Eine Hypothese (Hobby? Barfuß! 2)

Mercator ⌂, Stammposter, Monday, 12.06.2006, 16:17 (vor 6744 Tagen)

Hi all, ich würde mich freuen, Eure Meinung zu Folgendem zu erfahren:

Barfuß-Fakten XXIII: Keine Fakten, nur eine Hypothese

Ich habe gerade Tilman Röhrigs "Wie ein Lamm unter Löwen" gelesen, eine empfehlenswerte Geschichte um das Leben Friedrich II.

Passend zu meiner Empörung über unsere heutigen versifften Innenstädte sind Röhrigs Beschreibungen der Verhältnisse in mittelalterlichen Städten: Die Entsorgung von Abwässern fand auf der Strasse statt. Die Städte waren eine einzige Kloake, und die Menschen waren einigermaßen gewohnt, im Kot ihrer Mitmenschen zu leben. Man könnte zynisch ergänzen, dass es nur einer Pest bedurfte, die zwei Drittel der Bevölkerung dahinraffte, um von dieser legéren Hygieneauffassung abzurücken ...

Was das mit BF zu tun hat? Vielleicht sehr viel: Röhrigs Protagonisten reagieren auf die Situation zwar viel gelassener, als wir es angesichts der sprichwörtlichen Bahnhofsklos tun, aber sie sind dennoch bemüht, den direkten Kontakt mit den Fäkalien zu meiden. (Dass sie trotzdem oft hüfthoch damit bekleckert sind, beschreibt Röhrig nebenbei..)

Konsequenz: Städter, die es sich leisten können, tragen Schuhe

, zumindest selbstgefertigte Holzsandalen.

95 % der damaligen Bevölkerung waren in der Landwirtschaft tätig. Dennoch waren schon damals die Städter die Trendsetter. "Stadtluft machte frei", und Städte waren die Orte, wo Politik gemacht, geforscht und gehandelt wurde.

Es ist zumindest nicht auszuschließen, dass sich das (aus heutiger Sicht sinnlose) Schuhetragen hier als stabile soziale Norm etabliert hat. Und dass sich das dann bis heute tradiert (s. Artikel: "Versuch einer Erklärung, warum Leute trotz besseren Wissens auf Schuhen bestehen" weiter unten).

O.K., jetzt komme ich mit einer total revoluzzerhaft-utopisch-rationalistischen Heile-Welt-Fantasie:

Ich finde, wir sollten darüber nachdenken, ob eine Norm, die aus den Bedingungen des 13. Jahrhunderts resultiert, und dort für 5 % der Bevölkerung pfiffig war, 700 Jahre später immer noch unser Verhalten bestimmen sollte.

(Jetzt bin ich mit meinen Forderungen zu weit gegangen, wie?)

M.

Den Text findet Ihr auch hier:

[image] Mein barfuß-Weblog

Eine Hypothese

Kai (VS), Monday, 12.06.2006, 17:20 (vor 6744 Tagen) @ Mercator

Hallo, Mercator,

interessante Idee, klingt plausibel. Ich glaube zwar nicht, dass der Dreck in den Städten der eigentliche Grund fürs Schuhtragen war, aber es ist ein Argument.
Tatsächlich waren die Städter wohl einfach reicher und "feiner" und wollten sich optisch von den "Bauren" absetzen.

Gruß, Kai (VS)

Überlegung zur Hypothese

Guenther, Wednesday, 14.06.2006, 12:20 (vor 6742 Tagen) @ Mercator

Hi Mercator!

Interessante Theorie.
Warst Du mal in der antiken Stadt Pompeii, die in ihrem antiken Zustand vom Vesuv verschüttet wurde. Dort gibt es in geringen Abständen erhöhte Trittsteine auf der Straße, die heute nur noch gefährliche Stolperbalken sind. Ursprünglich bestand der Sinn dieser Steine darin, daß man nicht durch die auf der Straße verlaufende Kanalisation waten mußte.
Und die nicht-römische Bevölkerung von Pompeii war bestimmt großenteils unbeschuht. Dasselbe wie in Deinem mittelalterlichen Beispiel.
Allerdings glaube ich nicht, daß das barfüßige Waten im Kot die Pestepidemien entscheidend begünstigt hat. Epidemien dieser Art sind unter mittelalterlichen und antiken Verhältnisse (da besteht diesbez. kaum ein Unterschied) einfach nicht zu beherrschen, wegen fehlender Möglichkeiten von isolierter Krankenbehandlung, Impfschutz u.ä. Das barfüßige Laufen auf faekalienversifften Straßen hat damals genausowenig jemanden krankgemacht, wie etwa der barfüßige Gang aufs Bahnnofsklo.
Nur wenn einmal eine Infektion wütete, konnte man an deren AUsbreitung einfach nichts ändern im Ggs. zu heute. Aktionen wie diehjenigen, mit denen man etwa neuerdins ein Ausgreifen der Vogelgrippe verhindert hat, waren damals einfach technisch unmöglich.
Und ich glaub auch nicht, daß deswegen Städter im Mittelalter Schuhe getragen haben. Das war einfache eine Standes- und Geldfrage. Auf dem Land ging der Großbauer sicher mit Stiefeln, die einfache Magd barfuß. Und der reiche Kaufmann in der Stadt trug Schuhe, der arme Handwerkergeselle nicht. Aber in der Stadt sammelten sich halt die höheren Schichten, da war das Verhältnis anders: Auf dem Land hatte jeder große Bauer dutzende Knechte, deswegen gingen dort so viele Barfuß. Ich glaube, daß ist kein Stadt-Land, sondern ein Arm-Reich-Problem.
Gruß, Guenther

Überlegung zur Hypothese

Mercator, Stammposter, Wednesday, 14.06.2006, 16:06 (vor 6742 Tagen) @ Guenther

Hi,

schönen Dank für die Hinweise.

Ich werde meine Hypothese daraufhin wohl nochmal überarbeiten müssen, denn Dein Hinweis auf reich > Schuhe - arm > barfuß ist natürlich korrekt.

Allerdings müssen wir dann nochmal über die Folgefrage grübeln: Wie kömmt's, dass die Reichen irgendwann (wann eigentlich?) begannen, ihren Reichtum durch Schuhtragen auszudrücken? Ich gehe grundsätzlich erstmal davon aus, dass es viel angenehmer ist, barfuss zu laufen (Klima etc. vorausgesetzt). Warum taten die sich das also an? - Zumal wir heute die interessante Entwicklung haben, dass wir uns krummlegen und anpassen (ja, auch durch Schuhtragen), um irgendwann so privilegiert zu sein, dass wir uns auch das BF-Laufen wieder leisten können (Bsp. Britney oder der Lebensabend auf den Malediven)

Spannung ohne Ende

Gruß

Mercator

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