Barfuß in der Nachkriegszeit / in der Literatur (Hobby? Barfuß! 2)

Ralf RSK, Stammposter, Tuesday, 14.09.2004, 00:27 (vor 7320 Tagen)

Hallo,

vor kurzem hatte ich mal in Zusammenhang mit Jugendbüchern über die Nachkriegszeit, in denen die Kinder mangels Schuhen barfuß laufen, auf Klaus Kordons Buch "Der erste Frühling" hingewiesen und es zur Lektüre empfohlen, weil es einfach ein tolles Buch ist (man sollte sich nicht am Begriff Jugendbuch stören, Kordon selbst lehnt die Unterscheidung von Romanen für Jugendliche und Erwachsene ab, sagt aber, Jugendbücher forden den Autor mehr heraus, weil sie ehrlich und autentisch sein müssen).

Ich wurde daraufhin hier gebeten, doch einige "einschlägige" Passagen hier zu zitieren. Das kann ich nun gerne machen, nachden es gelungen ist, im Bücherfundus unserer Familie das Buch wiederzufinden ;-).

Ich möchte aber ausdrücklich darauf hinweisen, dass das Buch sich sehr umfassend und oft auch betroffen machend mit dem Kriegsende und der Zeit danach befasst,und die kurzen Ausschnitte hier ihm nicht ansatzweise gerecht werden. Ich habe fast ein schlechtes Gewissen, sie so aus dem Zusammenhang zu reißen.

Zur Einführung vielleicht hier noch der Klappentext:
Berlin, Frühjahr 1945: Tag und Nacht Bombenalarm. Die zwölfjährige Änne erlebt die letzten Monate des Krieges und wie die sowjetische Armee die Stadt besetzt. Eines Tages steht ein Mann vor der Tür, den sie noch nie gesehen hat und an den sie sich zuerst gewöhnen muss: Es ist ihr Vater, der das KZ überlebt hat.

Auf der Straße liegen immer noch Glassplitter und Änne geht nun nschon seit geraumer Zeit barfuß. Kein Schuh passt ihr noch, und Gromas Schlorren würde sie nur anziehen, wenn draußen Eis und Schnee liegen und sie ohne Schuhe festfrieren würde. Also muss sie aufpassen, wo sie hintritt, während sie langsam den Weg zur Post einschlägt. Der Gropa hat gesagt, die Post würde heute wieder öffnen und sicher bald dieersten Briefe befördern. ..

...

Änne besucht mit ihrem Vater und ihrer Tante ein Konzert einer russischen Militärkapelle in einem ausgebombten Kino: Jetzt, auf dem schwankenden Brett und zwischen Vater und Tante Mieze, ist Änne froh, mal wieder ein Kleid anzuhaben.In einem Kleid fühlt sie sich viel mehr als Mädchen. Nur schade, dass sie immer noch keine Schuhe hat, sonst hätte sie weiße Söckchen dazu anziehen können; so müssen saubere Füße reichen.

...

Sie fahren mit der Nuckelpinne durch die Straßen. Änne sitzt neben Onkel Heinz auf dem Beifahrersitz, Dieter und Ellen sitzen auf der Ladefläche, lehnen ihre Rücken an die Fahrerkabine und reden miteinander. Ellens langer Schal flattert lustig im Fahrtwind, ihre langen Beine hat sie über die Ladeklappe gelegt, so dass alle Welt ihre großen, nackten, schmutzigen Füße bewundern kann. ..

Klaus Kordon: Der erste Frühling
Beltz & Gelberg Verlag
ISBN 3-407-78923-8 (Paperback), 9,90 EUR
ISBN 3-407-79615-3 (gebunden), 18,00 EUR
ausgezeichnet mit dem Evangelischen BUchpreis und dem Buxtehuder Bullen

Das Buch ist Teil der "Trilogie der Wendepunkte"; außerdem gehören hierzu:
- Die roten Matrosen, oder ein vergessener Winter (1918/19), ISBN 3-407-78883-5, 5,90 EUR
- Mit dem Rücken zur Wand (1932/33), ISBN 3-407-78793-6, 8,90 EUR

