Barfüßiger Abendspaziergang durch eine italienische "Großstadt" (Hobby? Barfuß! 2)

Michael aus Zofingen @, Stammposter, Tuesday, 05.10.2004, 10:25 (vor 7299 Tagen)

Am vergangenen Wochenende (2.-10.-3.10. 2004) hatte ich mal wieder das Tessin unsicher gemacht. Nach einer anstrengenden Barfußwanderung über Carona und Morcote hatte ich wieder meinen Ausgangspunkt Melide erreicht. Wie weiter? Da es dunkel war, kamen unbekannte Wanderwege nicht in Frage, selbst dann nicht, wenn ich Schuhe dabei gehabt hätte. Melide selbst [www.melide.ch] ist sicher nicht häßlich, besitzt aber nur einen kleinen "Borgo", in dem die Gassen auch noch asphaltiert sind. Mit anderen Tessiner Städten wie Ascona kann es zweifellos nicht konkurrieren. Wie wäre es, am Abend mal barfuß eine italienische Großstadt aufzusuchen? Es muß ja nicht unbedingt Mailand sein. Auch nicht Como, was ja noch näher liegt. Nicht weit von Melide gibt es tatsächlich eine "italienische Großstadt auf kleinstem Raum", Campione http://www.campioneitalia.com/. In dieser einst beschaulichen Stadt wurde auch jeder Quadratmeter überbaut. Die Stadtfläche ist nur klein und von der Schweiz umschlossen. Daher gelten hier auch andere Gesetze als im "richtigen" Italien. Es gilt Schweizer Währung, Post, Müllabfuhr usw. sind schweizerisch.

Also ging ich über den Seedamm Richtung nach Bissone und bog dann nach links ab. Es herrschte ein dichter Autoverkehr auf der vergleichsweise schmalen Straße ohne durchgehendes Trottoir. Daher war es barfuß nicht ganz ungefährlich. Während Campione wuchs und wuchs, hat man vergessen, die einzige schlecht beleuchtete Zubringerstraße entsprechend anzupassen. Vermutlich fühlt sich aber die Schweiz nicht dafür zuständig, Geld für den Straßenbau auf eigenem Gebiet bereitzustellen, nur damit die Autos noch schneller ins "kleine Italien" rasen können. Italiener sind sowieso noch wildere Autofahrer als Tessiner. So kam es vor, daß plötzlich ein Auto auftaucht. Zur Seite springen ist manchmal schwierig und barfuß ist da sicher nicht ideal. Am Torbogen erkannte ich, daß ich Campione erreicht hatte, dahinter ein riesiger Brunnen. Die Platten davor waren naß von Spritzwasser, so daß ich meine Füße kühlen konnte. Anders als auf der Zubringerstraße wurde mit Licht verschwenderisch umgegangen. Zunächst benutzte ich die "obere Hauptstraße", die weniger schön ist als die "untere". Am "Wendepunkt" mußte ich noch einen Tunnel passieren. Dieser besitzt zwar ein Trottoir, aber dieses war von (widerrechtlich) parkenden Autos blockiert. Das ist halt Italien, Verkehrsregeln haben höchstens Richtwertcharakter. Es war mühsam, den Tunnel zu durchqueren, aber zum Glück war der Weg angenehm begehbar.

