Grundsätzliches zu unserem Barfuß - Projekt (Hobby? Barfuß! 2)

georg, Friday, 19.10.2001, 15:45 (vor 8376 Tagen) @ [asc]

Der ideologische Charakter des Projekts ist unverkennbar:
Keine Aussage über die Angemesenheit des Schuhetragens,

Ob über dieses Thema wirklich nicht gesprochen wurde, können wohl nur die Teilnehmer der Veranstaltung sagen. Ich hoffe, der Projektleiter kann uns dazu noch etwas sagen.

kein Hinweis, dass Fussdeformationen und -erkrankungen in der Regel auf das Tragen von falsch ausgewähltem Schuhwerk beruhen,

Das stimmt zwar, und sollte auch klar gesagt werden. Der Verzicht auf Schuhe, wo dies angemessen erscheint, führt jedenfalls nicht zu Fussdeformationen - er hilft sogar, sie zu kurieren, und wird von Ärzten empfohlen.

Merkwürdig nur, dass Fusspfleger/ -innen oder Orthopäden in diesem Forum offenbar nicht auftreten.

und wie dem entgegnet werden könnte;

Die Erziehung zur Selbstständigkeit - der Entwicklung der eigenen Fähigkeit, das beste für sich selbst zu tun - ist ganz wichtig! Die Abhilfe - besser passende Schuhe, Verzicht auf diese, wenn möglich - wird doch vermittelt. 12-jährige sollten das _eigentlich_ auch schon wissen.

dafür aber die Implikation, dass Schuhetragen etwas Schlechtes/Kriegerisches sei, s. Lerninhalt "Die römische Legionärssandale als Beispiel für den "technischen Fortschritt" und als Grundlage des Römischen Imperiums" . (Für die darin behauptete These würde ich gern mal die Sekundärliteratur wissen...)

Ich kann leider nicht mit einer Literaturstelle dienen, aber ich habe bereits ebenfalls ähnliches gelesen. Frage im Zweifelsfall in einem Historiker-Forum.<

Ich mache mich doch nicht lächerlich! Wer eine These aufstellt, muss sie auch belegen können. Seriöse Historiker sind allergisch gegen monokausale Erklärungen historischer Ereigniszusammenhänge.
Vor ein paar Jahren hat jemand behauptet, das der Untergang des Römischen Imperiums den römischen Trinkgefässen geschuldet war, die hohe Bleiabsonderungen enthieltenund somit eine schleichende Vergiftung
der Römer bewirkt hätten. Das ist Geschichtsforschung, wie sie Bild-Leser sich wünschen.

Die römischen Zivilisten gingen übrigens auch meistens beschuht durchs Leben, in der Tat stilbildend für ganz Europa bis heute.<

Dem Lernthema "Springerstiefel von Skinheads" hätte -dem Ideologie-Verdacht begegnend-

Ausser dir hatte keiner "Ideologie" im Sinn, glaube ich.<

ein Lerninhalt dienen können, der sich mit der Notwendigkeit des Tragens von Arbeits- bzw. Sicherheitsschuhen etwa bei Bau- und Hafenarbeitern befasst.

S.o. Es ist fast eine philosophische Frage: "Brauchen wir eigentlich wirklich Schuhe"? - mit der klaren Antwort "ja" in etlichen Bereichen. Interessant wird es dort, wo einem keine Antwort einfällt, oder nur "die anderen machen es auch".

Dergleichen war bei dem Projekt aber weder beabsichtigt noch gewollt!

Wie jetzt? Ich verstehe auch nicht, warum das Tragen von Sicherheitsschuhen auf Baustellen irgendwie mit dem Rechtsextremisten zusammen hängt, die in ihrer Freizeit Stiefel tragen<

Mir ging es darum, einer m.W. pädagogisch unzulässigen analogischen Denkschablone entgegenzuwirken, die impliziert, dass Menschen nach äusseren Erscheinungsmerkmalen beurteilt werden dürfen.
Auch Bau-und Hafenarbeiter tragen derbe, mit Stahlkappen versehene Schuhe, die, gegen Menschen eingesetzt, erhebliche Verletzungen, wenn nicht Schlimmeres verursachen können.
Die Tendenz, Menschen nach Äusserlichkeiten zu beurteilen, hat eine unheilvolle Tradition, die von Lavaters "Physiognomik" (ca. 1800) bis zum faschistischen "Kleinen Abriss der Rassenkunde" reicht, in welch letzerem die Behauptung zu finden ist, dass Menschen mit angewachsenen Ohrläppchen zum
Verbrechertum neigen.
Die Gefahr neofaschistischer Gewalt ist nicht in Springerstiefeln zu situieren, sondern in der desolaten, hasserfüllten Psyche ihrer Träger.
Eine sozialpsychologische Thematik, welche 12-13-Jährige vielleicht noch nicht so recht verstehen können.
Der ideologische Charakter des Projekts kann m.E. gerade in des Projektleiters Verkürzung dieser Thematik auf militante Symbolik ersichtlich werden. So präsentiert, bilden sich in der Psyche der Lernenden automatisch Schreckbilder der Gewalt, als deren Gegenstück genauso automatisch die Vorstellung "friedlicher Barfüsser" erscheint (fast schon die Wiederkehr der romantizistischen Vorstellung vom "edlen Wilden").
Die pädagogische Unzulässigkeit des Vorgehens besteht nicht nur darin, dass
die Assoziation des "friedlichen Barfüssers" nicht durch rational nachvollziehbare Vermittlungen, sondern durch das Auslösen von Angst erzielt wird.

