Eine historisch angehauchte Radtour in die Zentralschweiz (Hobby? Barfuß! 2)

Michael aus Zofingen @, Tuesday, 23.09.2003, 14:40 (vor 7677 Tagen)

Am vergangenen Wochenende fand ein Jubiläum zweier Mitarbeiter statt, einer davon ist mein direkter Vorgesetzter, wozu die gesamte Abteilung eingeladen war. Dieses Jubiläum sollte in der Vermigelhütte oberhalb Andermatt (ca. 250 m ü. NN) gefeiert werden. Von den 27 Anwesenden kombinierten fast alle das Jubiläum mit einer Bergwanderung, nur 3 Mitarbeiter reisten mit dem Fahrrad an. Die 2 anderen Radfahrer transportierten ihre Räder jedoch einen Teil der Strecke mit dem Auto oder mit dem Zug, um nur die eigentliche Bergstrecke zu radeln, mit Mountainbike, Helm usw. ausgerüstet. Ich dagegen wollte die gesamte Strecke radeln, dafür aber insgesamt 3,5 Tage statt 2 unterwegs sein.

Am Freitag, den 19. 9. 2003 endete die Arbeit für mich am Mittag. Was spricht dagegen, an diesem herrlichen Nachmittag (ca. 23°C) in sehr sommerlicher Kleidung und ohne Schuhe loszuradeln. Eigentlich nichts! Selbstverständlich hatte ich auch wärmere Kleidung (keine lange Hose) dabei und 2 Paar Schuhe (Flipflops und Turnschuhe), wobei sich letztere sowie die Jacke im Nachhinein als unnötiger Ballast erwiesen haben. Vor Sursee geriet ich in eine Kontrolle! Aber es war nicht etwa die Polizei, sondern Militär. Diese kontrollierten jeden Radfahrer (keine Autos), der die Brücke über die Autobahn passierten. Als ich die Frage des Postens, wohin ich wollte mit "Erst mal nach Luzern" beantwortete, meinte er: "Das ist aber ein langer Weg." Hat der ne Ahnung! Das Militär übte für den Ernstfall und sollte wohl Kettenfahrzeuge kontrollieren. Da aber Panzer im Frieden nicht über Straßen rollen, mußten andere Fahrzeuge mit Kette dafür herhalten. Irgendwie drollig, die Schweizer Armee! Sie ist mir sympathischer als die deutsche Bundeswehr, für die ich noch Dienst tat, ganz zu schweigen von Israel, Irak usw. Extremer konnte der Kontrast zwischen mir und dem Soldaten nicht sein: Er in Uniform, mit Stahlhelm, Gewehr; ich barfuß in der Turnhose und völlig unbewaffnet. Zu meiner Kleidung hat der Soldat nichts gesagt, gehörte wohl nicht zu seinem Aufgabenbereich.

Auf meiner Fahrt weiter fiel mir doch auf, daß der Sommer zurückgekommen war, Radfahrer in sommerlicher Kleidung, Kinder in kurzen Hosen und ohne Socken. Ich radelte am Sempacher See entlang, gegenüber lag das historische Städtchen Sempach, wo sich in einer Schlacht der Eidgenossen gegen die Österreicher Arnold von Winkelried geopfert hat, was zum Sieg der Eidgenossen geführt hatte ("der Freiheit eine Gasse"). Während dieser Schlacht fiel auch der Zofinger Schultheiß Nikolaus Thut, er soll noch das Banner der Stadt verschlungen haben, bevor er starb. Thut wird noch heute als Held der Stadt Zofingen gefeiert, ein Platz mit Brunnen wurde nach ihm benannt. Allzu gerne "vergessen" die Zofinger zu sagen, daß Thut nicht auf Seiten der Eidgenossen, sondern der Österreicher gekämpft hatte. In Reußbühl spielten Kinder auf einem Spielplatz direkt am Reußufer, alle mit Schuhen. Nur der Vater lief barfuß und in Jeans.

In Luzern schob ich das Velo über das angenehm kühle Pflaster der Fußgängerzone. Einheimische beachteten meine Barfüßigkeit nicht, wohl aber die vielen Japaner. Auch am Rathausplatz, wo ich das Velo über eine Treppe zum Reußufer heruntertragen mußte, habe ich offensichtlich einige Fotografen verärgert. Vor dem Rathaus stand nämlich ein frisch vermähltes Brautpaar, umgeben von festlich gekleideten Personen. Wer hat schon gerne ein Brautpaar und einen nur leicht bekleideten Radfahrer gemeinsam auf einem Foto. Ich schob mein Velo bis hin zum Verkehrshaus, immer am Seeufer entlang. Auf den Bänken saßen Leute, die teilweise ihre Schuhe von den Füßen abgestreift hatten, meist Frauen. Auf dem Rasen saßen auch Leute in Badekleidung. Als ich am Freibad (Lido) vorbeikam, kam mir eine barfüßiger Mann auf dem Fahrrad entgegen, er wollte zum Baden.

