Barfüßige Bahnreise (Hobby? Barfuß! 2)

Michael aus Zofingen @, Stammposter, Monday, 17.10.2005, 13:49 (vor 6983 Tagen)

Sonntag, 16.10.2005: Ich war nicht Tessin gereist, sondern am Tag zuvor in Luzern gewesen (ich werde noch berichten). Insgeheim hatte ich schon bereut, daß ich statt Sonne im Süden nur Nebel im Norden hatte. Zum Entscheid, nicht ins Tessin zu reisen, hatte auch die Tatsache, daß ich noch vom Rabatt fürs Papiliorama http://www.papiliorama.ch/ in Kerzers profitieren wollte, dieser war bis Dezember 2005 befristet. Zwar ist bis dahin noch Zeit, aber es kann ja noch was dazwischen kommen. Bei echtem Sauwetter möchte ich sicher auch nicht nach Kerzers. Da ich einigermaßen entspannt ins Papiliorama wollte und nicht hetzen, wollte ich auch nicht mit dem Fahrrad dorthin, einfache Fahrt immerhin über 4 Stunden. Bei nässendem Nebel und morgendlichen Temperaturen um 7°C einfach zu viel. Also wollte ich mit der Bahn dorthin fahren.

Da ich nur einen Kilometer vom Bahnhof entfernt wohne und auch das Papiliorama direkt an einem Bahnhof liegt, andererseits auch vom tropischen Klima im Papiliorama wußte, konnte ich auf übermäßig winterliche Kleidung verzichten. Also radelte ich zum Bahnhof, in T-Shirt, kurzen Hosen, und selbstverständlich barfuß. Keinen Augenblick dachte ich daran, daß man mich wegen barfuß nicht einlassen würde, daher nahm ich auch keine Schuhe mit. Die größte "Gefahr" sah ich am Zofinger Bahnhof selbst, er ist nämlich vom Posten der Kantonspolizei übersehbar. Die Zeit, die ich zum Lösen der Fahrkarte aus dem Automaten gebraucht hätte, hätte ausgereicht, um eine "Hundertschaft" Landjäger ausströmen zu lassen, um mich vor der Abfahrt des Zuges zu verhaften.

Die Leute auf dem Bahnsteig sahen erst auf mich, dann auf meine Füße, dann drehten sie sich zum Thermometer auf einem Fabrikdach um. Es zeigte 7°C, und auch durch wiederholtes Umdrehen des Kopfes änderte sich die Temperaturanzeige nicht. Eine junge Frau auf dem Bahnsteig schien mich zu fotografieren. Es war kein herkömmlicher Fotoapparat, den man vor die Augen hält, sondern mehr so ein neumodisches Ding, das man hält, wie wenn man sich schminken will. Aber die Frau schminkte sich nicht, sondern sie fotografierte mich. Sie verzog auch nicht irgendwie das Gesicht, als ob sie persönlich Freude hatte, aber auch nicht, als ob sie sich über meine Aufmachung maßlos aufregte. Ob es sich um eine Frau von der Presse handelte? Oder eine Polizistin in Zivil? Als mein Zug abfuhr, stand sie am Bahnsteig und schien auf den Gegenzug zu warten. Vermutlich war ich irgendein Zufallstreffer, mehr nicht. Ob sie diese Fotos mit ihrer Handykamera direkt weitergeschickt hat? Etwa an die Redaktion? An die Polizei? Wie dem auch sei, an diesem Tag wurde ich nicht von irgendwelchen Polizeischergen belästigt.

