Mitten in Australien liegt Europa - Hobby? Barfuß! auf Parsimony

Schrieb Lotsi vor kurzem:

Vergleicht man das Barfußverhalten in Deutschland (Anzahl, Akzeptanz etc) mit dem in unseren europäischen Nachbarländern, dann muss man doch fast sagen: Deutschland ist sozusagen das Australien Europas! (und Österreich ist das Neuseeland Europas). Oder? Aber das ist schon wieder eine andere Diskussion.<<

Genau, eine andere Diskussion!
Also, liebe Lotsi, er brachte mich zum Lachen, dass gerade in einem Schreiben, in dem du dich an "die deutsche Neigung zur Kategorisierung" erinnerst, kurz danach Deutschland und Österreich in eine Kategorie setzest, und (mit einem gewissen ebenso "typisch deutschen" Klassenbesten-Komplex) sie auf das europäische Siegerpodest stellst! - und gleich erweckend den polemischen Geist eines nicht deutschen Europäers wie ich, der damit wieder dazu getrieben ist, sich an dieser Ecke zu melden und euch alle (Bekannten oder nicht) herzlich begrüßt!
Ich habe das Glück gehabt, eine Zeitlang in Australien zu verbringen und es ist eine Tatsache, dass dort das Barfußlaufen ziemlich verbreitet ist, und dass viele Kinder regelmäßig barfuß in die Schule gehen. Jedoch sollte Australien auch nicht zu diesem mythischen Wünschland werden, denn z.B. auch in Südafrika gehen viele Kinder ohne Schuhe zur Schule und auch auf mittelmeerischen Inseln verleben sehr viele Menschen (Einwohner) ihren Sommer fast gänzlich barfuß.
Vor ein paar Abenden hat "3sat" einen wunderschönen Film gebracht: "La terra trema" ("Die Erde bebt") von 1948, ein Meisterwerk des italienischen Neorealismus von Luchino Visconti, den ich zum ersten Mal gesehen habe! Es war die Geschichte von ausgebeuteten Fischermännern, die sich gegen die Fischhändler, für die sie arbeiteten, erheben; er spielt sich in einem Schwarzweiß-Sizilien, wo buchstäblich alle Frauen und alle Kinder immer nur barfuß erschienen: zu Hause, auf der Straße, in Geschäften, durch die Pfade vom Dorf zum Meer; die Männer trugen Stiefel, wenn sie auf die Schiffe zum Fischen gingen; wenn sie nach Hause zurückkehrten, liefen sie meist ebenso mit nackten Füßen. Als Norditaliener ist Sizilien für mich so gut wie ein fremdes Land, aber ich nehme an, dass es heutzutage überhaupt nicht mehr so ist (im Film hatten Frauen auch noch die lokale Tracht an); jedoch kann ich mich kaum an andere Orte erinnern, in der ich so viele Barfüßigen gesehen habe wie auf den Inseln von Süditalien, Griechenland und Kroatien, und ich beziehe mich natürlich nicht auf diejenigen, die barfuß am Strand oder in derem Nähe sind, sondern auf das tatsächliche Dorfsleben. Ich konnte auch etliche nackte Füße auf britischen Straßen und ebenso viele im schönen sommerlichen Schweden erblicken.
Was Akzeptanz betrifft [aber ist "Akzeptanz" wirklich ein deutsches Wort? Ich finde es nicht auf meinem Wörterbuch!!] kann ich mir kaum andere Orte vorstellen, wo der menschliche Respekt so hoch ist wie in Italien. Also, Australien ist ein sehr großer Kontinent und er erstreckt sich gerne über ganz Europa!

einen schönen Gruß an Lotsi
und allen anderen,
Federico

Lieber Federico!

Da hast Du mich jetzt echt nahezu in die Ecke argumentiert! Du hast ja völlig recht. Ich ahnte schon, dass meine Einlassungen über Kategorien nur wieder zu neuen Kategorien führen, und dass meine Distanzierung vom typisch Deutschen viele der Verhaltensmuster an den Tag bringt, die ich als irgendwie doch auch typisch Deutsche (ich will es ja gar nicht leugnen) eben so verinnerlicht habe.
Ich muss zugeben: Aussagen über kollektives Verhalten gehen immer schief, so sehr man auch herumdifferenziert.
Das betrifft auch meine Einschätzungen über Australien (wo ich noch nie war) und Europa. Das war natürlich durchaus augenzwinkernd gemeint. Ich wollte halt sagen, dass in meiner ganz subjektiven und eingeschränkten Perspektive Deutschland und Österreich (teilweise auch die Schweiz) Länder sind, in denen ich mehr Barfüßer beobachtet habe als etwa in England, Italien (geht gegen null) oder Spanien (ebenso).
Natürlich kann man jetzt einwenden: In D. lebe ich ja, sehe also ganz selbstverständlich mehr Barfüßer. Woanders bin ich stets nur wochenweise zu Besuch. Aber die Anzahl, wie viele Gleichgesinnte mir an einem schönen Sommertag begegnen, kann auch schon aussagekräftig sein. Und in Ländern, wo ich viele Gleichgesinnte treffe, laufe ich auch viel lieber barfuß. In Italien etwa komme ich mir meist etwas verloren vor - es passt ja auch nicht so recht. Viele Italiener mögen in Schrottkisten rumfahren (sehr sympathisch!), aber sie sind doch fast immer top angezogen! DAS ist ihnen wirklich wichtig, oder?
Andererseits: Wirklich negative Kommentare habe ich auch in Italien noch nie erlebt. Es sind einfach freundliche Menschen dort.
Ab sofort lasse ich es, irgendwelche Vergleiche zwischen Ländern und dortigem kollektiven Verhalten auf nackten Füßen und gegenüber nackten Füßen anzustellen. Was soll es auch? Das wunderbare Barfußgefühl ist eben grenzenlos (schlimme Phrase, ich weiß, aber mir fällt gerade nichts Besseres ein....)
Erzähl doch noch ein bisschen von Italien oder weiteren Deiner Erfahrungen, Federico! Ich lasse mich da wirklich gerne von anderen Ansichten und Eindrücken überzeugen!