Auch im Kordons Buch "Ein Trümmersommer" wird 1947 realitätsentsprechend barfuß gelaufen:

Die Mutter seufzte. Es war nicht das erste Mal, dass sie darüber sprachen; der Azusgang des Gesprächs war immer der gleiche. "Die Kartoffeln sind für heute, das Brot ist für morgen." Sie nahm zwei Messer aus dem Küchemschrank, rief Karin und winkte Eule und gab jedem ein Messer. "Schält nicht zu dick und werft die Schalen nicht weg, wir brauchen sie noch."
"Für Kartoffelpuffer, ich weiß!" Karin verzog das Gesicht. "Die Schalen nicht zu dick, aber trotzdem Kartoffelpuffer daraus machen! Da fressen wir ja Dreckpuffer."
"Ich kann's nicht ändern." Die Mutter setzte sich, zog die Schuhe aus, rieb sich die Füße und betrachtete die kaputten Strümpfe. "Die sind nun auch hinüber."
"Geh doch barfuß wie ich." Karin streckte ihr rechtes Bein in die Höhe. Der Fuß war schmutzig, die Haut hornig und rissig. Die Mutter hatte ihr für den Winter Schuhe versprochen, wusste aber nicht, woher sie sie bekommen sollte. Es war schwierig, Bezugsscheine für Schuhe zu erhalten. Karin erinnerte die Mutter immer wieder daran; sie hatte Angst, im Winter Vaters alte Botten tragen zu müssen.

Klaus Kordon: Ein Trümmersommer
Beltz & Gelberg
ISBN 3-407-78432-5 (Paperback), 6,90 EUR

Viele Grüße, Ralf

Barfuß in der Nachkriegszeit / in der Literatur

Andi35 @, Stammposter, Tuesday, 14.09.2004, 01:38 (vor 7320 Tagen) @ Ralf RSK

Hallo Ralf!
Unter diesen Umständen möchte ich niemals barfuß laufen MÜSSEN!!! Dann macht mir das Ganze keinen Spaß mehr: kein Geld für Schuhe, überall Glas, womöglich noch tote Soldaten, die herum liegen, eine grässliche Vorstellung!
Es wäre höchste Zeit, dass die Menschheit endlich "schlau" wird und sich ein Weltfrieden breit macht! Das ist wohl aber ein Wunschdenken von mir, das dem eines Kindes nahe kommt!
Die Menschheit führt Kriege, solange es sie gibt und es wird leider niemals aufhören! Die Welt ist schlecht und die positiven Dinge gehen unter!
Gruß von Andi!

Kein Krieg

Ralf RSK, Stammposter, Tuesday, 14.09.2004, 12:53 (vor 7319 Tagen) @ Andi35

Als der Krieg den beiden benachbarten Völkern unvermeidlich war, schickten die feindlichen Feldherrn Späher aus, um zu erkunden, wo man am leichtesten in das Nachbarland einfallen könnte.

Und die Kundschafter kehrten zurück und berichteten ungefähr mit den gleichen Worten ihren Vorgesetzten: es gäbe nur eine Stelle an der Grenze, um in das andere Land einzubrechen. "Dort aber", sagten sie, "wohnt ein braver kleiner Bauer in einem kleinen Haus mit seiner anmutigen Frau. Sie haben einander lieb, und es heißt, sie seien die glücklichsten Menschen auf der Welt. Sie haben ein Kind. Wenn wir nun über das kleine Grundstück in Feindesland einmarschieren, dann würden wir das Glück zerstören. Also kann es keinen Krieg geben."

Das sahen die Feldherrn denn auch wohl oder übel ein, und der Krieg unterblieb, wie jeder Mensch begreifen wird.

(chinesisches Märchen)

Niedliche Fabel

Paul, Tuesday, 14.09.2004, 14:25 (vor 7319 Tagen) @ Ralf RSK

Hallo Ralf!

Das ist zwar eine sehr hübsche und niedliche Fabel, aber ich kann darin leider keinen Bezug zu barfuß sehen.

