Wiedermal ein "Outing" (Hobby? Barfuß! 2)

Daniele @, Wednesday, 05.04.2006, 13:19 (vor 6747 Tagen)

Schon seit geraumer Zeit besuche ich immer wiedermal eure interessante Webseite und lese gelegentlich in eurem Forum mit. Nicht so sehr aus einem persönlich-psychologischen Bedürfnis heraus als aus dem Bedürfnis, meine Identifikation und Solidarität mit den meisten von euch zu erklären und mit dem Anliegen, das Barfußlaufen bis in die letzte Nische gesellschaftlich zu emanzipieren, stelle ich mich hiermit kurz vor.
Ich bin Barfussläufer und will euch nicht mit allen Details meiner persönlichen Barfuß-Biographie langweilen, die nicht besonders spektakulär ist und so vielen im Forum bereits vielfach geschilderten Erfahrungen ähnelt. Nur ganz grob: Ich gehöre eher zu denen, die jetzt bei Temperaturen um die 15 Grad langsam beginnen, die Schuhe immer öfter zuhause zu lassen, im Hochsommer wenn immer es möglich ist (also in der Freizeit zu 100 Prozent) auf Schuhe verzichten, im Winter aber auf festes Schuhwerk inklusive Socken nicht verzichten können.
Nur einige Aspekte meiner persönlichen Barfuß-Biographie, die ich im Forum noch nicht gefunden habe (vielleicht auch nur, weil ich nicht so genau geschaut habe) möchte ich ansprechen:
Von meiner Kindheit und Erziehung als auch von meiner gesellschaftlichen Umgebung her war es - nein, keinesfalls verboten, wohl aber einfach denkunmöglich, sich im städtischen Bereich, also auf Straßen und Plätzen, in Geschäften, Schulen, öffentlichen Verkehrmitteln barfuß zu bewegen. Deshalb kam ich eigentlich nie wirklich auf die Idee, abseits von Wiesen, Almen, Stränden, Bädern, privaten Wohnbereich die Schuhe auszuziehen. Das liegt vielleicht daran, dass ich als Jugendlicher zwar immer für meine oft extrem non-konformistischen Einstellungen, Ansichten und Haltungen bekannt war, jedoch nie das Bedürfnis verspürte, das in einem non-konformistischen oder irgendwie auffälligen Outfit widerzuspiegeln.
Dann passierte etwas fast Unerklärliches: Als ich zum ersten Mal eine Gruppe von 6 oder 7 deutschen Jugendlichen durch die Fußgängerzone einer italienischen historischen Altstadt barfuß flanieren sah, völlig selbstverständlich und unbeschwert, eindeutig ohne Notfallschuhe, mit tiefschwarzen Sohlen - niemand außer mir schien im übrigen davon Notiz zu nehme - ja, da wusste ich, dass ich das auch machen will. Aber es war nicht so etwas, wie eine normale Vorbildwirkung, man sieht etwas Interessantes, probiert es dann vielleicht aus und findet es cool - nein, es fiel mir wie Schuppen von den Augen, ich hatte das Gefühl, dass ich das eigentlich schon immer gewollt hätte, ohne je auch nur einen bewussten Gedanken über das Barfußlaufen gedacht zu haben. Ich war von einem auf den anderen Moment zu einem Barfußlaufer geworden, und zwar vorzugsweise im städtischen Bereich. Hat jemand von euch bereits von einer ähnlich radikalen "Bekehrung" gehört?
Der zweite Aspekt, den ich anprechen möchte:
Grundsätzlich kostet es mir keine Überwindung, mich in der Öffentlichkeit ohne Schuhe zu zeigen. Ich versuche, eventuelle Reaktionen nicht einmal wahrzunehmen, was mir meistens gelingt (deshalb kann ich auch nicht sagen, ob mein Barfußlaufen auffällt oder nicht - selektive Wahrnehmung nennt man das). Trotzdem muss ich gestehen, dass ich nicht ganz frei bin von einer gewissen Scham: wenn ich nämlich unerwarteterweise eher flüchtigen Bekannten begegne, fühle ich mich nicht ganz wohl und versuche ihnen auszuweichen. Eine anonyme Öffentlichkeit sowie Freunde und Leute, die mich besser kennen, sind absolut kein Problem. Ich denke, es könnte vielleicht deshalb so sein, weil ich unbewusst Angst davor habe, auf das Barfußlaufen reduziert zu werden, und jemand, der mich nicht so gut kennt, könnte mich am ehesten etwa so charakterisieren: Daniel? Ja das ist der, der immer barfuß läuft... Sagen wir so: Ich arbeite daran, dass mir auch das egal wird.

