Barfuß in Synagoge (Hobby? Barfuß! 2)

Georg @, Stammposter, Thursday, 15.01.2004, 17:35 (vor 7564 Tagen)

Hallo zusammen,
die heutige Presserecherche erbrachte folgenden Fund zu einem schon wiederholt diskutierten Thema:

Barfuß in die Synagoge
Manche religiöse Praktik ist abhängig vom kulturellen Umfeld - auch das Beten ohne Schuhe
Als der Ewige Moses im brennenden Dornbusch erschien, rief er ihm zu: "Wirf deine Schuhe von deinen Füßen, denn der Ort, auf dem du stehst, ist heiliger Grund" (2. Buch Moses, 3, 5). Ähnliches, lediglich unter Weglassung des letzten Wortes "Grund", sprach der Heerführer des Ewigen zu Jehoschua (Jos. 5, 15).
Das Ausziehen der Schuhe und die Barfüßigkeit haben in der Heiligen Schrift verschiedene Bedeutungen. Sie erscheinen zunächst als Ausdruck von Trauer und Klage: "David aber stieg hinauf ..., hinaufsteigend und weinend, das Haupt ihm verhüllt und barfuß ging er" (2. Sam. 15, 30). Ähnliches können wir Jirmejahu 2, 25 entnehmen: "Spar deinem Fuß das Bloßgehen und deiner Kehle Durst."
An einigen Stellen tritt die Barfüßigkeit zusammen mit dem Ablegen der Kleidung auf, etwa beim Krieg gegen Aschschur, als Gott zu Jeschajahu sprach: "Geh, lös das Sackgewand von deinen Lenden, und deinen Schuh zieh ab von deinen Füßen! Und er tat so: Ging einher, nackt und barfuß ..., so wird der König von Aschschur wegführen die Gefangenen Mizrajims und die Verschleppten Kuschs, Burschen und Greise, nackt und barfuß ..." (Jes. 20, 2-4).
Wir sehen also, daß das Ausziehen der Schuhe auf eine Begegnung mit dem Heiligen, auf Trauer und auf den Weg ins Exil hindeutet.
Kann Moses’ Tat am brennenden Dornbusch jedoch auch als Beispiel für nachfolgende Generationen dienen, sich der Schuhe als Zeichen der Achtung eines heiligen Ortes zu entledigen? Mischna Berachot (9.5) unterweist uns: "Ein Mensch darf den Tempelberg nicht mit seinem Gehstock, seinen Schuhen oder seiner Tasche betreten."
Da die Synagoge als "kleiner Tempel" angesehen wird, fragt sich, ob dies auch für Synagogen gilt. Die Frage wird im Traktat Berachot diskutiert, und der Talmud-Interpret Rabba ist der Ansicht, daß sich die Wege, in der Synagoge Achtung zu bekunden, von den häuslichen Gewohnheiten und nicht von den Praktiken im Tempel herleiten: "So wie man nicht möchte, daß die private Heimstatt als Durchgangsort für Fremde dient, obgleich es nicht stört, ob jemand speit oder Schuhe trägt, so darf auch die Synagoge nicht als Durchgangsort benutzt werden, obgleich Speien und Fußbekleidung erlaubt sind."
In der Tat schrieb Maimonides vor, daß eine Person die Synagoge mit seinem Gehstock, seinen Schuhen oder seiner Tasche betreten darf. Maimonides’ Auslegung folgt der Praxis in Babylon, obgleich es im Land Israel üblich war, die Schuhe vor Betreten der Synagoge auszuziehen. Der Jerusalemer Talmud, Baba Metzia 2, 9, erzählt: "Judah ben Rabbi ging in die Synagoge und zog seine Schuhe vorher aus, woraufhin die Schuhe gestohlen wurden. Er sprach: ‘Wäre ich nicht in die Synagoge gegangen, wären meine Schuhe nicht gestohlen worden.’" Die Tatsache, daß die Mosaikböden der Synagogen aus der byzantinischen Zeit in Israel so gut erhalten sind, ist ein weiterer Beleg dafür, daß die Betenden barfuß gingen.
Nicht nur in Israel, sondern auch an einigen Orten in der Diaspora war es üblich, die Schuhe vor Betreten einer Synagoge auszuziehen. Dies galt zum Beispiel für die Juden im Jemen.
Eine halachische Diskussion dieser Frage findet sich in der Antwort von Raschbasch an einen Dajan in Bejaia, einer Stadt in Ostalgerien. Sie geht auf eine Zeit zurück, in der die Juden wegen der Pogrome aus dem Jahr 1391 von Spanien nach Algerien auswanderten. Dort trafen sie auf eine alteingesessene Jüdische Gemeinde, die schon seit mehreren Generationen mit den Moslems zusammenlebte. Unter den algerischen Juden war es Brauch, die Schuhe vor Betreten der Synagoge auszuziehen, so wie die Moslems ihre Schuhe auszogen, bevor sie eine Moschee betreten.
