, die Flechtschuhe für die König dagegen purer Luxus.
Und dann läuft das ganze weiter unter den beiden Koordinaten a) "Schuhe zum Schutz der Barfüße" und b) "Schuhe als Statussymbol". Zunächst sind alle Krieger noch barfuß, haben Sandalen nur im Gebirge und bei der Jagd (immer an die geographischen Bedingungen denken: flache fruchtbare Ebene, barfuß eigentlich selbstverständlich). Und dann plötzlich der Wandel: Auf einmal trägt auch die Leibgarde des Königs Schuhe, ebenso "Würdenträger aus seinem Umfeld". Wahrscheinlich nicht im Gebirge. Die Krieger (wohl nicht als einfaches Volk, sondern als eine soldateske Oberschicht zu denken)sind schließlich ausschließlich beschuht (bei Feldzügen wohl auch empfehlenswert), aber: "zum Heer gepreßte Fremdländer" (etwas altertümliches Deutsch) gehen barfuß, "ebenso das Dienstpersonal". Also die beschuhten Herrn Krieger (wie gesagt Soldatenaristokratie)legen nicht nur Wert auf eigene Beschuhung, sondern auuch darauf, von barfüßigem Personal und Sklaven umgeben zu sein (wie es deren Füßen im Gebirge oder bei Feldzügen ergeht, interessiert natürlich keinen).
Aus diesem ganzen Ablauf (denn ich sinngemäß etwas verkürzt wiedergegeben habe, und der Verfasser war gewiss ein seriöser Archäologe, der nur Bilder ausgewertet hat und kein Interesse an der sozialen Dynamik hatte)ersieht man m.E. folgendes: Die Schuhe waren in ihrer allerersten Phase zumindest teilweise ein reines Nutzgut, weil man eben im Gebirge oder bei langen Feldzügen nicht barfuß sein wollte. Sofort wird diese primäre Nutzfunktion aber überlagert von gesellschaftlich-statusmäßigen Motiven, derart, daß bestimmte Schichten (Soldaten + Würdenträger) grundsätzlich Schuhe trrugen, und deren Gesinde grundsätzlich barfuß sein mußte.
Eine "sinnvolle Nutzung" von Schuhen, derat, daß man diese in gebirgigen Gegenden, also wo man nicht gut barfuß sein kann, aber dann beim Betreten der flachen Ebene wieder ablegt und (wie es naheliegt und wohl auch bequem ist) barfuß geht, hat es nicht oder nur ganz kurze Zeit gegeben. Gleicht bildet sich eine privilegierte Schicht heraus, die Schuhe auch ohne praktischen Nutzen als Status symbole tragen und auf die Barfüßigkeit ihres Personals (um sich davon absetzen zu können wertlegen).
Ich hab mal von einer indischen Kaste gehört (ohne daß ich das jetzt belegen könnte, wie das mit den Assyreren), die zum Barfußgehen verpflichet ist und wo man sogar mal eine Frau aus dieser Kaste gesteinigt hat, weil sie statt barfuß in Plastiksandalen rumlief. Und solches Statusdenken wirkt auch heute noch stärker nach, als wir glauben, vor allem in der negativen Form, so daß eben keiner zum "unteren Stand" gehören will und man sich daher die Statussymbole des oberen (Schuhe) zwanghaft aneignet, ohne deren Notwendigkeit im Einzelfall zu hinterfragen.

Gruß, Guenther

Da geht es vermutlich nicht nur um Schuhe

Georg @, Stammposter, Thursday, 15.06.2006, 11:13 (vor 6741 Tagen) @ Guenther

Hallo Guenther,
vielen dank für diese (zumindest für mich) wirklich interessanten Ausführungen.
Wie ich schon im Betreff schrieb, gehe ich davon aus, dass die Schuh - Frage allerdings nur ein Teil einer allgemeinen Bekleidungsfrage ist - sprich: andere Kleidungsstücke dürften parallel dazu auch aufwändiger gestaltet worden sein.
Gruß Georg
PS: In Hinblick auf einen gegenwartsbezug zumindest für die heutigen Industriegesellschaften der Erde wäre allerdings festzuhalten, dass es sich dabei (barfuß = arm oder unaufwändig gekleidet = arm) um antiquierte Wertmaßstäbe handelt. Das ist aber noch nicht in allen Köpfen angekommen - sei es, dass man schlicht noch nicht darüber nachgedacht hat, sei es (was leider häufiger der Fall zu sein scheint), dass die bescheidene Ausstattung der Betroffenen mit Intelligenz den Denkprozess verhindert.

Da geht es vermutlich nicht nur um Schuhe

Guenther, Friday, 16.06.2006, 09:10 (vor 6740 Tagen) @ Georg

Hi Georg!

