Eine kleine Geschichte ... (Hobby? Barfuß! 2)

unci ⌂ @, Tuesday, 25.03.2003, 22:56 (vor 7858 Tagen)

Warum eigentlich nicht?

Am frühen Morgen kam ich in einer großen Stadt an. Es war kalt, und ein leichter Schnee lag um den Bahnhof. Etwas Befremdendes fiel mir sofort auf. Alle Leute am Bahnhof waren warm angezogen - schwere Mäntel und dicke Handschuhe - , aber Schuhe trugen sie nicht. Merkwürdig, dachte ich, erkundigte mich nach meinem Hotel und stieg in die Straßenbahn.

Da sah ich es wieder: Niemand trug Schuhe. Auch im Hotel der Portier und der Liftboy - beide barfuß! Nun wurde ich neugierig und fragte: "Warum trägt niemand in dieser Stadt Schuhe?"

"Ach ja", sagte der Hotelier, "warum eigentlich nicht? Das frage ich mich auch.""Glaubt ihr den nicht an Schuhe?" fragte ich.

"An Schuhe glauben!" antwortete er leicht verärgert. "Selbstverständlich glauben wir an Schuhe! Das ist der erste Artikel unsres Glaubensbekenntnisses. Ich glaube an Schuhe, heißt es. Und jedes Kind lernt es auswendig und weiß, dass Schuhe unentbehrlich sind! Ohne Schuhe kommt niemand aus; die Füße werden erfrieren, sie werden verletzt. Ohne Schuhe wäre das Leben unerträglich."

"Warum tragen sie dann aber keine Schuhe?" fragte ich ganz verirrt, "Ach", sagte er etwas wehmütig, "das ist es eben - warum eigentlich nicht?"

Später, beim Essen, lernte ich einen Mann kennen, der mir anbot, eine kleine Stadtführung zu machen, was ich dankbar annahm. Wir traten zusammen aus dem Hotel. Gegenüber lag ein rießengroßes Backsteingebäude. Er zeigte stolz darauf und sagte: "Das ist eines unsrer schönsten und berühmtesten Schuhhäuser."

"Ach", sagte ich, "werden da Schuhe gemacht?"

"Ja - das heißt eigentlich nein", sagte er etwas verlegen. "Der Leiter ist ein sehr begabter Schuhanpreiser. Jede Woche redet er über Schuhe und warum man sie tragen soll. Neulich soll er einen so ausgezeichneten Vortrag über Schuhe gehalten haben, dass die Leute zu Tränen gerührt waren. Es war ergreifend!"

Gerade in diesem Augenblick bogen wir in eine kleine Gasse ein, und ich sah im Keller einen alten Mann, der Schuhe machte. Ich entschuldigte mich einen Moment, lief in den Laden und fragte den Inhaber, wie es kommt, dass niemand Schuhe bei ihm kaufte. "Niemand hier möchte Schuhe tragen", sagte er. "Sie reden nur davon." Ich kaufte schnell etliche Paare und ging wieder hinaus zu meinem Begleiter.

"Hier", sagte ich, "haben sie Schuhe. Ziehen sie die gleich an! sie werden nie wieder ohne sie gehen wollen!"

Er schaute mich ziemlich entsetzt an. "Danke schön", sagte er, "Vielen Dank, aber sie verstehen uns nicht. Wissen sie: Das tut man hier eben nicht."

"Aber warum nicht?" schrie ich, "Warum um Himmels willen nicht?" "Ach", antwortete er mit dem gleichen verlegenen Lächeln wir vorher, "ach ja, warum? Das ist es eben - warum tun wir es nicht?"

Hugh Price Hughes

[image] Und da hab ich sie gefunden

Kunstvolle Umkehrung der Realität ;-)

Lorenz ⌂, Stammposter, Tuesday, 25.03.2003, 23:19 (vor 7858 Tagen) @ unci

[image] [image]

Genau das müsste man über das Barfußgehen schreiben -- fast jeder ist überzeugt, dass es gut ist, aber:

"Vielen Dank, aber sie verstehen uns nicht. Wissen sie: Das tut man hier eben nicht."
[quote]"Aber warum nicht?" schrie ich, "Warum um Himmels willen nicht?" "Ach", antwortete er mit dem gleichen verlegenen Lächeln wir vorher, "ach ja, warum? Das ist es eben - warum tun wir es nicht?"
[/quote]

[image] Gesundes Leben auf freiem Fuß

Eine kleine Geschichte ...

Robert Crahé @, Wednesday, 26.03.2003, 00:08 (vor 7858 Tagen) @ unci

Die Geschichte und vor allem ihr Stil erinnert an einen von mir sehr geschätzten Autor: Heimito von Doderer. Doderer schrieb nben seinen großen Romanen (Die Strudelhofstiege; Die Dämonen) zahlreiche Erzählungen. Eine hat den Titel "Trethofen". Hier kommt ein Vertreter in eine Kleinstadt, wo die Menschen etwas diametral anderes machen, als man gemeinhin erwartet. Doderer beschreibt ähnlich wie der Autor Deiner Geschichte. Hat leider überhaupt nichts mit Barfußlaufen zu tun, ist aber trotzdem sehr lesenswert. Leider nicht als Taschenbuch zu haben, sondern nur in gebundener Ausgabe "Erzählungen" vom Beck-Verlag. Dafür hat man gleich einen Stapel wunderschöner Erzählungen zur Hand.
Barfüßige Grüße aus dem Frankenland
Robert

Eine kleine Geschichte ...

