Barfuß am Heiligabend 2004 (Hobby? Barfuß! 2)

Michael aus Zofingen @, Stammposter, Monday, 27.12.2004, 08:45 (vor 7215 Tagen)

Heiligabend 2004, ein Freitag, und für mich ein dreiviertel Arbeitstag. Kurz nach 13 Uhr aber ist Feierabend. Für "normale" Menschen würde es jetzt Streß am laufenden Band geben (die letzten Einkäufe, Wohnung reinigen, Tannenbaum schmücken, Hof fegen, die beste Kleidung anlegen, Schuhe auf Hochglanz bringen), damit man ja pünktlich zum Gottesdienst oder zur Bescherung im besten Licht erscheint. So geht es Jahr für Jahr. Jedes Mal hofft man, daß der Streß im nächsten Jahr weniger sein wird. Aber erfahrungsgemäß verfällt man immer wieder in den gleichen Trott. Endlich ist mir gelungen, diesen Teufelskreis zu durchbrechen. Nicht nur, daß ich meine Wohnung nicht weihnachtlich hergerichtet habe (es würde vielleicht Spaß machen, barfuß auf dem Weihnachtsmarkt einen Tannenbaum zu kaufen, aber beim Aufstellen des Baumes in der Wohnung und beim Entfernen der Nadeln mit dem Staubsauger hört der Spaß auf). Auch mißachtete ich ERSTMALIG das "Gesetz", daß Junggesellen zu Weihnachten ihre Eltern besuchen "müssen".

Ein Blick auf das Thermometer: +6°C! Der Himmel war wolkig, die sonnigen Abschnitte nahmen zu. Fort mit der Dienstkleidung und rauf aufs Fahrrad, und zwar barfuß, wie es sich für einen "vernünftigen" Menschen. Da ich wußte, daß mein Weg an einem Altglascontainer vorbeiführte, nahm ich auch gleich Leergut mit. Am Container war ein Vater gerade dabei, einen Kofferraum voll Altglas zu entsorgen, die kleine Tochter stand daneben und beobachtete gespannt ihren Vater. Sie erschrak, als meine Bremse etwas quietschte, als ich anhielt. Als sie meine nackten Füße erblickte, quollen ihre Augen immer mehr aus dem Kopf hervor. Ich holte mein Leergut hervor und schritt auf den Container zu, wobei ich einen abgebrochenen Flachenboden entdeckte. Nicht ganz zufällig wählte ich die Schritte so, daß ich mit einem Fuß direkt neben die Scherbe auftrat. Die Kleine fing an zu schreien, wie wenn sie selber in die Scherbe getreten hätte! Der Vater, der sich nicht von der Arbeit unterbrechen ließ, beruhigte die Tochter: "Es ist doch nichts passiert!" (Damit auch anderen nichts passieren konnte, hob ich den Flachenboden auch noch auf und warf ihn dahin, wo er hingehört.

Ich radelte weiter an der Wigger entlang und schloß mein Velo zwischen Dagmersellen und Nebikon an einen Baum. Meine Füße waren ziemlich kalt geworden vom Fahren. Die ersten Schritte über nasses Gras und dann über Laub mit ziemlich viel Ästen waren schmerzhaft. Ein "unechter" Barfüßer hätte vielleicht die Schuhe aus dem Rucksack geholt, aber ich hatte sie "selbstverständlich" vergessen. Und mangels Auto konnte ich auch nicht "mal eben" zurückgehen und meine Füße an der Heizung erwärmen. Da half nur eins: weiter! Meine Füße besaßen zwar noch ihre rosige Gesichtsfarbe, aber in den Zehen hatte ich kein Gefühl mehr. Der Waldweg endete, aber ich wußte, daß es hier möglich war, direkt am Hang hochzuklettern. Überall waren Bäume und Wurzeln, an denen man sich festhalten konnte. Und der Boden war derart weich, daß man sich mit den Zehen regelrecht festkrallen konnte. Dabei stellte sich wieder das "normale" Gefühl in den Füßen ein. Das einzige, was mir am dem Hang nicht paßte, war, daß hier eine Flache mit abgebrochenem Hals lag. Beinahe hätte ich mit der Hand hineingegriffen. Da ich sie dann sah, war es auch möglich, nicht hinein zu treten.