Von wegen "wieder mal"

Mercator, Stammposter, Wednesday, 05.04.2006, 17:21 (vor 6747 Tagen) @ Daniele

Hi Daniel,

danke für den Text, der ziemlich neue Aspekte enthält. Ich kenne aus eigener Erfahrung auch dieses Schuppen-von-Augen-fallen, wenn ich feststelle, dass ich lange Jahre gedankenlos irgendwelchen Handlungsmustern gefolgt bin, um dann festzustellen, dass ich eigentlich was ganz anderes will. Barfußlaufen ist ein gutes Beispiel dafür.

Ich wünsche uns noch viele Augenöffner!

M.

Wiedermal ein "Outing"

Descalzar, Wednesday, 05.04.2006, 17:23 (vor 6747 Tagen) @ Daniele

Genau, wie Du es beschreibst, war es bei mir. In meinem Fall war es eine gleichaltrige Nachbarin, die im Sommer, als sie neben uns einzog, wie selbstverständlich barfuß lief. das war bei mir der auslösende Punkt. Wie in ddeinem Falle spürte ich auch plötzlich, daß ich nichts anderes wollte.
Auch ich bin nicht ganz frei von Bedenken, wenn ich im Winter barfuß durch die Stadt laufe. Aber inzwischen bin ich für meine "Verschrobenheit" bekannt. wenn ich zur Arbeit komme, schauen die Kollegen immer zuerst auf meine Füße, weil sie mich wohl sonst immer barfuß sehen und auch am Arbeitsplatz damit rechnen.

descalzar

Wiedermal ein "Outing"

Ulrich (Berlin) @, Stammposter, Wednesday, 05.04.2006, 19:14 (vor 6747 Tagen) @ Daniele

Hallo Daniele

Willkommen im Forum

Schon seit geraumer Zeit besuche ich immer wiedermal eure interessante Webseite und lese gelegentlich in eurem Forum mit. Nicht so sehr aus einem persönlich-psychologischen Bedürfnis heraus als aus dem Bedürfnis, meine Identifikation und Solidarität mit den meisten von euch zu erklären und mit dem Anliegen, das Barfußlaufen bis in die letzte Nische gesellschaftlich zu emanzipieren, stelle ich mich hiermit kurz vor.

Hoffentlich gelingt dir diese gesellschaftliche Emanzipation des Barfußlaufens. Gemeinsam schaffen wir es vielleicht irgendwann, und je mehr wir werden, desto besser sind die Chancen dazu.

... Nur ganz grob: Ich gehöre eher zu denen, die jetzt bei Temperaturen um die 15 Grad langsam beginnen, die Schuhe immer öfter zuhause zu lassen, im Hochsommer wenn immer es möglich ist (also in der Freizeit zu 100 Prozent) auf Schuhe verzichten, im Winter aber auf festes Schuhwerk inklusive Socken nicht verzichten können.

Das geht mir ganz genauso. Im Winter benötige ich auch warme Schuhe und Socken, was aber auch mit meinem Beruf als Taxifahrer zusammenhängt, wo ich viele Stunden weitgehend bewegungslos im kalten Auto herumsitzen muss.

Nur einige Aspekte meiner persönlichen Barfuß-Biographie, die ich im Forum noch nicht gefunden habe (vielleicht auch nur, weil ich nicht so genau geschaut habe) möchte ich ansprechen:
Von meiner Kindheit und Erziehung als auch von meiner gesellschaftlichen Umgebung her war es - nein, keinesfalls verboten, wohl aber einfach denkunmöglich, sich im städtischen Bereich, also auf Straßen und Plätzen, in Geschäften, Schulen, öffentlichen Verkehrmitteln barfuß zu bewegen. Deshalb kam ich eigentlich nie wirklich auf die Idee, abseits von Wiesen, Almen, Stränden, Bädern, privaten Wohnbereich die Schuhe auszuziehen.

