Aschenputtel - oder die Rache der Turnschue! (Hobby? Barfuß! 2)

Michael aus Zofingen @, Monday, 20.10.2003, 14:42 (vor 7651 Tagen)

Ruguruguh, ruguruguh, Blut ist im Schuh! Wenn diese Worte eine Taube vom Dach gurrt, dann liegt es daran, daß nicht Aschenputtel, sondern die falsche Braut in den Hochzeitsschuhen steckt. So jedenfalls wird in einem Märchen erzählt. Es spielte zu einer Zeit, als es von Königen und Prinzen nur so wimmelte! Ich bin jedoch einmal aus dem Märchenalter raus, und zum anderen lebe ich in der Schweiz, einem Land, in dem man seit Wilhelm Tell mit Fürsten und Grafen nicht mehr allzu viel am Hut hat. Also muß die Erklärung heutigentags wohl eine andere sein, zum Beispiel diese:

Letzten Samstag (18.10.2003) hatte ich mir vorgenommen, im Jura eine Wanderung zu unternehmen, in der Hoffnung, dem "ewigen Nebel" des Schweizer Mittellandes zu entrinnen. Als Ausgangspunkt der Wanderung hielt ich den Hauensteinpaß für geeignet. Dieser Paß ist kein hoher Alpenpaß, sondern nur ca. 680 m hoch. Auch sind die Steigungen nicht gerade eine Herausforderung für Radfahrer, die gerne steile Wege benutzen (ich gehöre nicht zu diesen Fahrern), aber trotzdem hat der Paß es in sich: Nicht selten ist das Wetter auf Baselbieter Seite völlig anders als auf "meiner" Seite, der Nebel ist dort seltener. Auch diesmal wollte ich mit dem Velo dorthin fahren. Morgens um 7.30 Uhr herrschte in Zofingen tatsächlich Nebel und es war mit -1°C auch nicht gerade sommerlich. Also vermummte ich mich auch recht winterlich mit Windjacke und Turnschuhen (ohne Socken). Diese Turnschuhe standen seit Juli unbenutzt auf dem Balkon und hatten genügend Zeit, sich von mir zu erholen. Ob sie sich wohl gefreut haben zum allmorgendlichen Gesang der Vögel? Ob die Treter die schöne Aussicht genossen haben, zum Blick auf den Rasen, den Milchmann, den Schornsteinfeger? Nun aber war die Schonzeit der Turnschuhe vorbei, ich sah es wirklich nicht ein, daß ich ihretwegen barfuß in den Jura radle und dort entsprechend rumsäckle. Einziger Anhaltspunkt, daß noch nicht der allertiefste Winter eingebrochen war, war die Tatsache, daß ich Handschuhe, Mütze und lange Hosen zu Hause ließ. Ich kam auch recht gut voran. In Olten bemerkte ich, daß eine "Bullenschleuder" langsam hinter mir herfuhr, ohne mich zu überholen. Als ich mich später umsah, war keine Polizei mehr in Sicht. Vermutlich wurden die Polizisten nur langsamer, weil sie rechts abbiegen wollte ohne mich zu behindern. Wie rücksichtsvoll! Oben kettete ich das Velo an einen Baum und wanderte los. Auf einem Weg kam mir ein Arbeitskollege auf dem Fahrrad entgegen, der nicht selten als "Dr. Chaos" bezeichnet wird. Seine Worte