Die spanischen Juden, die inmitten einer christlichen Gemeinschaft lebten, in der es nicht üblich war, die Schuhe vor Betreten einer Kirche auszuziehen, haben in Algerien eine Synagoge nach ihren eigenen Traditionen errichtet. Als die dort lebenden Moslems, mit denen sie in Kontakt traten, gewahr wurden, daß die Juden ihre Synagoge betraten, ohne ihre Schuhe auszuziehen, ließen sie die Juden ihre Mißachtung spüren. Daraufhin wurde eine Initiative gegründet mit dem Ziel, sich darauf zu verständigen, daß fortan niemand die Synagoge mit Schuhen betreten darf. Es gab jedoch einige Gelehrte, die unter Berufung auf den Standpunkt von Maimonides widersprachen, der, obgleich vertraut mit moslemischen Praktiken, vor- schrieb, daß die Synagoge mit Schuhen betreten werden darf. Diese Meinungsverschiedenheit innerhalb der Gemeinde war Anlaß, das Urteil des Rabbiners einzuholen, der selbst in Spanien aufgewachsen war.
In einer ausführlichen und wohlbegründeten Antwort vertrat er die Meinung, daß Achtung nicht etwas Absolutes ist, sondern von sozialen Normen abhängt. Er wählte verschiedene Ansätze, um aufzuzeigen, wie je nach kulturellem Umfeld ehrwürdigen Personen oder heiligen Stätten Achtung entgegenzubringen ist. Ferner analysierte er den Unterschied zwischen dem, was in der christlichen Kultur oder in Europa im Gegensatz zur moslemischen Welt als achtbar gilt.
Hier einige repräsentative Passagen aus seiner Antwort: "Es ist wohlbekannt, daß eine Synagoge geehrt, gepriesen und geachtet werden sollte und daß alle Anzeichen der Mißachtung von ihr fern gehalten werden müssen. Achtung jedoch ist alles, was die Menschen als solche erachten ... wahre Achtung oder Mißachtung finden ihre Entsprechung in dem, was Menschen denken, und in den örtlichen Sitten und Gebräuchen. In den christlichen Ländern zum Beispiel, wo es kein Zeichen der Mißachtung ist, die Schuhe anzulassen oder sogar in Schuhen vor den Monarchen zu treten, ist es keinesfalls als Mißachtung zu verstehen, wenn eine Person eine Synagoge in ihren Städten mit Schuhen betritt. Aber in jenen Ländern, wo es als Zeichen der Mißachtung gilt, in Schuhen vor kirchliche oder weltliche Würdenträger, nicht zuletzt vor den König, zu treten, darf man eine Synagoge in ihren Städten nicht mit Schuhen betreten. Was aber vor einem König aus Fleisch und Blut verboten ist, darf man erst recht nicht vor dem König der Könige, dem Ewigen, gesegnet sei Er, tun."
Der Rabbiner kommt zu dem Schluß: "Daher ist es ein gutes Werk, das sie tun wollen, wenn sie verhindern möchten, daß das Volk, das verächtlich auf uns blickt, uns weiterhin mit Mißachtung straft." Mit anderen Worten: Er ermutigt die Gemeinde, sich vor Betreten der Synagoge der Schuhe zu entledigen. Bestimmte religiöse Praktiken sind eben vom jeweiligen kulturellen Umfeld abhängig.
So blieb in Marokko ein Dekret bis 1912 in Kraft, das die marokkanischen Juden insbesondere in Städten des Landesinneren zwang, ihre Schuhe auszuziehen, wenn sie das jüdische Viertel verließen und in den muslimischen Teil gingen. Die Juden haben sich mit dem Dekret abgefunden, auch wenn es ihnen in kalten Wintern und heißen Sommern Unannehmlichkeiten bereitete. Die jüdischen Organisationen in Europa haben zwar politischen Druck auf die Sultane zur Abschaffung dieser Verfügung ausgeübt, jedoch ohne Erfolg. Ein moslemischer Minister (Wesir) erklärte einem britischen Diplomaten dazu, daß das Ausziehen der Schuhe ein Zeichen von Achtung sei, ähnlich dem Abnehmen des Hutes in Europa. Und er betonte, daß die Abschaffung dieses Dekrets moslemischen Extremisten Vorschub leisten und dazu führen könnte, daß der Regierung vorgeworfen wird, sie beuge sich ausländischen Vorschriften und verletze den Stolz der Moslems.

Der Autor unterrichtet an der Bar-Ilan-Universität in Ramat-Gan/Israel. Abdruck mit freundlicher Genehmigung der Fakultät für Jüdische Studien, www.biu.ac.il

Jüdische Allgemeine, 15. 01. 2004

Belesene Füße
Georg


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