Es folgte ein herrlicher schmaler Weg, der mit trocknem Laub bedeckt war, die Sonne, die jetzt vom fast wolkenlosen Himmel schien, sorgte dafür, daß meine Stimmung überhaupt nicht weihnachtlich war. Ich wünschte, die Sonne würde stehen bleiben, dann hätte ich länger bleiben können. Aber ich mußte weiter. Der Waldweg war zu Ende, ich erreichte die ersten Häuser von Nebikon. Zwei Männer, die ein Auto entluden, sahen mich fassungslos an. Ich schritt weiter über Quartiersstraßen erreichte ich die Verkehrsstraße nach Egolzwil, der ich auf dem Radweg aus glattem Asphalt folgte. Vor mir ging eine Mann. Er drehte sich um und holte sein Handy heraus, dann begann er zu reden. War es wegen mir oder Zufall? Er redete in einer Sprache, die ich weder verstand, noch einzuordnen vermochte. Somit wußte ich zwar nicht, was er redete, ich wußte aber, mit wem er garantiert NICHT redete, mit der Polizei.

Ich verließ die Hauptstraße über einen asphaltierten Weg, unterquerte die Bahnlinie und folgte dann dem Weg entlang der Wigger zurück nach Nebikon. Genauer: Ich ging NEBEN dem Weg über herrlich frische Wiesen, wobei ich an Geschwindigkeit zulegen konnte (ohne daß eine Notwendigkeit bestand). Ich überholte eine Mutter mit einem Jungen. Letzterer fragte: "Läuft der Mann barfuß?" Mutter: "Ja!" Junge: "Darf der das?" Mutter: "Ja!" Junge: "Darf ich das auch?" Mutter: "Nein!" Ob und wie das Gespräch weiter verlief, bekam ich nicht mehr mit, da ich zu schnell war. Mir kamen nur wenige Leute entgegen, die meisten lächelten nur, fröhliche Gesichter, es ist ja Weihnachten. In Nebikon mußte ich wieder die Bahn unterqueren. Der Splitt zwang mich, eine langsamere Gangart einzulegen.

Dann aber erreichte ich wieder einen asphaltierten Nebenweg, wobei an Badeanstalt und Sportplatz. Allmählich ging der "Heilignachmittag" in den wirklichen Heiligabend über. Plötzlich sah ich, wie ein Kleinauto mir folgte (obwohl hier keine Autos fahren dürfen). Der Fahrer kurbelte die Seitenscheibe herunter und fragte, ob er mir helfen könne, worauf ich antwortete, daß ich in einigen hundert Metern Entfernung mein Velo stehen hätte, mit dem ich dann weiterfahren würde. Der Mann gab sich damit zufrieden und kehrte um.

Es war dunkel, als ich die Heimfahrt antrat. Diesmal benutzte ich die Kantonsstraße. Etliche Autos überholten mich, und in den den meisten Fällen drehten sich speziell die Beifahrer nach mir um, in der Regel mit dem "bekannten" Blick nach unten. Anstatt aber direkt nach Hause zu fahren, drehte ich noch eine Runde durch die Zofinger Altstadt. Hier war die Stimmung weihnachtlich dank der Beleuchtung. Es hätte nicht viel gefehlt und ich hätte während der Fahrt Weihnachtslieder gesungen. Ich tat es nur deswegen nicht, weil ich mir kein Verfahren wegen Lärmbelästigung einhandeln wollte. In den Straßen waren nicht mehr viele Leute. Und diejenigen, die da waren, bemerkten meine nicht übermäßig winterliche Aufmachung nicht. Bei wem vermutet man denn schon, daß er am Heiligabend barfuß durch die Straßen der Zofinger Altstadt radelt? Bei niemandem!

Nur etwa 200 Meter vor meiner Wohnung überholte ich eine Familie, während ich mich gerade im Scheinwerferkegel eines Autos befand. Ein Mädchen sprach: "Der Mann! Barfuß! Brrrrrrrrrr!" Wie kalenderhörig doch die Menschen sind! Zu Weihnachten ist es per Definition kalt, und wenn es kalt zu sein hat, trägt man per Definition fette Winterkleidung. Barfuß zu Weihnachten? So was tut "man" nicht. Als ich die Wohnungstür aufschloß, klingelte gerade das Telefon. Sollte ich direkt über Teppiche zum Telefon eilen und allfälligen Dreck überall verteilen? Oder erst die Füße waschen? Ich zog letzteres vor. Genau zehnmal schellte es. Also kein Staubsauger- oder Swisscom-Vertreter, die haben nämlich mehr Zeit. Aber auch kein Supermanager, die haben weniger Zeit. Vielleicht meine Mutter, die mich "ärgern" wollte? Sie läßt es immer neun- bis elfmal schellen. Ferner hatte ich auch nicht das Bedürfnis mit der Frau zu reden, die ich dadurch, daß ich barfuß am Heiligabend unterwegs war, "betrogen" habe.

Schöne Grüße

Michael aus Zofingen


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