Das ist bei mir eigentlich auch so gewesen. Ein Verbot barfuß zu laufen hat es nie gegeben, aber es kam auch nie jemand auf die Idee es mal zu tun, auch ich nicht. Als Kind war ich mal mit meinen Eltern in den Pfingstferien an der Nordsee. Da meinten sie dann, dass man mal mit den Füßen ins Wasser müsste. Ich bekam recht bald kalte Füße und von da an hieß es stets ich bekäme sehr schnell kalte Füße und sollte sie daher stets warm einpacken.

Dann passierte etwas fast Unerklärliches: ... Ich war von einem auf den anderen Moment zu einem Barfußlaufer geworden, und zwar vorzugsweise im städtischen Bereich. Hat jemand von euch bereits von einer ähnlich radikalen "Bekehrung" gehört?

Bei mir waren es letzten Endes auch die Beobachtungen, die mich zum Barfußlaufen brachten, aber nicht eine bestimmte, wie bei dir. Bereits in der Schule gab es Mitschüler, die bei größter Hitze schon mal barfuß kamen oder zumindest in der Schule ihre Schuhe auszogen, was ich unglaublich toll fand. Ich hätte das damals nie gewagt. Viel zu groß war die Furcht, was wohl die "Leute" sagen würden, insbesondere meine Eltern. Verboten war es zwar nicht, aber einfach undenkbar.
Heute weiß ich, dass meine Mutter es unmöglich findet, dass ich barfuß laufe, dass wäre damals genauso gewesen. Meinen Vater kann ich leider nicht mehr fragen. Meiner Mutter ist es einfach nur peinlich, wenn ich barfuß herumlaufe. Sie meint die Nachbarn müssten denken, dass wir kein Geld für Schuhe hätten. Naja, solange es für das Auto vor der Tür reicht. :-)

Der zweite Aspekt, den ich anprechen möchte:
Grundsätzlich kostet es mir keine Überwindung, mich in der Öffentlichkeit ohne Schuhe zu zeigen.

Auf Grund meiner Erziehung, bei der sicher auch nicht alles optimal lief, ist das bei mir leider anders. Auch ich ertappe mich immer wieder bei der Sorge, was wohl die Leute denken werden. Gerade bei nicht so hohen Temperaturen kostet es mich daher durchaus Überwindung, vor allem wenn ich alleine in der Stadt unterwegs bin, insbesondere wenn mir irgendwo jemand Bekanntes begegnen könnte. Ich arbeite aber daran, diese Hemmungen zu bekämpfen. :-)

Ich versuche, eventuelle Reaktionen nicht einmal wahrzunehmen, was mir meistens gelingt (deshalb kann ich auch nicht sagen, ob mein Barfußlaufen auffällt oder nicht - selektive Wahrnehmung nennt man das).

Letzten Herbst fiel mir auf, dass ich öfter wegen der Kälte angesprochen wurde wenn ich Sandalen trug, als wenn ich barfuß war. Eine Erklärung habe ich dafür nicht. Ob die Leute vielleicht jemanden der bei 5-10°C barfuß geht für so verrückt halten, dass man besser Abstand hält und ihn nicht anspricht? Na, ganz so schlimm ist es wohl hoffentlich doch nicht.

Trotzdem muss ich gestehen, dass ich nicht ganz frei bin von einer gewissen Scham: wenn ich nämlich unerwarteterweise eher flüchtigen Bekannten begegne, fühle ich mich nicht ganz wohl und versuche ihnen auszuweichen. Eine anonyme Öffentlichkeit sowie Freunde und Leute, die mich besser kennen, sind absolut kein Problem.

Das kann ich gut verstehen.

Ich denke, es könnte vielleicht deshalb so sein, weil ich unbewusst Angst davor habe, auf das Barfußlaufen reduziert zu werden, und jemand, der mich nicht so gut kennt, könnte mich am ehesten etwa so charakterisieren: Daniel? Ja das ist der, der immer barfuß läuft... Sagen wir so: Ich arbeite daran, dass mir auch das egal wird.