Ich benutzte (erstmalig) die direkte Bahnverbindung Luzern - Bern via "Kriegsschleife", d.h. ohne Umsteigen in Olten und ohne Zwischenhalt, dauert nur 30 Minuten. Im Zug registrierte kaum jemand meine Barfüßigkeit. Als ich aber in Bern den Zug verließ und auf den Bahnsteig hüpfte, schienen einige erstaunt zu blicken. Bis zur Abfahrt des Anschlußzuges war noch Zeit, so daß ich noch durch die Bahnhofspassage gehen konnte. Ich war gar nicht mal der einzige ohne echte Winterkleidung: Einige Radfahrer schoben ihre Velos durch die Passage und kamen vom bzw. wollten zum Zug. Etliche trugen kurze Hosen, jedoch Windjacken oder dicke Wollpullover. Und geschlossene Schuhe mit Socken. Es gab aber auch einige Leute mit Sandalen ohne Socken, übrigens mehr Männer als Frauen (man merkt, daß der Sommer vorbei ist). Aber auch die trugen ohne Ausnahme lange Hosen und langärmelige Kleidung, ein Mann davon trug sogar einen Hut. Dann waren aber auch wieder Leute, die in kurzärmeliger oder gar ärmelloser Kleidung durch den Bahnhof gingen, aber auch die trugen lange Hosen und feste Schuhe mit Socken. Es gab also einige Leute, die noch irgendein Kleidungsstück trugen, daß an Sommer erinnert. Aber ich war der einzige, der kein einziges Kleidungsstück trug, das an Winter erinnerte. Da macht es wohl kaum noch einen Unterschied, ob man Sandalen trägt oder wie ich konsequenterweise auch noch "ganz" barfuß bin. Vielleicht ist bei Temperaturen unter 15°C ein einziges Sommerkleidungsstück noch "erlaubt", mehr aber nicht. Und wer wie ich gegen dieses "Gesetz" verstößt, wird leicht ein Opfer unfairer Polizeiübergriffe, während den Leuten, die zur gleichen Zeit, "nur" barfuß sind, "nur" kurze Hosen tragen oder "nur" ohne Jacke unterwegs sind, von den Häschern nie ein Haar gekrümmt wird.

War ich der einzige Barfüßer im Berner Hauptbahnhof? Nein! Nur der einzige Barfüßer aus Fleisch und Blut. Denn in der Bahnhofspassage befinden sich noch die Reste des Christoffeltumes http://images.google.ch/imgres?imgurl=http://www.iam.unibe.ch/~booga/gallery/christoffel/bern-alt.jpg&imgrefurl=http://www.iam.unibe.ch/~booga/gallery/christoffel/&h=267&w=363&sz=20&tbnid=fUQwxoAE520J:&tbnh=86&tbnw=117&hl=de&start=1&prev=/images%3Fq%3Dbern%2Bchristoffelturm%26svnum%3D10%26hl%3Dde%26lr%3D%26sa%3DG, der leider abgerissen wurde. Dieser Befestigungsturm trug die Christoffelfigur. Ursprünglich stellte es den heiligen Christophorus dar, der schwer unter der Last des Jesuskindes zu tragen hatte. Christophorus lief natürlich barfuß. Im Zuge der Reformation hatte man für derart "katholische" Dinge natürlich keinen Platz mehr, aber einen Beschützer der Stadt brauchte man nach wie vor. Also wurde das Jesuskind entfernt und Christophorus wurde zum Soldaten umgebaut, behielt aber seine Barfüßigkeit bei.

So verging die Wartezeit im Berner Hauptbahnhof. Ich ging zum Bahnsteig, wo der Regioexpreß nach Neuenburg bereits wartete. Ein paar erstaunte Blicke, mehr nicht. Im Hauptbahnhof von Kerzers wartete bereits der Anschlußzug, noch eine Station, und ich war im Papiliorama, wovon ich hier index.php?id=994251705 berichtet habe.

4,5 Stunden später hatte ich von Schmetterlingen genug, aber nicht vom Barfußlaufen. Es war immer noch neblig, als ich wieder im Zug saß. In Kerzers hatte ich etwa 10 Minuten Zeit, um ein paar ausrangierte Lokomotiven in Bahnhofsnähe mit meiner vorsintflutlichen Kamera, die keiner mit einem "Schminkkoffer" verwechseln würde. Genug Zeit, allerdings mußte ich nachher säckeln, um den Anschluß zu erreichen, wodurch barfuß vielleicht noch "komischer" wirkt. Ein paar bemützte Jugendliche lungerten auf dem Bahnsteig, einer sagte: "Dem frieren doch bald die Füße ab!" Als ich den Zug bestieg: "He! Barfuß ist im Zug verboten! Polizei!" Ich gehe davon aus, daß die Jugendlichen nicht unbedingt fest davon überzeugt waren, daß barfuß Bahnfahren verboten ist, schließlich sprachen sie Schweizerdeutsch ohne amerikanischen Akzent. Falls zufällig Polizisten in der Nähe gewesen wären, hätten sie mich vermutlich verpfiffen, sondern hätten sich heimlich verzogen.

