Barfuss im 20. Jahrhundert (Hobby? Barfuß! 2)

Walter (CH) @, Stammposter, Monday, 29.05.2006, 17:08 (vor 6692 Tagen)

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Grenzbahnhof Buchs SG in den 1920-er Jahren. Ein Expresszug der Linie Paris - Wien steht auf Geleise 1. Man beachte den Buben, der beim Kiosk die Ansichtkarten betrachtet. Er ist barfuss, absolut üblich damals in dieser Gegend. Vom Frühling bis Herbst gingen Kinder und Jugendliche, aber auch viele Erwachsene, ohne Schuhe. Man war gewohnt, über Kieswege und Stoppelfelder zu gehen bzw. zu rennen! Barfussgehen war nicht unbedingt nur lustbetont, sondern eine oekonomische Notwendigkeit, wobei wir Kinder im Frühling allerdings kaum warten konnten, bis wir die unbequemen Schuhe für ein paar Monate endgültig ins Gestell legen durften. Meines Wissens hörte das allgemeine Barfusslaufen etwa in den 60-er Jahren auf. Einerseits hatte das etwas mit dem steigenden Wohlstand, aber auch mit dem Zuzug von Familien aus andern Gegenden mit andern Sitten zu tun.

Barfuss im 20. Jahrhundert

Markus U., Stammposter, Tuesday, 30.05.2006, 15:15 (vor 6692 Tagen) @ Walter (CH)

Grenzbahnhof Buchs SG in den 1920-er Jahren. Ein Expresszug der Linie Paris - Wien steht auf Geleise 1. Man beachte den Buben, der beim Kiosk die Ansichtkarten betrachtet. Er ist barfuss, absolut üblich damals in dieser Gegend. Vom Frühling bis Herbst gingen Kinder und Jugendliche, aber auch viele Erwachsene, ohne Schuhe. Man war gewohnt, über Kieswege und Stoppelfelder zu gehen bzw. zu rennen! Barfussgehen war nicht unbedingt nur lustbetont, sondern eine oekonomische Notwendigkeit, wobei wir Kinder im Frühling allerdings kaum warten konnten, bis wir die unbequemen Schuhe für ein paar Monate endgültig ins Gestell legen durften. Meines Wissens hörte das allgemeine Barfusslaufen etwa in den 60-er Jahren auf. Einerseits hatte das etwas mit dem steigenden Wohlstand, aber auch mit dem Zuzug von Familien aus andern Gegenden mit andern Sitten zu tun.

Hi Walter,

danke für das interessante Foto; ich wußte noch gar nicht, daß die Eisenbahnen der Schweiz schon in den 20er Jahren des vorigen Jahrhunderts weitgehend (oder gar schon total?) elektrifiziert waren.
Da Du selbst freilich auch schon etwas älter bist, möchte ich Dich gerne fragen, ob es auch bei Euch in Deiner Kindheit allgemein üblich war, barfuß zu laufen. Wenn ja, wüßte ich weiter gern, bei welchen Gelegenheiten Schweizer Kinder seinerzeit Schuhe zu tragen pflegten und ob Du das Barfußgehen irgendwann wiederentdeckt hast oder ob Du durch all die Jahrzehnte einfach "dran" geblieben bist.

Barfüßige Sommergrüße,
Markus U.

Barfuss im 20. Jahrhundert

Walter (CH) @, Stammposter, Tuesday, 30.05.2006, 17:01 (vor 6691 Tagen) @ Markus U.

Lieber Markus

Vorerst eine kurze Antwort zur off-topic Frage: Die Schweiz als rohstoffarmes Land litt besonders unter der Kohlenknappheit während des ersten Weltkrieges. Die ersten Schritte zur Elektrifizierung der Schweizerischen Bundesbahnen kam deshalb einer Feuerwehrübung gleich. Hauptobjekt war die Gotthardlinie. Die später berühmten Elektrolok Be 4/6 (Gotthardschnellzugsmaschine) und Ce 6/8 (Krokodil) (Gotthardgüterzugsmaschine) mussten bestellt werden, bevor die Prototypen erprobt waren. Knapp, aber recht gut gibt http://de.wikipedia.org/wiki/Geschichte_der_Schweizer_Eisenbahn Auskunft.

Ich wuchs in Buchs, Kanton St. Gallen, auf (deshalb auch das Bild) und zwar in den vierziger und fünfziger Jahren. In dieser Gegend, die damals noch stark landwirtschaftlich geprägt war (Kleinbauern), gingen alle Kinder barfuss. So dürfte es in den meisten ländlichen Gebieten gewesen sein (ausser in den hochliegenden Siedlungen der Berggebiete, wo der Sommer sehr kurz ist), denn das Barfusslaufen ersparte den Eltern die Anschaffung von Schuhen für die schnellwachsenden Kinderfüsse. Wer nicht barfuss ging, war Aussenseiter, deshalb trugen auch die Kinder wohlhabender Eltern keine Schuhe. Es war ein regelrechter Wettbewerb, wer seine Eltern im Frühling zuerst überzeugt hatte, dass es nun Zeit war, die Schuhe wegzulassen. Auch in der Schule wurden die nackten Füssen problemlos von allen Lehrern akzeptiert, das Gegenteil wäre auf völliges Unverständnis gestossen. Schuhe trug man in der Regel am Sonntag, für den Kirchgang (aber auch nicht allgemein). Seltsamerweise konnte man sich eine barfüssige Bergwanderung kaum vorstellen. Da quälte man sich dann mit den Skischuhen (die allerdings noch nicht die Folterinstrumente von heute waren), denn Wanderschuhe im heutigen Sinne gab es natürlich nicht. Erwachsene Männer hatten Militärdienst geleistet und waren deshalb im Besitz von (hohen) Militärschuhen, die als zweckmässige Berg- und Wanderschuhe dienten. Auch bei meiner Freizeitbeschäftigung, der Pfadfinderei, trug man zur korrekten Uniform stets hohe Schuhe, allenfalls wurde innerhalb des Sommerlagergeländes barfuss gelaufen.