Gruß,
Paul

Niedliche Fabel

Ralf RSK, Stammposter, Tuesday, 14.09.2004, 18:14 (vor 7319 Tagen) @ Paul

ich kann darin leider keinen Bezug zu barfuß sehen.

Genau. Er war völlig off topic. Aber eine passende Antwort auf Andis Beitrag, fand ich.

Gruß, Ralf
der jetzt barfuß Fliesen legen geht, um diesen Beitrag noch vor der OT-Unwürdigkeit zu retten ;-)

Barfuß in der Nachkriegszeit / in der Literatur

Barfussjan, Stammposter, Tuesday, 14.09.2004, 22:48 (vor 7319 Tagen) @ Andi35

Hallo Andi, hallo Ralf!

Unter diesen Umständen möchte ich niemals barfuß laufen MÜSSEN!!! Dann macht mir das Ganze keinen Spaß mehr: kein Geld für Schuhe, überall Glas, womöglich noch tote Soldaten, die herum liegen, eine grässliche Vorstellung!
Es wäre höchste Zeit, dass die Menschheit endlich "schlau" wird und sich ein Weltfrieden breit macht! Das ist wohl aber ein Wunschdenken von mir, das dem eines Kindes nahe kommt!
Die Menschheit führt Kriege, solange es sie gibt und es wird leider niemals aufhören! Die Welt ist schlecht und die positiven Dinge gehen unter! >Gruß von Andi!

Frieden ist leider nur die Zeit zwischen zwei Kriegen. Und wie man sieht - barfuss "geht" immer...

Mit dem aber, was eine immer irrsinniger werdende Menschheit inzwischen auf diesem Planeten veranstaltet, wird sie - wenn sie so weiter macht - bald nicht mehr von dieser Welt sein. Was auch immer die Menschheit tut, die Erde wird es überleben, selbst wenn sie Millionen Jahre dafür brauchen sollte, sich von uns zu erholen. Es sei denn, irgendwelche Irren schaffen es vorher noch, sie aus ihrer Umlaufbahn zu schiessen. Eine Hardcore- Zukunftsvision a la Barfussjan? - ich hoffe sehr, besonders für unsere nachfolgenden Generationen, dass wir Menschheit die weitere Vernichtung unserer Existenzgrundlagen >gemeinsam< noch verhindern werden! - vielleicht heisst es dann irgendwann mal weltweit: no shirt, no shoes, NO WAR!

Gruß, Jan

Barfuß in der Nachkriegszeit / in der Literatur

Andi35 @, Stammposter, Thursday, 16.09.2004, 04:07 (vor 7318 Tagen) @ Barfussjan

Hallo Jan!
Hoffen wir wirklich das Betse, sodass wir unbeschwert barfuß gehen und auch die anderen schönen Dinge des Lebens genießen können!
Dir einen lieben Gruß von Andi!

Barfüßige Kindheit eines Radrennfahrers / in der Literatur

Michael aus Zofingen @, Stammposter, Tuesday, 14.09.2004, 08:49 (vor 7320 Tagen) @ Ralf RSK