Was in Deinem PS steht, deckt sich genau mit meiner Ansicht.
Natürlich dürften mit der "standesbedingten" Barfüßigkeit auch andere Faktoren wie die sonstige Kleidung eine Rolle gespielt haben. Aber damls werden sich die Geänder weniger durch ihren Schnitt als durch das aufwändige oder weniger aufwändige MAterial unterschieden haben, und das ist auf Reliefs nicht gerade gut darstellbar. Außerdem ist die Kleiderfrage (da ja - auch bei den Assyreren - kaum einer nackt geht) immer eine Frage des mehr oder weniger bzw. besser oder schlechter. Bei Barfuß gibt es dagegen nur ein Ja oder Nein. Und auch heute ist ja die Frage, ob einer ein Jacket von Amani oder von CundA anhat, nicht so ins Auge springend, mancher, der sich nicht für Mode interessiert (mich eingeschlossen) erkennt diesen Unterschied nicht mal. Aber barfuß gegenüber beschuht ist immer irgendwie viel signifikanter. Hängt vielleicht damit zusammen, daß der Barfüßige immer ein wenig auf die Umwelt achten muß und sich eher defensiv verhält (was ja gar nicht mal das Schlechteste ist), der Beschuhte dagegen alles plattrampeln kann. Ich erinnere mich an einen Mitschüler zu Oberstufenzeiten, der auf einmal Spaß daran fand, so eine Art "Bundeswehr-Knobelbecher" zu tragen und gleichzeitig mit dieser (zumindest im Sommer doch etwas sonderbaren Gewohnheit) immer beim Gang durch die Klasse immer über alle alle umherstehenden Schultaschen wie über "Feindesland" trampeln mußte, bis man ihm denn mal deutlich machte, daß seine neuen Kleidungsgewohnheiten nicht unbedingt zur Beschädigung fremden Eigentums führen sollten ...

Gruß, Guenther

@Mercators These: barfuß+Schichtdenken

Ulrich (Berlin) @, Stammposter, Thursday, 15.06.2006, 22:10 (vor 6740 Tagen) @ Guenther

Hallo Günther

Ein interessantes Thema.
Ich sehe hier auch ein Zeichen für Angabe. Wer etwas hat, dass andere nicht haben, ist stolz darauf und will, dass es alle sehen. Daran hat sich vermutlich seit den Zeiten der Assyrer nicht viel geändert. Wenn man sich damals Schuhe leisten konnte, bzw. einfach nur welche hatte, wollte man das auch demonstrieren und trug sie dann auch, egal ob sinnvoll oder nicht. Zumindst dürfte das in den oberen Gesellschaftsschichten so gewesen sein, wo die Beschaffung neuer Schuhe nach Abnutzung der alten, kein finanzielles Problem darstellte.
Ärmere Leute werden sehr wohl überlegt haben, ob man vorhandene Schuhe auch nutzen oder sie lieber schonen sollte. So ging man im Sommer meist lieber barfuß. Bei besonderen Anlässen wie Feiern oder Gottesdiensten machte man sich dann aber fein und zog dann vielleicht auch Schuhe an, obwohl es eigentlich nicht nötig wäre, wenn nicht die gesellschaftlichen Zwänge bestünden. Die gesellschaftlichen Zwänge müssen aber zunächst mal entstanden sein. In islamischen Ländern zieht man sich z. B. die Schuhe zum Gottesdienst aus.
Gesellschaftliche Zwänge zum Tragen von Schuhen dürften vermutlich dadurch entstanden sein, dass einige voller Stolz zeigen wollten, dass sie Schuhe haben und andere mitziehen mussten, um nicht sozial schlechter gestellt zu werden.
Ich glaube so führte das Angebertum ("Seht her, ich kann mir Schuhe leisten") dazu, dass schließlich alle Leute Schuhe trugen.

Oder seht ihr das anders?

Viele Grüße

Ulrich

Beeindruckend!

Mercator, Stammposter, Friday, 16.06.2006, 11:06 (vor 6740 Tagen) @ Guenther

Hi Guenther,

vielen Dank für Deine Ausführungen. Das will erstmal in Ruhe verdaut werden.

Du hast einen plausiblen Beginn für das Verhalten "Schuhetragen als Statussymbol" beschrieben. Demnach hat es einen (mit Sicherheit fließenden) Übergang gegeben vom Schuh bzw. Fellwickel als reiner Schutz hin zum Schuh als Statussymbol. Uns ist dabei klar, dass selbst bei den ersten Schuhanfängen so etwas wie Status eine Rolle gespielt haben dürfte ("Ugh hat Fellwickel aus Ziegenfell, aber ICH nehme nur Mammut, das ist zwar etwas schwerer zu bekommen, aber ich denke, das bin ich mir wert...")

Mir ist jetzt auch klar geworden, dass die Frage, warum die Reichen (bzw. Statushöheren) sich Schuhe als Statussymbol antun, eigentlich blödsinnig ist. Immerhin gibt es noch viel, viel beknacktere (unbequemere und gesundheitsschädlichere) Methoden, Status auszudrücken: Piercings, Nasenringe, Lippendehnung (Papua), HWS-Streckung, High-Heels etc. etc.