In Bümplitz änderte sich das Bild, die Sonne brach durch, in Bern schien die Sonne. Auch wenn es nicht allzu warm war, so war es doch ideal, um noch die Stadt unsicher zu machen anstatt sofort nach Hause zu fahren. Über die neue Passarelle verließ ich den Bahnhof, ging Richtung Altstadt. Da in der "mittleren" Altstadtgasse eine "Bullenschleuder" stand, bog in unauffällig in eine andere Straße ein, so als ob ich immer diese Straße benutzen wollte und keine andere. Auch so gelangte ich zu den Teddybären im Bärengraben. Die wenigsten Menschen registrierten meine Barfüßigkeit (und die Bären erst recht nicht). Über Seitenstraßen, die teilweise mit Laub bedeckt war, das angenehm unter den Füßen raschelte, gelangte ich zum Aarewehr unweit der Kirchenfeldbrücke. Als ich durch den Sand und Kies ging, schien es erst recht keinen zu stören.

So ging ich aareaufwärts, wechselte das Ufer und gelangte zum Campingplatz Eichholz. Ein Mann mit Zopf, nur mit Badehose bekleidet, rannte barfuß an mir vorbei und fragte ob ich auch noch barfuß unterwegs war. Schon war er weg. Vermutlich wollte er noch schwimmen. Nach einiger Zeit kam tatsächlich einer die Aare hinuntergeschwommen, jedoch konnte ich nicht erkennen, ob es derselbe war. Hier am Ufer saßen 4 Leute barfuß im Sand, ansonsten aber normal bekleidet.

So ging ich noch weiter aareaufwärts, bis ein Weg den Hang nach oben führte. Über Asphaltstraßen gelangte ich zum Campingplatz Eichholz, um dann der Aare Richtung Stadt zu folgen. Dabei überquerte ich auch das Gelände des Marzilibades, auf dem eigentlich nur mehr oder weniger winterlich gekleidete Spaziergänger zu sehen waren. Aber vor einer Holzwand saßen noch einige in Badekleidung in der Sonne.

Ich aber verließ das Bad, um den Berg hinauf zum Bundeshaus zu gelangen. Hier war es noch sonnig, so daß ich hier etwas essen konnte. Dann aber verdeckte Dunst die Sonne, ich mußte ein wärmeres T-Shirt anziehen. Noch 2 Stunden hatte ich Zeit in Bern, wobei ich viele Straßen und Treppen der Altstadt benutzte. Auch schritt ich am Bundesplatz durch den Brunnen im Straßenpflaster. Es kühlte ab, die Kleidung der anderen wurde winterlicher, die Glotzaugen kamen häufiger. Um 19 Uhr sollte mein Zug abfahren.

Am Hauptbahnhof war ein reges Gedränge. All die Wanderer, die die Fernsicht in den Bergen genossen hatten, kamen zurück. Aber auch Fans irgendeines Sportvereins. Einer fragte mich, ob es nicht zu kalt an den Füßen sei. Und ein anderer sagte, während ich einstieg: "Sie müssen aber eine gute Zentralheizung haben!" Nach nur 30-minütiger Fahrt erreichte ich Zofingen, bei 9°C. Einige stiegen aus, andere warteten und blickten erstaunt. Aber keine Hundertschaft Polizei erwartete mich, die waren wohl noch erschöpft von dem Einsatz in Thun wegen einer unbewilligten Demonstration einen Tag zuvor. Dabei bin ich für die Menschheit doch eine wesentlich größere Gefahr als ein paar hundert Demonstranten.

Schöne Grüße

Michael aus Zofingen

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