Abschied aus der "Sonnenstube" (Hobby? Barfuß! 2)

Michael aus Zofingen @, Stammposter, Monday, 16.02.2004, 16:02 (vor 7532 Tagen)

Jedes Wochenende geht mal zu Ende, auch die im Tessin. Nach kalter Nacht bei Ponte Brolla wanderte ich am Sonntag, den 15.2.2004 ostwärts auf einem Bergwanderweg Richtung Locarno. Allerdings war das Wort "Wanderweg" übertrieben, etliche umgestürzte Bäume blockierten ihn, auch waren viele Steine weggebrochen. Ich war froh, als ich das Seeufer bei Locarno http://www.picswiss.ch/Tessin/TI-l1-02.html erreichte. In den Turnschuhen hatten sich Blätter, Steinchen und sogar Maronistacheln angesammelt, ein ekliges Zeug, nicht nur für Barfüßer, sondern auch für Beschuhte. Da gegen 11 Uhr die Temperatur sogar bei mir die Barfußlimite erreicht hatte und mein nächstes Ziel - Ascona - http://www.picswiss.ch/anno/s02-01.html über Asphaltstraßen erreichbar war, entschied ich mich, die Turnschuhe im Rucksackes zu verstauen und statt der Flipflops gar keine Schuhe anzuziehen. Eine Frau aus der Deutschschweiz sagte zu ihrem Mann: "Der weiß wenigstens, was gesund ist!" Teilweise erntete ich zwar ungläubige, nirgends aber giftige Blicke. In Ascona suchte ich das Freibadgelände auf, aber zum Baden war es mir zu kalt. Obwohl alle anderen Leute ihre Schuhe anbehielten, schien sich keiner an meiner Schuhlosigkeit zu stören. Gegen 16.15 Uhr verließ ich den Strand, um erst durch die Altstadt von Ascona Richtung Locarno zu wandern. Einer entgegenkommenden "Bullenschleuder" entging ich, weil ich es so managte, daß man nur diejenigen Teile von mir sah, die überein parkiertes Auto hinausragten (das Tragen eines T-Shirts gilt sicher nicht als "Erregung öffentlichen Ärgernisses". Angenehm war auch der Sandweg am Maggiaufer ebenso wie der Weg durch einen Park. Etwa 5 Minuten vor der Abfahrt des Zuges erreichte ich den Bahnhof von Locarno. Ob die Leute, die bereits im Zug saßen, sich an meiner Schuhlosigkeit störten, kann ich nicht sagen. Auch beim Umsteigen in Bellinzona interessierte mich die Meinung der anderen nicht, wohl aber das Erreichen des Anschlußzuges und eines Sitzplatzes. Die Wagen waren gerammelt voll, was mich wunderte. Später erkannte ich den Grund: In den hinteren Wagen (keine SBB-Wagen, sondern solche der italienischen Staatsbahn) war die Beleuchtung ausgefallen, diese Wagen waren fast leer. Für mich kein Grund, den Wagen zu meiden. Nicht etwa, weil ich so meine Barfüßer unbemerkt durch den Gotthard bringe. Und auch nicht, um "heimlich" Schuhe aus dem Rucksack zu holen, um sie dann anzuziehen, um der Gefahr zu entgehen, beim Verlassen des Zuges Kommentare zu ernten wie "Jetzt bin ich aber enttäuscht! Ist es wirklich ohne Schuhe zu kalt? Wir haben doch bereits Mitte Februar. Da ist doch das Barfußlaufen in der Innerschweiz nicht unüblich!" Ich genoß die Bahnfahrt durch die Alpen. Dank der ausgefallenen Wagenbeleuchtung konnte ich die schneebedeckten Berge mit einzelnen Lichtpunkten (Weiler, angestrahlte Kapellen usw.) deutlich erkennen. Nördlich der Alpen lag mehr Schnee. Irgendwie ein Wunder: Ich saß ohne Schuhe im geheizten Intercity, und draußen glitt die Schneelandschaft vorbei. Immer wieder faszinierend ist es, wenn der Zug dreimal an der angestrahlten Kirche von Wassen vorbeifährt, und zwar in verschiedenen Höhen. Die Kehrschleifen, die damals als Pionierleistung des Eisenbahnbaus galten, zu einer Zeit, wo es sicher nicht üblich war, im Februar ohne Schuhe Bahn zu fahren, so bequem waren die Dampfzüge nicht. Aber auch im Sommer fuhr man damals nicht barfuß Bahn, weil damals Schuhlosigkeit noch Armut bedeutete. Damals war aber Bahnfahren ein Luxus, also den beschuhten vorbehalten. Diejenigen, die barfuß gingen (gehen mußten), konnten sich keine Fahrkarte erlauben. Alte Eisenbahntechnik, befahren von modernen Zügen, bei denen das meiste funktioniert, daß man "froh" ist, wenn einmal die Beleuchtung nicht funktioniert.
Bevor ich weiter in "Erinnerungen" an Zeiten, die ich selber nicht erlebte, weiterschwelgen konnte, ging zwischen Schwyz und Steine das Licht an. Ein Mann, der am gegenüberliegenden Fenster saß, bemerkte erst jetzt meine Schuhlosigkeit. Er befand sich bereits vor mir im Zug und hatte im Dunkeln nicht sehen können, daß ich barfuß angekommen war. Aber hätte er eigentlich nicht HÖREN müssen, daß ich ohne Schuhe "angeschlichen" kam? Er starrte immer nur entgeistert auf meine Füße, und ich beobachte sein Gesicht im "Spiegel" der Fensterscheibe und ich konnte mir ein Grinsen nicht verkneifen. Ich konnte ihn nicht weiter beobachten, als ich beim Umsteigen in Arth-Goldau in einen abfahrbereiten Schnellzug einfach nur den Rucksack nahm und ohne Schuhe den Intercity verließ. Dieser Schnellzug füllte sich erst in Luzern. Alle Leute, die den Wagen betraten, starrten auf meine Füße, aber böse Bemerkungen gab es nicht. Als ich gegen 21.30 Uhr den Zug in Zofingen verließ, hörte ich Leute auf dem Bahnsteig sagen: "Da kommt einer aus dem Tessin. Da muß es enorm warm sein!" Ein Blick auf ein öffentliches Thermometer: +3°C. Aber wegen einem Kilometer Radfahren vom Bahnhof zu meiner Wohnung lohnt es sich wirklich nicht, im Rucksack noch nach Schuhen zu suchen.
Mit sonnigen Grüßen
Michael aus Zofingen


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