... die tun das aus Gruppendruck (auch das sollte hier angesprochen worden sein); weil sie sich nur dann stark fühlen; und weil so das Zusammentreten anderer für den Täter weniger, für das Opfer mehr, schmerzhaft ist.<

Unter Gruppendruck machen Menschen vieles, sie laufen dann auch wider Willen barfuss (wie hier vor kurzem ein Tischtennis-Trainer sehr befriedigt und vom Guru ungelöscht darstellen durfte).

Es ging nur darum, 12-13-Jährige bei ihrer "Abenteuerlust" bzw. dem Lustgefühl zu packen, welches das Herumlaufen auf schlammigen Böden bietet.

Oh, in dem Alter hatte ich gar keine Lust darauf, barfuss im Schlamm herumzulaufen. Jetzt eigentlich auch nicht. Wenn die so grosse Lust darauf hätten, warum machen sie es dann so selten? ;)<

Ich hatte -mich auf die Aussagen der Kinder nach dem Projekt stützend- geschrieben, dass das Erfreuliche des Projekts für die Kinder grösstenteils darin bestand, barfuss auf schlammigen Böden zu gehen (neben "durch einen Bach laufen" oder dem "Blinde-Kuh"-Spiel).
Sie tollten vorher nicht im Schlamm herum, weil sie Erziehungsmassstäbe verinnerlicht hatten, die ihrer
infantilen Schmutzlust hemmend gegenüberstanden. Im Rahmen des Projekts
konnten sie die Verantwortung für ihr Tun auf eine kulturell approbierte Autoritätsperson -den Lehrer- delegieren. Damit ging ein temporärer Hemmungsverlust einher, so dass die eigentlich überwundene, latent aber mehr oder weniger stark vorhandene Schmutzlust wieder aktiviert werden konnte (="Regression"). Ausserhalb des Projektes fehlt den Kindern diese Delegationsmöglichkeit, so dass die verinnerlichten Hygienemassstäbe wieder greifen (können). (Die Delegation von Verantwortlichkeit ist auch der "springende Punkt" im berühmten "Milgram-Experiment" gewesen...)

[...]

Am schlimmsten finde ich es aber, das Thema Barfusslaufen mit dem Thema Anti-Gewalt/Frieden zu verknüpfen. Dass es hier überhaupt einen Zusammenhang gibt, welcher die pädagogische Grundvoraussetzung für die Aufstellung eines solchen Projektes wäre ("oberstes Lernziel"), ist der Projektleiter zu belegen schuldig geblieben:

Ich glaube nicht, dass man durch Barfusslaufen friedlicher wird.<

Mit dieser Aussage bestätigst du mir, dass das Projekt vom Ansatz her bodenlos war.

Ein Zusammenhang ergibt sich vielleicht bei der Toleranz gegenüber Minderheiten, deren Fehlen sich in Extremfall in Zwang und sogar Gewalt äussert.<

Eine eher hilflose Spekulation, deren Evidenz schwach ist.

Siehe auch in der Tabelle: "Thematisierung von seelischer Gewalt gegenüber denen, die z. B. "die falschen Schuhe" tragen".

Barfüssige Naturvölker sind in der Regel nicht friedlicher als schuhetragende Europäer!

Davon kann man wohl ausgehen, auch wenn die Mittel der Gewalt z.T. anders sind .........

Der Anti-Gewalt-Aspekt dürfte auch bei Kindern und Jugendlichen, die eine barfuss zu betreibende Kampf-/Verteidigungssportart wählen, nicht entscheidend sein.

Im Sport geht es aber nicht, jemandem durch Verletzung zu schaden!<

Immerhin geht es auch bei Kampfsportarten darum, Gegner zu "besiegen", wobei Verletzungen nicht ausgeschlossen werden können.

Im nachhinein ist mir noch aufgefallen, dass der Projektleiter nach Auswertung des Projekts sehr unzufrieden sein müsste, denn der intendierte
Antigewalt-/Friedens-Aspekt spielt in den Aussagen der Kinder keine Rolle.
Der Wunsch der Kinder nach Fortsetzung des Projekts kann sich also nicht auf vorgeblich beabsichtigte Friedens-Lernziele stützen, die erfolgreich umgesetzt worden sind!!! Worauf aber dann? Mit dieser Frage schliesse ich.


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