Meine Reise ging weiter nach Küßnacht, jedoch nicht durch die "Hohle Gasse", denn heute führen anders als zur Zeit des Rütli-Schwurs mehr als nur ein Weg dorthin. In Vitznau, der Talstation der Zahnradbahn auf den Rigi, überquerte gerade ein 4 jähriger Knabe barfuß und nur mit überlanger Latzhose bekleidet die Straße. Die Mutter schritt mit Wollpullover, aufgekrempelten Jeans und Sandalen ohne Strümpfe nebenher. In Brunnen lästerten ein paar Motorradfahrer über meine Kleidung. Auf meiner Weiterfahrt nach Flüelen blieb mir nichts anderes übrig als die vielbefahrene Axenstraße zu benutzen. Dort gab es einen Stau, so daß ich mit dem Velo ein Auto nach dem anderen überholen konnte. Einige Beifahrer blickten durchs Fenster auf meine Füße. Welcher beschuhte Autofahrer möchte schon gern von einem barfüßigen Radfahrer überholt werden? Als die Sonne hinter den Bergen verschwand, mußte ich ein T-Shirt überziehen, aber keine Schuhe. Ich radelte noch nach Altdorf, dem Kantonshauptort von Uri. Auch dort, direkt vor einem alten Turm, begegnete ich einem barfüßigen Knaben namens Walter. Sein Vater Wilhelm trug zwar Schuhe, aber immerhin kurze Hosen. Jahraus, jahrein trotzten sie in dieser Kleidung Sonne, Regen, Schnee - und Taubenkot. Nun ja, es waren keine Menschen von Fleisch und Blut, sondern Bronzefiguren. Irgendwie gefällt mir die Person des Wilhelm Tell: Er war kein "Vereinsmeier" (indem er nicht am Rütlischwur teilgenommen hat), aber trotzdem hat er den Eidgenossen geholfen, indem er den bösen Landvogt Geßler mit der Armbrust erschossen hat. Tell war ein Mann der Tat, nicht der Worte! Für mich ist er eine Art Vorbild, auch wenn ich kein Waffenfreund bin. Unter dem Denkmal machte ich eine Pause, während der Verkehr durch das Städtchen rollte. 3 weibliche Teenager kicherten über meine Kleidung, obwohl sie selber auch nicht "normal" gekleidet waren: enge schwarze Hosen, sehr kurze Lederjacken, so daß ein etwa 15 cm breiter Streifen schneeweißer Haut hervorschaute und hochhackige Sandalen mit dünnen Riemchen, die ihre schneeweißen Füße voll zur Geltung brachten - und mit denen sie etwas Mühe hatten, über das Straßenpflaster zu trippeln. Ich beließ es beim Schmunzeln, anstatt ihnen zu sagen, daß man ohne oder mit soliden Schuhen viel besser vorankomme, wie Tell und Sohn. Aber mit 47 bin ich wohl doch etwas zu alt dafür, man könnte mich für einen "Oberlehrer" halten. Am Reußdelta fand ich einen angenehmen Schlafplatz.

Am nächsten Morgen radelte ich gegen 7.30 Uhr los. Obwohl die Sonne aufgegangen war, blieben ihre Strahlen noch lange Zeit von den Bergen verdeckt. Hinter Amsteg wurde die Straße deutlich steiler, ich wurde von beschuhten Radfahrern auf Rennvelos überholt. In Wassen (bei Bahnreisenden bekannt durch die Kirche, die man infolge der Kehrschleifen dreimal in verschiedener Höhe passiert) machten sie gerade eine Pause, vermutlich wollten sie weiter über den Susten. In Göschenen, wo Eisenbahn und Autobahn im Tunnel verschwinden, machte ich noch 10 Minuten Pause. Keiner beachtete meine Barfüssigkeit. Zwei Radfahrer, die 5 Minuten vor mir abfuhren, überholte ich auf der nun folgenden Steilstrecke mit Spitzkehren. Andererseits wurde ich von einem Arbeitskollegen im Auto überholt. Beim Russendenkmal hielt ich erneut an, ich war ziemlich erschöpft. Die Straße war noch kalt und ich wagte mich auch über spitzen Kies direkt zum Denkmal, aber auch das störte keinen. Eine Familie wollte ihr Auto verlassen, die Kinder waren barfuß mitgefahren. Während der älter Sohn (bereitwillig?) Socken und Turnschuhe anzog, ließ sich der jüngere einfach vom Vater tragen. So kam er ums Schuhe anziehen herum! Über Andermatt (hier schien die Sonne) radelte ich noch nach Hospental, wo ich nach einer Fahrt durch den Ort (ich berichtete kurz mit der Überschrift: "Strumpfhose ohne Schuhe") am Ufer der Reuß die Zeit überbrückte, um nicht zu früh am Ziel zu sein.

