Barfüßiges Bahnfahren, z. B. ins Tessin (Hobby? Barfuß! 2)

Michael aus Zofingen @, Stammposter, Monday, 04.10.2004, 12:18 (vor 7299 Tagen)

Am vergangenen Wochenende (2.-10.-3.10. 2004) wollte ich wieder einmal das Tessin unsicher machen. Nichts besonderes, könnte man meinen. Wer kein Auto hat, benutzt die Bahn. Sehr vernünftig! Und wer sich daneben auch noch Schuhe leisten kann, der trägt sie auch beim Bahnfahren. Halt! Das trifft nur für ca. 99 % aller in der Schweiz lebenden Leute zu. Und in anderen europäischen Ländern sieht es nicht viel anders aus. Warum das so ist, kann ich mir beim logischen Betrachten der Sache nicht erklären. Sätze wie "Barfuß Bahnfahren, so was tut man nicht!" basieren auf keiner Logik. "Vernünftige" Leute tragen keine Schuhe beim Bahnfahren, soweit andere gewichtige Dinge nicht dagegensprechen. Das gilt für den Molli ebenso wie für den ICE oder die U-Bahn.

Also am Samstag barfuß zum Zofinger Bahnhof geradelt, um 6.25 Uhr fuhr mein Zug, ich wollte nach Melide und brauchte nicht einmal umsteigen. Während ich auf dem Bahnsteig (es war bewölkt, windstill und 12°C warm) auf den Schnellzug wartete, marschierte gerade eine Reisegruppe die Treppe hoch. Einer sagte zum anderen (und meinte wohl mich): "Der läuft immer so rum, Libli, kurze Hosen, barfuß." Der gute hat mich wohl noch nie in Dienstkleidung gesehen oder im tiefsten Winter! Als ich dann durch den Zug ging und einen geeigneten Sitzplatz suchte (einen Platz am Fenster mit Blick in Fahrtrichtung ), rief ein kleiner Junge laut: "Ohne Schuhäääääääääähhhhhhhhhh!" Wollte er seine Schuhe etwa auch ausziehen? Ich bekam es nicht mit und fand schließlich meinen Platz.

In Luzern stieg ein älteres Ehepaar hinzu und setzte sich auf die Plätze hinter mir. Sie waren nicht an mir vorbei gegangen, und die Sitzlehnen verhinderten einen Blick auf mich. Ich hörte aber jedes Wort, was sie sagten. Immer wenn Leute vorbeigingen, gab es irgendeine Bemerkung (wenn das "Opfer" außer Hörweite war). Mal wurden die geflickten Jeans bemängelt, mal die ungeputzten Schuhe, mal das Kopftuch einer muslimischen Mitfahrerin. Als der Zug auf dem "Großstadtbahnhof ohne Großstadt" (Arth-Goldau) hielt, verließen viele Leute den Zug, anderseits kamen auch viele Leute aus anderen Zügen. Da der Zug gerade so hielt, daß man die Bahnsteigtreppe beobachten konnte, fanden die Leute auch recht viele Opfer. Über einen Rentner, der auf den Zug nach Locarno wartete, tratschten sie: "Kurze Hosen, der alte Siech glaubt wohl, daß es im Süden warm ist!" Zwei junge Frauen in langen schwarzen Röcken und Haaren, die bis auf einen Schopf abrasiert und obendrein noch grün gefärbt waren, bekamen auch ihr Fett weg. Eine Frau, die mit einem kleinen Kind über den Bahnsteig ging, erntete folgenden Kommentar: "Hast gesehen, die trug Turnschuhe, und dann noch ohne Strümpfe. Haben wir Sommer?" Na, wartet, dachte ich. Als ich zur Zugtoilette mußte, wählte ich mir nicht diejenige aus, die meinem Sitzplatz am nächsten war, sondern diejenige, die man nur erreichen konnte, wenn man an den Lästerern vorbeiging. Kaum war ich an denen vorbei, da unterbrachen sie plötzlich in Gespräch. Wie gern hätte ich jetzt am Hinterkopf auch noch Augen gehabt! Ich tat so, als hätte ich welche, und grinste. Als ich von der Toilette wieder zurückkam, konnte ich sie sehen, ohne sie bewußt anzusehen. Aus den Gesichtern sprühte Gift und Galle! Ich setzte mich wieder auf meinen Platz. Bis sie den Zug in Bellinzona verließen, blieben sie stumm!