Der zu sein, der immer barfuß läuft, fände ich nicht so schlimm, solange man ansonsten akzeptiert und ernst genommen wird. Meine Sorge wäre eher, dass irgendwelche Leute einen für völlig durchgeknallt oder verrückt halten könnten. Ich möchte nicht als armer Irrer, sondern als ein normaler Mensch betrachtet werden. Die meisten werden das wohl auch tun, nur meine Angst, dass mich doch jemand für einen Spinner hält bleibt bestehen. Ich arbeite zwar daran sie zu bekämpfen, aber das ist nicht so einfach.

Viele Grüße

Ulrich

Wiedermal ein "Outing"

Lorenz ⌂, Stammposter, Wednesday, 05.04.2006, 22:16 (vor 6747 Tagen) @ Daniele

Hallo Daniele,

Nicht so sehr aus einem persönlich-psychologischen Bedürfnis heraus als aus dem Bedürfnis, meine Identifikation und Solidarität mit den meisten von euch zu erklären und mit dem Anliegen, das Barfußlaufen bis in die letzte Nische gesellschaftlich zu emanzipieren, stelle ich mich hiermit kurz vor.

Ich fand deine Vorstellung interessant und lesenswert! Viele Leute laufen barfuß, ohne darüber zu diskutieren. Ich bin für meinen weitgehend barfüßigen Lebenswandel auch nicht auf die Bestätigung durch andere angewiesen. Doch ich freue mich, dass immer mehr Leute offen zu ihrem Spaß am "Leben auf freiem Fuß" stehen. Denn das hilft, unsere Gesellschaft zu mehr Toleranz und Offenheit zu erziehen, die im Zeitalter des globalen Wettbewerbs unverzichtbar ist!

Zwar ist das Barfußlaufen kein wirklich wichtiges Thema. Aber es ist ein Paradebeispiel für unangebrachte Vorurteile, die sich aus veralteten gesellschaftlichen Konventionen ergeben. Und das wird umso leichter überwunden, je mehr Leute sich zu einem freien, modernen und selbstbestimmten Lebenstil bekennen. Wenn man auf der einen Seite mit viel Disziplin mithilft, die Wirtschaft Europas auf eine gesunde Basis zu stellen, sind körperbewusste Aktivitäten in der Freizeit ein ganz wichtiger Ausgleich. Nicht imsonst wird Barfußlaufen zum Freizeittrend, erst mal vor allem in ca. 40 Barfußparks, die es inzwischen gibt, aber auch zunehmend ganz allgemein im Freizeitbereich!

Mach's gut und unbeschuht, Lorenz

[image] www.barfusspark.info

Wiedermal ein "Outing"

Pedro, Stammposter, Thursday, 06.04.2006, 09:11 (vor 6746 Tagen) @ Daniele

Hallo Daniele!

Das ist aber eine schön formulierte Vorstellung. Herzlich willkommen im Forum.

Mein "Damaskus-Erlebnis" war in den 70er Jahren, als die Hippie-Welle unsere Kleinstadt erreichte und zahlreiche Schüler barfuß in die Schule kamen. Da wusste ich: Barfuß will ich sein! Aber ich habe mich nicht getraut. Denkunmöglich war es für meine Eltern, und ich war zu schwach, mich davon zu emanzipieren. Aber als Student am Studienort, da gelang es mir dann doch, das notwendige Selbstbewusstsein zu entwickeln und meine Hemmungen abzubauen. Und heute ist es bei mir so, wie Du es so schön geschildert hast:

völlig selbstverständlich und unbeschwert, eindeutig ohne Notfallschuhe, mit tiefschwarzen Sohlen.

Barfuß-Gruß
Pedro

Barfuß & Uni

Bernd (Wiesbaden), Stammposter, Thursday, 06.04.2006, 17:19 (vor 6746 Tagen) @ Pedro

Aber als Student am Studienort, da gelang es mir dann doch, das notwendige Selbstbewusstsein zu entwickeln und meine Hemmungen abzubauen. <<<

Lieber Pedro,

ich höre und lese immer wieder, dass ein Studium an einem anderen Ort für die Selbstverwirklichung extrem wichtig sein kann. Z.B. hätte sich meine (Barfuß-) Entwicklung in meinem Elternhaus bzw. in meiner Heimatstadt vollkommen anders vollzogen als in einer neuen Umgebung. Obwohl ich eine sehr erfüllte und schöne Kindheit hatte - ein Top-Verhältnis zu meinen Eltern gehört dazu -, würge ich beim Gedanken, wie's wäre, mit Mitte 30 noch bei Mutti zu hocken. Ich wäre wahrscheinlich psychisch mutiert.