Der BF-Sache wäre gedient, wenn wir eine soziale Norm setten könnten, die besagt: Inzwischen kann jede/r DeppIn Schuhe tragen. Mein sozialer Status ist so unglaublich hoch, dass ich mir die Freiheit nehme, BF zu laufen.

Mit angeregt-grüblerischen Grüßen

Mercator

@Mercators These: barfuß+Schichtdenken

Alex Wittler @, Friday, 16.06.2006, 16:48 (vor 6740 Tagen) @ Guenther

Hallo Günther

Im Prinzip scheinst du mir die Geschichte des Schuhetragens richtig einzuschätzen. Es gibt aber starke kulturelle Unterschiede. Ich habe z.B. vor einigen Jahren mal ein Foto des Königs von Lesotho in traditioneller Tracht gesehen, ausgestattet mit Mütze und Umhang aus Löwenfell, Goldschmuck und Zepter, aber barfuß. In Lesotho sind Schuhe anscheinend nie ein Statussymbol gewesen.

In Neuseeland ist es nach dem, was ich aus Fernsehen und Berichten weiß, sehr viel verbreiteter, barfuß zu gehen, als in Europa, und das, obwohl es, abgesehen von den Maori, im Grunde ein Gebiet der europäischen Kultur ist. Vielleicht geht die größere Akzeptanz des Barfußgehens auf Einflüsse der Maorikultur zurück.

Noch ein Gedanke: Noch vor wenigen Jahrhunderten war es ein Zeichen großer Armut, ohne Hut in der Öffentlichkeit herumzulaufen. Barfuß und barhäuptig war fast gleichermaßen ein Zeichen von Armut und / oder Unfreiheit. Heute laufen in Mitteleuropa 90% der Bevölkerung barhäuptig herum, vollkommen unabhängig von ihrer sozialen Stellung. Da Schuhe in Europa seit gut einem halben Jahrhundert kein Statussymbol mehr sind, kann man vielleicht darauf hoffen, dass in einem weiterem halben Jahrhundert das Barfußgehen im Sommer so normal ist wie jetzt die Barhäuptigkeit, wenn auch in 50 Jahren sicher noch nichts für 90% der Bevölkerung, aber vielleicht schon für ein Viertel.

Alex

@Mercators These: barfuß+Schichtdenken

Markus U., Stammposter, Saturday, 17.06.2006, 23:28 (vor 6738 Tagen) @ Alex Wittler

Hi Alex!

Noch ein Gedanke: Noch vor wenigen Jahrhunderten war es ein Zeichen großer Armut, ohne Hut in der Öffentlichkeit herumzulaufen. Barfuß und barhäuptig war fast gleichermaßen ein Zeichen von Armut und / oder Unfreiheit. Heute laufen in Mitteleuropa 90% der Bevölkerung barhäuptig herum, vollkommen unabhängig von ihrer sozialen Stellung. Da Schuhe in Europa seit gut einem halben Jahrhundert kein Statussymbol mehr sind, kann man vielleicht darauf hoffen, dass in einem weiterem halben Jahrhundert das Barfußgehen im Sommer so normal ist wie jetzt die Barhäuptigkeit, wenn auch in 50 Jahren sicher noch nichts für 90% der Bevölkerung, aber vielleicht schon für ein Viertel.

Ich sehe einen großen Unterschied zwischen dem vermeintlichen Nutzen von Hüten und Schuhen. Hüte gelten als entbehrlich und haben darüber hinaus den Nachteil, daß sie bei starkem Wind vom Kopf geweht werden können; außerdem galt es (außer bei Juden) früher als unangebracht, den Hut in geschlossenen Räumen aufzubehalten (und in der Kirche hatte man ihn stets abzunehmen). Da lag die Gefahr, den Hut irgendwo zu vergessen, durchaus nahe, und außerdem mag es so manchem als unpraktisch erschienen sein, den Hut beständig abzunehmen und wieder aufzusetzen. Doch auch heute sieht man noch viele bedeckte Köpfe - nur daß die klassischen Hüte weitgehend durch Kappen und Mützen ersetzt worden sind.
Bei Schuhen ist das anders - die gelten der Mehrheit der Bevölkerung jenseits aller Statusfragen als unentbehrlich. Die "typischen Fragen" (Ist das nicht kalt, tut das nicht weh etc.) geben insofern die Assoziationen wieder, die der breiten Bevölkerung auf Anhieb zum Barfußlaufen in der Stadt einfallen. Und manche Menschen sind anscheinend infolge schuhbedingter Degenerationen wirklich nicht in der Lage, sich ohne Schuhe angemessen fortzubewegen. Für meine Partnerin ist eine feingeschotterte Strekke, welche ich als angenehm empfinde, barfuß unbegehbar, weil ihr das zu "pieksig" ist. Sie kann fast ausschließlich auf Sand oder Gras (und ausnahmsweise auch mal auf sehr glatten Steinböden) barfuß laufen.

Barfüßige Sommergrüße,
Markus U.

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