Ralf RSK, Thursday, 27.03.2003, 01:51 (vor 7857 Tagen) @ unci

Hallo Unci,

das ist eine nette Geschichte. Spontan ist mit dazu in den Kopf gekommen, dass das Tragen von Schuhen hier vielleicht als Sinnbild für ein "christliches" Miteinander sein soll oder für das Streben nach Frieden ? Alle bejahen es, viele setzen sich dafür ein, aber die wenigsten leben danach ... Entsprechende Abbilder finden sich ja derzeit im Großen auf der weltpolitischen Bühne wie auch hier im Forum im Kleinen.

Viele Grüße, Ralf

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Vor der Schlacht tritt der Offizier an die Truppe heran und sagt feierlich: "Soldaten, jetzt geht es Mann gegen Mann!" -
Darauf Infanterist Rubin: "Zeigen Sie mir bitte meinen Mann! Vielleicht kann ich mich gütlich mit ihm verständigen."
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Eine kleine Geschichte ...

Hannes, Thursday, 27.03.2003, 16:18 (vor 7856 Tagen) @ unci

Mir gefällt diese Geschichte, erinnert mich ein wenig an die Barfuß/Schuh- Realität, das zu-viel-Vergleichen mit dem, was andere oder alle machen ...?

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Warum eigentlich nicht?
Am frühen Morgen kam ich in einer großen Stadt an. Es war kalt, und ein leichter Schnee lag um den Bahnhof. Etwas Befremdendes fiel mir sofort auf. Alle Leute am Bahnhof waren warm angezogen - schwere Mäntel und dicke Handschuhe - , aber Schuhe trugen sie nicht. Merkwürdig, dachte ich, erkundigte mich nach meinem Hotel und stieg in die Straßenbahn.
Da sah ich es wieder: Niemand trug Schuhe. Auch im Hotel der Portier und der Liftboy - beide barfuß! Nun wurde ich neugierig und fragte: "Warum trägt niemand in dieser Stadt Schuhe?"
"Ach ja", sagte der Hotelier, "warum eigentlich nicht? Das frage ich mich auch.""Glaubt ihr den nicht an Schuhe?" fragte ich.
"An Schuhe glauben!" antwortete er leicht verärgert. "Selbstverständlich glauben wir an Schuhe! Das ist der erste Artikel unsres Glaubensbekenntnisses. Ich glaube an Schuhe, heißt es. Und jedes Kind lernt es auswendig und weiß, dass Schuhe unentbehrlich sind! Ohne Schuhe kommt niemand aus; die Füße werden erfrieren, sie werden verletzt. Ohne Schuhe wäre das Leben unerträglich."
"Warum tragen sie dann aber keine Schuhe?" fragte ich ganz verirrt, "Ach", sagte er etwas wehmütig, "das ist es eben - warum eigentlich nicht?"
Später, beim Essen, lernte ich einen Mann kennen, der mir anbot, eine kleine Stadtführung zu machen, was ich dankbar annahm. Wir traten zusammen aus dem Hotel. Gegenüber lag ein rießengroßes Backsteingebäude. Er zeigte stolz darauf und sagte: "Das ist eines unsrer schönsten und berühmtesten Schuhhäuser."
"Ach", sagte ich, "werden da Schuhe gemacht?"
"Ja - das heißt eigentlich nein", sagte er etwas verlegen. "Der Leiter ist ein sehr begabter Schuhanpreiser. Jede Woche redet er über Schuhe und warum man sie tragen soll. Neulich soll er einen so ausgezeichneten Vortrag über Schuhe gehalten haben, dass die Leute zu Tränen gerührt waren. Es war ergreifend!"
Gerade in diesem Augenblick bogen wir in eine kleine Gasse ein, und ich sah im Keller einen alten Mann, der Schuhe machte. Ich entschuldigte mich einen Moment, lief in den Laden und fragte den Inhaber, wie es kommt, dass niemand Schuhe bei ihm kaufte. "Niemand hier möchte Schuhe tragen", sagte er. "Sie reden nur davon." Ich kaufte schnell etliche Paare und ging wieder hinaus zu meinem Begleiter.
"Hier", sagte ich, "haben sie Schuhe. Ziehen sie die gleich an! sie werden nie wieder ohne sie gehen wollen!"
Er schaute mich ziemlich entsetzt an. "Danke schön", sagte er, "Vielen Dank, aber sie verstehen uns nicht. Wissen sie: Das tut man hier eben nicht."
"Aber warum nicht?" schrie ich, "Warum um Himmels willen nicht?" "Ach", antwortete er mit dem gleichen verlegenen Lächeln wir vorher, "ach ja, warum? Das ist es eben - warum tun wir es nicht?"
Hugh Price Hughes

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