Meine Mutter stammte aus dem Kanton Aargau, einem schon in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts stark industrialisierten und deshalb wohlhabenderen Gebiet. Dort scheint das Barfusslaufen schon in ihrer Jugendzeit (also 10-er und 20-er Jahre) nicht mehr üblich gewesen zu sein.

Nein, meine Barfusskarriere hörte mit der Kindheit auf. Zur Ausbildung kam ich nach St. Gallen und in der Kantonshauptstadt im Gymnasium wäre natürlich (?) das Barfusslaufen undenkbar gewesen (die Regeln damals waren einfach noch strenger und wurden nicht hinterfragt). Auch meiner späteren beruflichen Tätigkeit und dem damit verbundenen Status wäre das Barfusslaufen in einer Kleinstadt wohl nicht gerade zuträglich gewesen. Es ist vielleicht ein Ausdruck der mit der Pensionierung zurückgewonnenen Freiheit, wenn ich mir heute gestatte, (fast) überall barfuss zu laufen, wobei ich nicht darauf aus bin, Leute zu beleidigen oder zu schockieren, d.h. also, dass ich von Fall zu Fall halt Schuhe anziehe. Meine guten Freunde und Bekannten kennen allerdings meinen Spleen und akzeptieren durchaus, wenn ich ihr Haus ohne Schuhe betrete.

Barfuss im 20. Jahrhundert

Peter (MR), Stammposter, Thursday, 01.06.2006, 23:25 (vor 6689 Tagen) @ Walter (CH)

Hallo Walter,
der "Zuzug von Familien aus andern Gegenden mit andern Sitten", den Du für die Abkehr vom Barfußlaufen in der Schweiz mitverantwortlich machst, hat sich in anderen Gegenden gerade gegenteilig ausgewirkt.
Ich wohne in Mittelhessen, und hier wurde es schon im 19. Jahrhundert für Kinder geradezu zwingend, immer Schuhe zu tragen. Schließlich zeugten die Eltern damit, dass sie sich diesen "Luxus" leisten konnten. Selbst auf den ältesten Schulbildern, die zwischen 1880 und 1900 aufgenommen wurden, tragen alle Kinder schwere, mit Nägeln beschlagene Schuhe, die Mädchen dazu noch ihre besondere Tracht.
Das änderte sich erst durch den Zuzug von Familien aus anderen Gegenden, nämlich von Flüchtlingen und Vertriebenen ab 1945. Manche von ihnen besaßen gar keine Schuhe für ihre Kinder, die deshalb das ganze Jahr über barfuß laufen mussten. Aber selbst wenn Schuhe vorhanden waren, wurden sie geschont und nur in den Wintermonaten getragen. Ab etwa 1946/47 entstanden in manchen hessischen Dörfern wieder Schulbilder, jetzt auch mit barfüßigen Kindern. Wahrscheinlich kamen alle fotografierten Barfüßer aus Flüchtlings- und Vertriebenen-Familien. Abgefärbt auf die "Eingeborenen" hat das allerdings kaum. Sie erlaubte ihren Kindern oft erst in den 1970er Jahren das Barfußlaufen.
Viele Grüße
von Peter

Barfuss im 20. Jahrhundert

Walter (CH) @, Stammposter, Saturday, 03.06.2006, 08:20 (vor 6688 Tagen) @ Peter (MR)

Eine kleine Korrektur: Mit dem Zuzug von Familien aus andern Gegenden waren andere (wohlhabendere) Gegenden der Schweiz gemeint. Das St. Galler Rheintal und das St. Galler Oberland waren bis in die 50er Jahre eher ärmlich. Mit dem wirtschaftlichen Aufschwung und den neuen qualifizierten Arbeitsplätzen kamen Leute aus städtischen Gebieten (Zürich und Umgebung), wo das Barfusslaufen längst nicht mehr üblich war. Vom Aufschwung profitierten natürlich auch die Einheimischen und damit wurde das Barfusslaufen wohl für die meisten "unschicklich" (obschon man auch jetzt noch gelegentlich barfüssige Kinder sieht).
Dass der Weg natürlich auch in der umgekehrten Richtung verlaufen kann, zeigst Du am Beispiel der Vertriebenen sehr schön. Allerdings: Wenn der Wohlstand zunimmt, verschwindet das Barfusslaufen, das ja dann als Anzeichen der Armut interpretiert wird. Wenn mich heute jemand fragt, warum ich barfuss laufe, sage ich gelegentlich:"Ja, sehen Sie, ich bin jetzt pensioniert, da kann ich mir halt keine Schuhe mehr leisten!" In Wirklichkeit wird wohl niemand, der sich auf diesem Forum zu Worte meldet, noch aus oekonomischen Gründen auf Schuhe verzichten!

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