Ansonsten gab es keinerlei Kommentare zu meiner Barfüßigkeit im Zug. Auch als ich ihn in Melide verließ, schien keiner der dort wartenden Fahrgäste überrascht zu sein. Als ich gegen Mittag des Folgetages Melide mit dem Zug verließ, vorerst nur bis Lugano, geschah auch nichts weltbewegendes.

Abends um 18.57 Uhr sollte mein Intercity nach Zofingen zurückfahren. Als ich den Bahnsteig erreichte, warteten schon viele Leute auf den Zug in den "kalten" Norden. Ein Junge sagte: "Der ist ja barfuß!" Ich war auch der einzige ohne Schuhe, jedoch waren recht viele relativ sommerlich gekleidet. Ich wußte genau, daß es sich dabei um Leute handelte, die nur bis Bellinzona wollten. Denn der nächste Halt war Arth-Goldau, in der Kälte. Keiner lästerte, weder die Soldaten, noch die später zugestiegenen Schlachtenbummler eines Eishockeymatches. Hinter Sursee war nur noch ein Schlachtenbummler im Zug geblieben. Da er nun keine Leute mehr um sich hatte, mit denen er über Sport redeten konnte, fragte er mich, ob ich im Tessin gewandert wäre. Mit keinem einzigen Wort erwähnte er meine Barfüßigkeit. Offensichtlich scheint das für ihn genau so wenig ungewöhnlich zu sein wie das Tragen von Schlittschuhen beim Eishockey.

Fazit: Den einen verschlägt barfüßiges Bahnfahren die Sprache, für den anderen ist es eine Selbstverständlichkeit!

Mit freundlichen Grüßen

Michael aus Zofingen

Barfüßiges Bahnfahren, z. B. ins Tessin

KaiL, Monday, 04.10.2004, 16:26 (vor 7299 Tagen) @ Michael aus Zofingen

Eine Frau, die mit einem kleinen Kind über den Bahnsteig ging, erntete folgenden Kommentar: "Hast gesehen, die trug Turnschuhe, und dann noch ohne Strümpfe. Haben wir Sommer?"

*pruuust*
Also Turnschuhe ohne Strümpfe sind hier oben (Lüneburg) am Wochenende bei 15° *absolut* keiner Nachricht wert gewesen - da hätten die vermutlich den Satz im 5sec-Takt ablassen können...

Barfüßiges Bahnfahren, z. B. ins Tessin

Andi35 @, Stammposter, Monday, 04.10.2004, 18:44 (vor 7299 Tagen) @ KaiL

Eine Frau, die mit einem kleinen Kind über den Bahnsteig ging, erntete folgenden Kommentar: "Hast gesehen, die trug Turnschuhe, und dann noch ohne Strümpfe. Haben wir Sommer?"

*pruuust*
Also Turnschuhe ohne Strümpfe sind hier oben (Lüneburg) am Wochenende bei 15° *absolut* keiner Nachricht wert gewesen - da hätten die vermutlich den Satz im 5sec-Takt ablassen können...

Hallo Kai!
Solche Kommentare können doch nur von Jugendlichen oder eben jungen Leuten (meist eben Männer) kommen, war es nicht auch so?
Haben die das nicht geschnallt und gesehen, dass diese Frau mit dem Kind nicht die Einzige war?
Gruß von Andi!

RSS-Feed dieser Diskussion