waren: "Michael, ich bin enttäuscht! Es ist erst Oktober, und du trägst bereits eine Jacke. Ich dachte immer, dein Ziel wäre, dich bis zur Pensionierung darauf vorzubereiten, daß du auch im tiefsten Winter keinerlei Kleidung mehr benötigst." Schon war er vorbei. Ich erreichte die Belchenflue, von hier konnte ich erstmals die Sonne als milchige Scheibe durch den Nebel erkennen. Kurze Zeit später befand sich der steinige und alles andere als für Gelegenheitsbarfüßer wie mich ideale Wanderweg außerhalb des Nebels. Der Wanderweg ging später in einen Gratweg über, es wehte ein kalter Wind, trotz Sonne. Aber Jacke und Turnschuhe schützten mich davor, an den Beinen empfand ich den Wind nicht als unangenehm. Dann erreichte ich die Burgruine bei Waldenburg, von wo ich eine schöne Aussicht auf das Waldenburger Tal hatte. Mittlerweile war die Temperatur so, daß ich die Jacke im Rucksack verstauen konnte. Ich schritt hinunter ins historische Städtchen und wanderte in südliche Richtung, immer entlang des Flüßchens Frenke (Eisenbahnfans, die Waldenburg kennen, ahnen bestimmt, worüber ich nun berichten werde). Parallel zur Straße (und zur Frenke) verläuft auch die Kleinbahn Liestal-Waldenburg, diese Bahn "lebt auf schmalem Fuß", nur 75 cm sind die Gleise breit. Im Regelfall verkehren dort rote, straßenbahnähnliche Triebwagen, aber an diesem Tag wurde vor dem Waldenburger Lokschuppen auch eine historische Dampflok angeheizt. In Niederdorf überholte mich ein Triebwagen, etliche Fahrgäste starrten fassungslos durchs Fenster. Es war Mittagszeit, ich hatte Hunger und setzte mich auf eine Bank am Ufer der fröhlich vor sich hin glucksenden Frenke. Auch schmerzten meine Füße vom Wandern. Da bemerkte ich, daß die ursprünglich "pfenningerweißen" Stoff-Turnschuhe im Bereich der kleinen Zehen rot verfärbt waren. Ich zog die Schuhe aus und bemerkte die blutenden Wunden. Die Haut war regelrecht abgescheuert. Früher hatte ich so etwas nie in diesem Ausmaß, nicht einmal bei wesentlich längeren Wanderungen und bei deutlich höheren Temperaturen. Waren meine Füße breiter geworden, seitdem ich öfter barfuß mit dem Rad unterwegs war. Oder wollten sich die Schuhe "nur" an mir rächen, weil ich sie vernachlässigt habe und es ihnen verwehrt war, am Weltgeschehen teilzunehmen und sie statt dessen nur den Rasen, den Milchmann und den Schornsteinfeger "anglotzen" durften? Diese Gedanken kamen mir auf der Wanderung aber noch nicht, meine Gedanken waren: Wie weiter? So entschloß ich mich, den asphaltierten Weg ohne Schuhe weiterzugehen, bis ich zu einem Ort komme, wo die Schmerzen durch barfüßiges Gehen stärker wurden wie die Schmerzen der Wunden durch scheuernde Schuhe.