Die letzte Etappe von Andermatt zur Hütte hatte es in sich. Zuerst noch rauher Asphalt, dann Naturstraße, die für den regulären Autoverkehr gesperrt ist. Jedoch kamen mir etliche Mountainbikefahrer entgegen und Wanderer, meist sommerlich gekleidet, aber fast alle mit Wanderschuhen und Socken. Ziemlich schnell mußte ich in den kleinsten Gang schalten, bis auch dieses nicht mehr reichte. Da bleib nur noch der "Reservegang": Flipflops anziehen und weiter. So kam ich mit meinem Treckingbike und viel Gepäck doch oben an. Ein Kollege fragte mich, ob ich mit den Schlarpen gefahren bin, worauf ich, ohne zu lügen sagte: "Andere Schuhe habe ich beim Fahren nicht angehabt!" Der Kollege, der mich überholt hatte, hatte meine Barfüßigkeit auf der kurvenreichen Strecke nicht registriert.

Am Sonntag, den 21.9.2003 radelte ich zurück, erst einmal die Naturstraße, wegen allfälliger "Notbremsungen" noch mit Schuhen. Erst als der Asphalt kam, zog ich die Schuhe aus. Kurz vor Göschenen erlebte ich aber einen Schreck: Vor einer Haarnadelkurve riß das hintere Bremsseil, ich konnte aber noch anhalten. Reparieren war zwecklos. Mein Entschluß, mich für den Rest der Strecke auf die Vorderbremse zu verlassen, war sicher bodenloser Leichtsinn. Noch dazu ohne Helm und ohne Schuhe. Aber es ging unfallfrei weiter. Da ich erst am Dienstag wieder arbeiten mußte, beschloß ich, erneut am Reußdelta Station zu machen. Zuerst einmal badete ich im See, und nicht nur ich. Einigen Kindern machte es auch sichtlich Spaß, barfuß über eine "Brücke", die nur aus einigen Seilen bestand auf eine kleine Insel zu hangeln. Dann "entdeckte" ich einen Kneipp-Pfad und einen Barfußpfad bei Flüelen, wo 3 verschiedene Sorten Kies zum Testen ausgelegt waren. Dieser Kies war jedoch angenehmer als natürlich verkommender Kies.

Am Montag, den 22.9.2003 radelte ich weiter, zunächst über die Axenstraße, die diesmal wenig Verkehr hatte. In Küßnacht kam mir eine Gruppe Teenager entgegen, alle ziemlich "verschlossen" gekleidet. Nur ein Mädchen trug die Halbschuhe in der Hand und schritt barfuß durch das noch nasse Gras. Gegen 10.30 Uhr erreichte ich die Ausläufer von Luzern, wo ich in der Nähe vom Verkehrshaus einen idealen Platz zum Ausruhen und Baden fand. Zuerst war ich noch der einzige, später kamen weitere hinzu. Von Stunde zu Stunde wurde die Kleidung der Passanten leichter, eine Mutter schob barfuß einen Kinderwagen über die Uferpromenade. Als ich gegen 17.30 Uhr meinen Platz verließ, fiel ich kaum auf, als ich, nur mit Turnhose bekleidet, das Velo durch die Altstadt schob. Das Pflaster war angenehm warm unter den Füßen. Dann folgte letzte Strecke nach Zofingen, Wolken zogen am Himmel auf. In Sursee zog ich noch das T-Shirt über, weil der Wind stärker geworden war. Es war bereits dunkel, als ich meine Heimatstadt erreichte. Ein verlängerter sonniges Wochenende in der Zentralschweiz auf lag hinter mir. Eine Reise, vorbei an historischen Orten aus den Anfängen der Eidgenossenschaft. Und nur im Gebirge benötigte ich Schuhe, sonst nicht!

Aus der jetzt verregneten Schweiz grüßt

Michael aus Zofingen


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