Endlich hatte ich das Wasser erreicht und ich setzte mich auf eine Bank. Am gegenüberliegenden Seeufer sah ich die Lichter von Lugano. Mit dieser Stadt kann Campione aber nicht konkurrieren. Die Badeanstalt vor mir war geschlossen, und in der Nähe befand sich das Kasino, dahinter behindert der Fels jegliches Weiterkommen. Etliche Leute gingen vorbei, viele Männer in dunklen Anzügen mit Krawatte/Fliege, aber auch die Damen waren "bedeckt" bekleidet, keine in leichten Sandalen, geschlossene Schuhe waren Trumpf. Offensichtlich handelte es sich um Kasinobesucher. Obwohl ich in für die relativ milde Temperatur angepaßter Freizeitkleidung war, schien sich niemand von den feinen Leuten dran zu stören. Ich wanderte weiter durch die hell beleuchtete Stadt zur angestrahlten Fontäne, auch hier lästerte niemand, nicht einmal Jugendliche. Lediglich ein kleines Mädchen starrte auf meine nackten Füße. Dann kam ich an einer Baustelle vorbei. Wo vor Jahren noch ein riesiges Loch im Boden klaffte, steht nun der Rohbau eines gewaltigen Hochhauses, dem heutigen Wahrzeichen Campiones. Eine Bausünde? Vielleicht. Aber wenigstens ist das Hochhaus gar nicht mal so häßlich. Und da Fußgänger vor dem Gebäude über einen überdachten (als Schutz vor herabfallenden Kranlasten usw.) Holzsteg geleitet werden, kam ich so in den Genuß von Holz unter den Füßen. Fast wie beim barfüßigen Betreten einer gedeckten Holzbrücke im Emmen- oder Simmental, aber nur fast. Kurz danach die einzigen Lästerer. 3 Leute wollten gerade ihr Auto mit Solothurner Kennzeichen besteigen. Einer sagte: "Der hat sicher alles im Kasino verspielt, sogar die Schuhe!" Solche Bemerkungen finde ich noch ganz witzig. Dann erreichte ich wieder den "Triumpfbogen". Bevor ich die "Großstadt" verließ, blickte ich mich noch einmal um. Da lag sie nun, die "sündige" italienische Stadt, umgeben von der biederen Schweiz. Barfuß schritt ich nun hinaus auf die dunkle Zubringerstraße, vorbei war der Zauber. Nur der rege Autoverkehr ließ erahnen, daß hinter dem Dunkel ein helles Licht kommt.

Vor dem Erreichen der Autobahnüberführung bog ich in eine Seitenstraße ein. Dann überquerte ich Auto- und Eisenbahn auf einer Fußgängerbrücke, und schon war ich im historischen Ortskern von Bissone. Ich gönnte meinen Füssen noch einen Umweg durch den Ort auf angenehm begehbaren Platten, die in Gassenmitte in das Kopfsteinpflaster verlegt sind. Ich war müde! Ich wußte von einem Waldstück direkt neben einer Trafostation am Ortsrand, wo ich die Nacht draußen im Schlafsack verbringen könnte. Würde ich diesen Platz wiederfinden? Oder würde Steine und Dornen ein barfüßiges Erreichen verunmöglichen? Ausprobieren! Hinter den letzten Häusern fand ich die Trafostation. Die Asphaltstraße endete an einem Schlagbaum, der mehrspurige Fahrzeuge am Vorankommen hindern soll. Ich ging noch etwa 200 m den feuchten grasbewachsenen Wanderweg weiter, dann fand ich den Platz. Ich breitete den Schlafsack aus. Bevor ich meine Brille im Etui versorgte schaute ich mich noch mal um. Mir zu Füßen lag der Luganer See, in der Ferne das Seeende mit den Lichtern von Riva San Vitale. Schönes Tessin! Vergessen die Schmerzen, die ich mir am Tage bei der anstrengenden Barfußwanderung zugezogen habe. Ich werde das Barfußlaufen nicht aufgeben. Ich lasse mich nicht von Leuten bekehren, die behaupten, daß alle Barfüßer Fußfetischisten wären. Und wenn das stimmte, dann wären logischerweise auch alle beschuhten Zeitgenossen "Schuhfetischisten". Und das möchte ich schon gar nicht sein. Oder hat jemand in diesem Forum das Bedürfnis, ein solcher zu sein? Dann darf er gerne seinen Senf dazugeben.

Mit freundlichen Grüßen

Michael aus Zofingen

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