Ich weiß noch... Als ich mit 16 Sandalen ohne Socken trug, äußerte mein Dad sein Missfallen an der Sache: "Einfach so allen Leuten da draußen seine nackten Füße zeigen... Junge, zieh dir 'n paar gute Strümpfe an, du brauchst was über die Zehen, ein Mann macht sowas nicht." Vielleicht sollte ich sagen, dass mein Dad seit Jahr und Tag richtige Stinkfüße hat und diese auch im Sommer in Sandalen und Kunstfaserstrümpfen kultiviert. Man muss Zeichen setzen. Schade, er hat eigentlich sehr schöne Füße!

Das Barfußlaufen an der Uni Jahre später fand ich extrem befreiend, ein unbeschreiblich prickelndes Feeling beim ersten Mal. 1999 werde ich somit nie vergessen. An meine Studentenzeit denke ich gern zurück.

Bernd

Barfuß & Uni

Pedro, Stammposter, Thursday, 06.04.2006, 23:11 (vor 6746 Tagen) @ Bernd (Wiesbaden)

Lieber Bernd,

ja, meine Studienzeit war nicht nur eine Zeit der Bildung sondern auch der Persönlichkeitsreifung. Dafür habe ich auch ein bisschen länger sutdiert. Ich beneide nicht die künftigen Studenten, die mit Studiengebühren unter Zeitdruck gesetzt werden, dass sie ja keine Zeit mehr für ihre Persönlichkeitsentwicklung oder für ein politisches Engagement haben. Ein Teil von ihnen soll ja mal Führungspositionen innehaben. Und wohin das führt, wenn unreife Personen die Staatsführung übernehmen, sieht man ja derzeit in ... halt, jetzt wird's off-topic.

Wir haben noch eine weitere Gemeinsamkeit. Nicht nur, dass wir beide während des Studiums zu Barfußläufern wurden, wir haben auch exakt im selben Alter begonnen, auf Socken zu verzichten. Das war bei mir nämlich auch mit 16. Bemerkungen meiner Eltern dazu hat es, soweit ich mich erinnern kann, nicht gegeben. Auch als ich gegen Ende meines Studiums zum erstenmal barfuß im Elternhaus erschien, gab es nur kurze harmlose Kommentare dazu. Die Zeit war halt einfach reif dafür gewesen. Aber eine Frage habe ich noch: Hat sich bei Dir der Wunsch, barfuß zu gehen, erst als Student gezeigt und Du hast ihn dann gleich verwirklicht? Oder hast Du diesen Wunsch schon länger gehabt, aber ihn erst als Student verwirklicht?

Das Wonnegefühl meines ersten Barfußsommers ist mir noch gut präsent: Endlich geschafft, endlich barfuß, endlich frei, endlich schwarze Sohlen. Je selbstbewusster ich wurde, desto mehr ging ich barfuß, je mehr ich barfuß ging, deso selbstbewusster wurde ich.

1999 war es bei Dir. Bei mir 1986. In der Tat hat mein Barfuß-Breakout dieses Jahr 20. Jubiläum! Ich gehe jetzt in meinen 21. Barfuß-Sommer. Er soll barfüßiger werden als alle Sommer zuvor. Ich freue mich schon wahnsinnig drauf.