jetzt muss ich dringend zum Zug. Bis Sonntag. Die Schuhe habe ich schon an. Vermutlich war das der erste Beitrag hier, den ich mit Schuhen an den Füßen geschrieben habe.
Aber das wird wieder anders!

Liebe Grüße
Lotsi

Hallo Lotsi!
Mein Anliegen war nur es, einen Denkanstoß über begrenzte Kategorisierungen anzubieten, und meine Perspektive - von Italiener, von Reisenden und von Barfußläufer - auszudrücken. Die menschliche Denkweise besteht auch in Kategorisierungen; die helfen uns, die Realität zu betrachten und uns an sie zu erinnern; sind deshalb nicht zu dämonisieren. Doch gerade wenn man sie in Frage stellt, beginnt vielleicht eine wahre Kenntnis!

Erzähl doch noch ein bisschen von Italien
oder weiteren Deiner Erfahrungen, Federico!

Wenn ich hier schreibe, beziehe ich mich wohl oder über fast immer an Italien und oft fürchte ich, dass ich damit lästig sein könnte. Jedenfalls erzähle ich gern meine Erfahrungen, wenn sie nennenswert sind; jedoch bin ich des öfteren auch nicht so fleißig und finde kaum Zeit und Stimmung, um ans Schreiben zu kommen, obwohl ich was zu erzählen hätte... *meine Schuld!*

Viele Italiener mögen in Schrottkisten rumfahren
(sehr sympathisch!), aber sie sind doch fast immer
top angezogen! DAS ist ihnen wirklich wichtig, oder?

Als (noch studierender) Geisteswissenschaftler bräuchte ich eine ganze Dissertation schreiben, um deine Frage zu beantworten...
Als Federico vielleicht: Ja, die Mode spielt in Italien schon eine sehr große Rolle und es ist schwer zu bestimmen, wieviel davon mit den italienischen Traditionen zusammenhängt oder bloß von der modernen Konsumgesellschaft gefüttert wird. Sicher ist, dass es für meine Großeltern eine Selbstverständlichkeit war, barfuß durch das Dorf zu gehen. Inzwischen gaben es zwei Weltkriege und es gab vor allem (vorwiegend in Norditalien) den "miracolo economico", den Wirtschaftswunder, nachdem Italien in sehr kurzer Zeit zur fünften Macht der Welt wurde. In Venetien bis vor einem halben Jahrhundert starb man an der Pellagra, Mangel an Vitaminen, denn die Polenta war das einzige vorhandene Nährungsmittel; heute ist Venetien eines der meist industrialisierten und reichen Gebieten Europas. Schrottkisten sind dort kaum zu sehen (eher in Süditalien), sondern es wird mit den größten Fahrzeugen geprunkt. Schuhe sind ein weiteres Zeichen von Reichtum, und von sogenannter Modernität: was ich bin ist, was ich habe, was ich besitze, die Schichte, die ich erreicht habe. "DAS ist ihnen wichtig" (ich meine es natülich nur auf dem Niveau des Kollektivbewusstseins; nicht der normalen Gedanken, so ignorant sind wir nicht!). Tja (eine Dissertation war es doch fast... sorry!), das war meine Deutung. Es sind andere möglich...

Negative Kommentare habe ich auch in Italien noch nie erlebt

Und ich hab was mehr als du: ich habe positive Kommentare erlebt!!! :-) ) Letzten Sommer habe ich auch den Eindruck gehabt (und hier bereits davon erzählt!), dass der Anzahl an Barfußigen gestiegen wäre - vielleicht auch nur dadurch, dass Flip-Flops große Mode geworden sind (apropos Mode!) und komplett barfuß zu laufen wenig Unterschied machte (optisch... vom "grenzenlosen" Gefühl her ist der Untercshied ungeheuer!!).

Das nächste Mal erzähle ich bestimmtere Ereignisse...

einen schönen Gruß!
Fede

RSS-Feed dieser Diskussion