Barfüßiger Abendspaziergang in Ascaona (Hobby? Barfuß! 2)

Michael aus Zofingen @, Stammposter, Monday, 27.09.2004, 11:16 (vor 7306 Tagen)

Es war Samstag, der 25.9.2004. Ich war mit der Bahn bis Locarno gefahren und hatte eine barfüßige Flußuferwanderung nach Intragna und wieder zurück bereits hinter mir. Nun wurde es dunkel, es bot sich an, nun noch dem schönen Städtchen Ascona einen Besuch abzustatten. Ab und zu sah man noch einen sommerlich gekleideten Autofahrer, der offensichtlich von einer Wanderung zurückgekommen war. Tendenziell wurden aber die Pullover und Jacken dicker, die Hosen länger, die Schuhe geschlossener usw. Es waren recht viele Leute in der Stadt, die Unterhaltung geschah auf schweizerdeutsch oder hochdeutsch, italienisch war nur in der Minderheit vertreten. Ein dick vermummtes Mädchen fragte den Vater: "Wieso hat der Mann keine Schuhe an?" "Weil er gerne barfuß läuft," war die knappe Antwort, die sogar zutraf. Solche Antworten sind mir lieber als irgendwelches Gefasel über angebliche Armut oder asoziales Verhalten. Auf der Piazza saßen noch viel Leute draußen vor den Restaurants. Zwei kleine Mädchen hüpften vor den Tischen auf dem Straßenpflaster, sie trugen überlange Hosen, Wollpullover und Flipflops. Als sie mich sahen, fiel ihnen wohl ein, daß Flipflops nicht gerade ideal sind zum Hüpfen. Die ältere Schwester zog sie aus und die jüngere folgte ihrem Beispiel. Da aber ertönte eine Frauenstimme vom Tisch: "Wollt ihr mal die Schuhe wieder anziehen, ihr erkältet euch noch! Außerdem gehen die Hosen kaputt." "Das Pflaster ist aber noch soooo warm, viel wärmer als die Luft. Und der Mann da läuft auch ohne Schuhe!" "Der ist aber erwachsen. Und der trägt kurze Hosen, die gehen nicht kaputt." Mehr bekam ich nicht mit: Bleibt zu hoffen, daß die Mädchen beim nächsten Mal zur Strafe kein fetteres Schuhwerk tragen müssen.

Direkt am Ufer des Langensees setzte ich mich auf eine Bank und betrachtet die hohen Berge am Seeufer. Die Lichter von Ronco, Brissago und anderer Schweizer bzw. italienischer Orte spiegelten sich im Wasser. Ich dachte an meine Eltern, die jetzt in Meersburg am Bodensee sind und sich wohl über das schlechte Wetter ärgerten. Sicher saßen sie um die Uhrzeit nicht mehr am Seeufer. Und wenn schon, dann sicher nicht in leichtem T-Shirt, kurzen Hosen und barfuß. Hinter der Bank waren Kinder auf einem Spielplatz. Ein etwa zehnjähriges Mädchen in Anorak, aufgekrempelten Jeans und Turnschuhen ohne Socken ging zu den Spielgeräten. Dann zog es die Schuhe aus und rief der jüngeren Schwester zu: "Ohne Schuhe geht es besser!" Aber die Kleine folgte dem guten Rat nicht. Nach einiger Zeit rief deren Mutter sie zum Weitergehen. Die ältere Tochter zog einen Schuh wieder an, dann aber sah sie mich. Statt den zweiten Schuh auch noch anzuziehen, zog sie den ersten wieder aus und folgte barfuß der Mutter. Diese protestierte gar nicht, was vielleicht nicht überrascht. Sie trug schließlich auch nur einen kurzen Rock und leichte Sandalen und keine Strümpfe. Trotzdem schien sie nicht zu frieren.

Ich ging zurück zur Piazza, wo gerade auf einer Bühne ein Chor sang, teilweise Tessiner Lieder, teilweise auch Lieder mit "hallelujaverdächtigem" Inhalt. Viele Leute hatten sich um die Bühne gruppiert. Ein älterer Herr fragte mich auf hochdeutsch, ob es nicht zu kalt sei. Als ich ihn aufklärte, meinte er: "Dann ist es ja gut." Als seine Frau zu ihm stieß, deutete er auf mich, die aber meinte nur: "Der erkältet sich doch ohne Schuhe!" Es war nach 22 Uhr, als ich die Piazza verließ. In der Fußgängerzone hörte ich noch: "Ein hitziger Siech!" oder "Ein harter Hund!" Das "übliche" Lästern von Jugendlichen entfiel. Vielleicht fühlen sich die dort wohnhaften jungen Leute nicht wohl unter den "deutschen Rentnern" und suchen lieber Orte aus, wo sie unter sich sind. Ich verließ Ascona in Richtung Locarno, verließ aber die Straße an der Brücke über die Maggia. Ich war müde, ich wollte zurück zu meiner "Zweitwohnung", ein Gebüsch am Ufer der Maggia. Dir letzten Meter ging ich gemächlich, ich genoß den feinen kalten Sand unter den nackten Füßen. Ein ähnliches Gefühl muß wohl der Junge "Tim" erlebt haben, wenn er spätabends "barfuß und breitbeinig in feinen kalten Sand" am Elbufer stand und auch seinen Vater, den "Taucher Hinrichs" wartete. Ja, genau diese Gedanken hatte ich, and den "Mann im Strom", geschrieben von Siegfried Lenz. Selbstverständlich sind der Elbstrand bei Hamburg in der Nachkriegszeit und das Maggiadelta im Jahre 2004 nicht miteinander vergleichbar. Aber kalter Sand fühlt sich unter nackten Füßen immer ungenehm an, egal wann und wo. Ich breitete meinen Schlafsack aus und schlief ein.

Mit freundlichen Grüßen

Michael aus Zofingen


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