Einen schönen Barfuß-Sommer wünsch ich Dir
Pedro

Persönlichkeitsbildung

Bernd (Wiesbaden), Stammposter, Friday, 07.04.2006, 16:52 (vor 6745 Tagen) @ Pedro

Lieber Pedro,

ich kann mich dir nur anschließen: Wenn ich meine Zeit an der Uni spiegele, realisiere ich, dass mir das Studium weitaus mehr gebracht hat als Fachkompetenz und Selbstständigkeit. Die sich stetig ändernden Herausforderungen ließen mich zu einem viel flexibleren Menschen werden. Die Frage, mich diesen oder jenen Strukturen anzupassen oder nicht, machten mich kritischer und reflektierter. Dazu gehört auch - als kleiner, aber bedeutender Teil - die Einsicht, dass die vermeintlich ergebnisorientierten BWL-Studenten, damals die Manager von morgen, entsetzt und teilweise verachtend auf meine nackten Füße geschaut haben. Mit meinen baren Füßen habe ich wohl das blanke Entsetzen im Fachbereich Wirtschaftswissenschaften verbreitet, doch geschah dies von meiner Seite ganz bewusst.
Zur heutigen Lage der Studierenden: Bislang hatten wir in diesem Land das große Glück, uns auf Kosten des Staates zum Akademiker ausbilden zu lassen. Vor wenigen Jahren haben sie nun die Daumenschrauben angezogen, um Bummelstudenten auszusondern und zu verhindern, dass die Universitäten - und in diesem Zusammenhang insbesondere Fächer wie Soziologie, Pädagogik und Philosophie - Auffangbecken für junge Leute in der Orientierungsphase werden. Diesen Gedanken kann ich bedingt nachvollziehen, mit Betonung auf "bedingt".
Heute kann vielerorts der vergleichsweise wenig erstrebenswerte Bachalor-Abschluss erworben werden. Futter für die Industrie: Junge Leute mit Abschluss als "Jungwissenschaftler", die mit einem dem Vordiplom angemessenen Wissen auf die Menschheit losgelassen werden, junge Leute mit teilweise nicht ausgereifter Persönlichkeit, die nach vorgefertigtem, der Fachhochschulen ähnlichen Stundenplan gearbeitet haben und zum Eintritt ins Berufsleben ihre Scheuklappen nicht abzulegen vermögen. Scheuklappen, die ich immer wieder an jenen Leuten bemerke, die hinter mir im Edeka stehen und über meine nackten Füße im Geschäft die Nase rümpfen.
Zu deiner Frage:
Barfußlaufen wollte ich schon als Teenager, hatte aber nicht den Mut. Füße gehörten ja weggesperrt, Sandalen waren lt. Vater okay, aber nur mit Strümpfen. Bloß keine nackten Zehen auf der Straße, da gucken die Leute! ;-) Somit lief ich heimlich im Wald barfuß, zog immer wieder schnell die Latschen an, wenn Leute vorbei kamen. Mut zum Barfußlaufen in der Öffentlichkeit entwickelte ich erst 1999 - und hatte das starke Bedürfnis, künftig alle die Jahre in diesen fiesen 80-er-Jahre-Stink-Turnschuhen wett zu machen. 1999 war auch das Jahr, in dem ich mir im Juni die Füße so arg auf der Straße verbrannte, dass sie ärztlich versorgt werden mussten. Schon als wenige Wochen später die Narben langsam abheilten und ich wieder ohne Verband und ohne Schuhe laufen konnte, dachte ich, dass mir dies jede Brandblase wert gewesen war. Liegt wohl daran, dass ich ein ausgeprägt leidenschaftlicher Mensch bin, heute mehr denn je.
Mein betont konformistischer Papa ist heute auch lockerer als vor 20 Jahren. Ich war barfuß in einer Autowerkstatt und traf ihn. Kein Kommentar, viel mehr: Ich konnte meinen Augen nicht trauen: Mein Dad in schicken schwarzen Leder-Flip-Flops, OHNE Socken, mit professionell pedikürten Fußnägeln! Und die Fußrücken waren gebräunt!

Lieber Pedro, ich wünsch dir noch viele weitere Barfußjahre und ganz viel Sonne für 2006! Enjoy!