An dieser Stelle möchte ich noch ein älteres Buch erwähnen, in dem auch Leute barfuß wegen Armut laufen mußten.
Titel: "Training, Kämpfe, große Siege : Ein Leben als Rennfahrer", Autor: Ferdinand Kübler, erschienen 1963 beim Schweizer Druck- und Verlagshaus in Zürich. In humorvoller Weise hat der 1919 geborene Schweizer Radrennfahrer selber über seine Karriere als Sportler, aber auch über seine Kindheit in bitterster Armut unter dem strengen Regime seines Vaters geschrieben. Hier einige Passagen:
"Vater war unsagbar streng zu uns. Wahrscheinlich lag seine Unerbittlichkeit in seinem schweren Beruf begründet, in dem er oft mit brutal um sich schlagenden Kranken zu tun hatte. Seit vielen Jahren arbeitete er als Oberwärter in einer Abteilung für hoffnungslose Fälle in der Nervenheilanstalt von Rheinau..."
Wirklich ein unangenehmer und zumindest damals schlecht bezahlter Beruf. Kein Wunder, wenn der Vater so handelt: "Vater sparte nämlich eisern. Er wollte sein Leben nicht unter unheilbar kranken, armen Wesen beschließen. Er wollte ein freier, selbstständiger Mann werden."
Und darunter mußten die Frau und ursprünglich fünf Kinder (ein Mädchen ist im Kindesalter gestorben) bitter leiden, etwa beim Essen und bei der Kleidung: "Von all dem jedoch so wenig, daß es manchmal ZU wenig war. Schuhe? Kannten wir nur im Winter. Vom Frühjahr bis zum Herbst liefen wir täglich viermal je zwei Kilometer barfuß zur Schule. Barfuß standen wir auch auf den Feldern, wenn wir den benachbarten Bauern bei der Ernte helfen durften. Wir taten es gerne, denn für unsere Arbeit bekamen wir Brote mit Speck oder eine kräftige Mahlzeit..."
Als Ferdi 11 Jahre war, hatte sein Vater es mit seinem Geiz geschafft, in Marthalen ein Haus zu kaufen, mit Schuhgeschäft samt Reparaturwerkstatt, kombiniert mit Velo- und Autoreparaturwerkstatt. Aber der Wohlstand brach nicht aus: "Mutter stand jetzt oft im Schuhladen. Doch sie war keine gute Geschäftsfrau. Sie war einzig und allein eines: eine gute Frau. Erschien eine arme Nachbarin, der bloßen Füße ihres Kindes wegen jammernd "ich bezahle die Schuhe bestimmt im nächsten Monat" - sie gab ein paar Schuhe für das arme Würmchen her. Und vergaß, eine Rechnung dafür auszustellen. Natürlich kam Vater früher oder später dahinter..."
Das gab aber Ärger! Und beim nächsten Mal ging es wieder so! Nur in einem ging es den Kindern besser: "Wir trugen nun auch Schuhe, aber Butter kannten wir noch immer nur "heimlich"". Kein Wunder! Als Kinder eines "Flickschusters".
Der Vater bleib geizig. Es wurde schlecht geheizt, kaputte Fenster wurden nicht repariert, Ferdi litt an allen möglichen Krankheiten (Fieber, Husten, Brustfellentzündung, Gelenkrheumatismus). Sein Traum aber blieb, Radrennfahrer zu werden. Er riß zu Hause aus und wurde Brotfahrer bei einem Bäcker in Männedorf. Hier litt er wenigstens keinen Hunger mehr, und seine Dienstfahrten zu den Kunden im Zürcher Oberland (Pfannenstiel) kombinierte er mit Trainingsfahrten.
Der Rest des Buches hat mit barfuß nichts mehr zu tun, sein erstes Radrennen trat er mit normalen Turnschuhen an, während seine Gegner besser ausgerüstet waren. Dieses Buch erzählt deutlich, wie durch harte Erziehung des Vaters man in seinem ganzen Leben hart gegen sich selbst ist. Und das war Ferdi Kübler. Nur durch hartes Training (und ohne Doping) gelang ihm seine erfolgreiche Karriere als Radrennfahrer. Aber im Gegensatz zu seinem Vater ging er nicht hart zu seiner Frau und seinen Kindern um. Aber er blieb im Grunde genommen ein bescheidener Mann, er behielt seinen Humor. Ich weiß nicht, ob er heute noch lebt. In Adliswil, wo er lange Zeit gewohnt hat, gibt es noch heute ein Sportgeschäft Kübler.

Solche Zeiten wie zur Jugend des Ferdi Kübler wollen wir sicher nicht herbeisehnen. Barfuß aus Armut muß nicht sein. Und Krankheiten wegen schlechter Heizung oder nicht reparierter Scheiben erst recht nicht. Aber Barfußverbot und überheizte Räume, wo jeder verweichlicht, sicher auch nicht. Immer den goldenen Mittelweg, also die Räume bei einer mäßigen Temperatur belassen und barfuß laufen, wenn es Spaß macht.
Mit freundlichen Grüßen
Michael aus Zofingen

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