Als erstes holte ich einen Vater ein, der sein Kind auf den Händen trug. Da das Kind nach hinten blickte, sah es mich eher als der Vater. Es rief: "Papi, ich will barfuß laufen!" Darauf der Vater: "Spinnst du?" "Aber der Mann läuft auch barfuß!" "Wohl kaum," wobei sich der Vater umdrehte und bemerkte, daß der Junge sich nicht getäuscht hatte. Im Dorf Hölstein, wo ich das Tal der Frenke verließ, sahen mich einige ältere Leute erstaunt an. Der asphaltierte Weg stieg langsam an, schließlich hörte der Asphalt auf, aber in der Mitte wuchs Gras, so daß ich auch hier noch gut voran kam. Im nächsten Waldstück wich ich einen aufgelassen Forstweg aus, um nicht über Schotter gehen zu müssen. Dann folgte wieder Asphalt. Etwa 200 m, bevor ich an eine Hauptverkehrsstraße kam, bemerkte ich, daß ein Auto erst an der Einmündung vorbeifuhr, dann aber rückwärts hineinfuhr und anhielt. Als ich den Wagen erreichte, stieg der Fahrer aus und sprach: "Sie sind nicht der erste, der bei tiefen Temperaturen leicht bekleidet herumläuft. In Waldenburg gibt es einen Jungen, der auch bei -10°C im T-Shirt zur Schule radelt. Trotzdem frage ich sie: Ist es nicht zu kalt?" Als ich ihm erzählte, was ich an diesem Tage unternommen hatte und wohin ich noch wollte, konnte er es kaum glauben. Parallel zur Hauptstraße war es angenehm zu gehen, da hier das Gras frisch gemäht war. Daß meine Füße dadurch sauber wurden, soll nur am Rande vermerkt werden. Mein Weg führte weiter über Diegten und Känerkinden hinunter nach Buckten. Ich überquerte zunächst die Hauensteinstraße und dann beim Bahnhof die eingleisige "alte Hauensteinstrecke". Kurze Zeit später passiert ein Schnellzug Richtung Sissach den Bahnhof. Schnellzug? Ja, infolge Bauarbeiten an der Aarebrücke bei Olten mußten die Schnellzüge nach Basel umgeleitet werden. Ich schritt weiter zur Ruine Homburg. Auf dem Weg dorthin kam mir eine Gruppe schnatternder Kinder, begleitet von zwei Erwachsenen, entgegen. Als sie mich sahen, wurden sie plötzlich still. Später brachen sie in schallendes Gelächter aus. Ein Beweis dafür, daß deren Eltern keine Dauerbarfüßer sind. In der Ruine selbst lagen einige Scherben, aber die Treppe war gut barfuß begehbar. Zwei Erwachsene, die auf den Turm stiegen, während ich oben war, blickten etwas erstaunt. Auch bis Bad Ramsach war der Weg noch brauchbar. In Bad Ramsach selbst hatte ich ein etwas mulmigeres Gefühl als auf der Strecke davor, denn hier trifft man auch viele Leute, die sich aufgrund ihres dicken Geldbeutels für was besseres halten. Da das Hotel- und Gaststättengewerbe sicher Interesse hat, diese Bevölkerungsschicht auch als Gäste zu behalten, traue ich den dicken Wirten bzl. arroganten Kellnern alle möglichen fiesen Tricks zu, um "arme Schlucker", die die Kundschaft vergraulen könnten, aus ihrem Gesichtskreis zu eliminieren, etwa die Polizei rufen. Aber nichts dergleichen geschah. Mühsamer wurde der Weg zum Wisenberg, hier kam ich nur langsam voran, es war mittlerweile 16 Uhr. Auf dem Wisenberg steht ein Aussichtsturm, den ich als nächstes besteigen wollte. Der untere Teil der Treppe besteht aus Beton, die Wendeltreppe dagegen ist aus Metall, ebenso die Plattform. Da aber auch noch ein starker Wind oben wehte, war ich genau so schnell wieder unten (ich war übrigens der einzige auf dem Turm). Von nun ab wurde der Weg steiniger, so daß ich wieder die Turnschuhe anzog. Ich wanderte noch weiter durch das Dorf Wisen zur Ruine Froburg, wo ich eine Pause zum Essen machte. Hier wehte zwar kein Wind, aber die Sonne verkroch sich hinter einem Schleier. Auch lag noch Nebel im Mittelland. Ich wanderte noch zurück zum abgestellten Velo, während es bereits dämmerte. Nun mußte ich "nur" noch den Hauensteinpaß hinunter nach Olten und von dort weiter nach Zofingen radeln. Zwar hatte ich die Jacke auf dem Rad wieder angezogen, aber die Hände wurden derart kalt, daß ich fast Handschuhe während der Abfahrt benötigt hätte. Zu Hause angekommen bemerkte ich, daß es dort nur noch 3°C warm war. Auch schien dort den ganzen Tag über Nebel gelegen haben. Wie gut, daß ich im sonnigeren Jura gewesen war. In Sachen blutiger Füße kann ich eindeutig "den Schuhen die Schuld in die Schuhe schieben". Während des barfüßigen Wanderns habe ich mir dagegen keinerlei Verletzungen oder Erkältungen geholt. Fast wie im Märchen!

Mit freundlichen Grüßen

Michael aus Zofingen

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