Bernd

Lieber Bernd,
ja, meine Studienzeit war nicht nur eine Zeit der Bildung sondern auch der Persönlichkeitsreifung. Dafür habe ich auch ein bisschen länger sutdiert. Ich beneide nicht die künftigen Studenten, die mit Studiengebühren unter Zeitdruck gesetzt werden, dass sie ja keine Zeit mehr für ihre Persönlichkeitsentwicklung oder für ein politisches Engagement haben. Ein Teil von ihnen soll ja mal Führungspositionen innehaben. Und wohin das führt, wenn unreife Personen die Staatsführung übernehmen, sieht man ja derzeit in ... halt, jetzt wird's off-topic.
Wir haben noch eine weitere Gemeinsamkeit. Nicht nur, dass wir beide während des Studiums zu Barfußläufern wurden, wir haben auch exakt im selben Alter begonnen, auf Socken zu verzichten. Das war bei mir nämlich auch mit 16. Bemerkungen meiner Eltern dazu hat es, soweit ich mich erinnern kann, nicht gegeben. Auch als ich gegen Ende meines Studiums zum erstenmal barfuß im Elternhaus erschien, gab es nur kurze harmlose Kommentare dazu. Die Zeit war halt einfach reif dafür gewesen. Aber eine Frage habe ich noch: Hat sich bei Dir der Wunsch, barfuß zu gehen, erst als Student gezeigt und Du hast ihn dann gleich verwirklicht? Oder hast Du diesen Wunsch schon länger gehabt, aber ihn erst als Student verwirklicht?
Das Wonnegefühl meines ersten Barfußsommers ist mir noch gut präsent: Endlich geschafft, endlich barfuß, endlich frei, endlich schwarze Sohlen. Je selbstbewusster ich wurde, desto mehr ging ich barfuß, je mehr ich barfuß ging, deso selbstbewusster wurde ich.
1999 war es bei Dir. Bei mir 1986. In der Tat hat mein Barfuß-Breakout dieses Jahr 20. Jubiläum! Ich gehe jetzt in meinen 21. Barfuß-Sommer. Er soll barfüßiger werden als alle Sommer zuvor. Ich freue mich schon wahnsinnig drauf.
Einen schönen Barfuß-Sommer wünsch ich Dir
Pedro

Persönlichkeitsbildung

Pedro, Stammposter, Friday, 07.04.2006, 17:14 (vor 6745 Tagen) @ Bernd (Wiesbaden)

Lieber Bernd,

Lieber Pedro,
ich kann mich dir nur anschließen

Freut mich, dass wir in so vielen Punkten übereinstimmen.

Mit meinen baren Füßen habe ich wohl das blanke Entsetzen im Fachbereich Wirtschaftswissenschaften verbreitet, doch geschah dies von meiner Seite ganz bewusst.

Finde ich gut. So viel Provokation muss sein.

Vor wenigen Jahren haben sie nun die Daumenschrauben angezogen, um Bummelstudenten auszusondern und zu verhindern, dass die Universitäten - und in diesem Zusammenhang insbesondere Fächer wie Soziologie, Pädagogik und Philosophie - Auffangbecken für junge Leute in der Orientierungsphase werden. Diesen Gedanken kann ich bedingt nachvollziehen, mit Betonung auf "bedingt".

Ich auch. Mein Mittel der Wahl wären strengere Studien- bzw. Prüfungsordnungen, nicht aber Gebühren.

1999 war auch das Jahr, in dem ich mir im Juni die Füße so arg auf der Straße verbrannte, dass sie ärztlich versorgt werden mussten. Schon als wenige Wochen später die Narben langsam abheilten und ich wieder ohne Verband und ohne Schuhe laufen konnte, dachte ich, dass mir dies jede Brandblase wert gewesen war. Liegt wohl daran, dass ich ein ausgeprägt leidenschaftlicher Mensch bin, heute mehr denn je.

Den Eindruck habe ich bei mir auch. Je älter ich werde, desto leidenschaftlicher werde ich. In allen Lebensbereichen

Mein betont konformistischer Papa ist heute auch lockerer als vor 20 Jahren. Ich war barfuß in einer Autowerkstatt und traf ihn. Kein Kommentar, viel mehr: Ich konnte meinen Augen nicht trauen: Mein Dad in schicken schwarzen Leder-Flip-Flops, OHNE Socken, mit professionell pedikürten Fußnägeln! Und die Fußrücken waren gebräunt!

Glückwunsch an Deinen Dad! Und vielleicht auch an Dich, falls Du Mitauslöser dieses Wandels warst.

Lieber Pedro, ich wünsch dir noch viele weitere Barfußjahre und ganz viel Sonne für 2006! Enjoy!
Bernd

Wünsch ich Dir auch!
Pedro

RSS-Feed dieser Diskussion