Ich habe mal wieder in den Reiseerinnerungen gekramt... (Hobby? Barfuß! 2)
Hallo, liebe Barfüßer,
heute möchte ich mal wieder von einer Treckingtour erzählen, die mich vor genau 4 Jahren in den schwedischen Sareks-Nationalpark führte. Es ist ein recht ausführlicher Bericht, wer ihn lesen möchte, sollte ihn vielleicht erst herunterladen, um Online-Gebühren zu sparen.
Der Sareks-Nationalpark ist unter Treckern fast schon eine Legende. Er zählt als die letzte richtige Wildnis in Europa, es gibt nur ein oder zwei Schutzhütten für Touristen und keine angelegten Wege. Den Weg muss man sich selber bahnen, in den Tälern oft durch dichtes Weidendickicht. Brücken über Flüsse gibt es nicht, man muss durch. Und die über 90 Gletscher im Sarek speisen viele Flüsse! Der Sarek ist ein Hochgebirge mit extremen Wetterverhältnissen. Das Gebiet ist sicher eine Wildnis, aber es ist längst nicht mehr einsam. Tausend Touristen besuchen jeden Sommer das Gebiet und einige auch im subarktischen Winter, der oft schon im September beginnt und erst im Mai oder Juni endet. Und doch ist man oft die einzige Menschenseele weit und breit, umgeben von einer wunderschönen subarktischen Natur.
Ich startete Ende August von Kvikkjokk aus in den Sarek, alleine und barfuß! Nur einen Begleiter hatte ich: Einen guten Kameraden, der mir bei unzähligen Flussdurchquerungen unschätzbare Dienste leistete: Meinen dicken, hölzernen Wanderstab!
Vor mir knistert das erste Lagerfeuer, mein Blick gleitet über den See Stuor Tata. Hier auf einer leichten Anhöhe errichtete ich mein erstes Nachtlager. Heidelbeeren kann ich direkt in der Zeltapsis pflücken, Mücken gibt es auch noch genug. Vorhin, beim Waschen, ertönte der Ruf einer Kanadagans. Ein erfrischendes Bad spülte den Schweiß von meinem Körper. Für die Jahreszeit ist es sehr warm und die Wanderung ist recht schweißtreibend.
Die heutige Etappe führte mich noch auf dem sehr beliebten Kungsleden, dem "Königspfad" von Kvikkjokk Richtung Pårte. Später zweigte ich dann auf eine unmarkierten aber gut ausgetretenen Pfad Richtung Pårek ab.
Die erste Übernachtung in freier Wildnis ist immer wieder ein besonderes Erlebnis.
Dicker grauer Nebel hängt am Morgen über dem See und hüllt die Landschaft und die Berge ein. Die heutige Ettape führt mich fast ständig bergauf, auf einem verwundenen, felsigen und verwurzelten Pfad, der recht gut zu erkennen ist. Es geht durch Urwald und Sümpfe und gegen Mittag steht die erste Flussdurchquerung an. Es ist ein harmloser Bach, der zwar recht breit, aber nicht tief ist. Die Durchquerung ist eine Wohltat für die Füße.
Während ich später über einem kleinen Feuerchen mein Mittagessen brutzle, kommen mir zwei deutsche Wanderer entgegen, die von den Strapazen der Wanderung völlig geschafft sind und sich nur noch auf die Zivilisation in Kvikkjokk freuen. "Grüne Hölle, eine einzige grüne Hölle!" Nun gut, ich werde es sehen.
Gegen Abend lichtet sich die Wolkendecke, es kommen sogar einige Sonnenstrahlen durch. Von meinem Nachtlager habe ich einen herrlichen Blick, der weit über die einsame Fjälllandschaft reicht. Ich habe den Wald inzwischen verlassen und bin oberhalb der Baumgrenze. Nur ein paar Schritte vom Zelt entfernt plätschert ein munteres Bächlein vorbei.
Am Morgen weckt mich warmer Sonnenschein, doch bald zieht sich der Himmel wieder zu und nur am östlichen Horizont scheint die Sonne noch auf Berge und Seen. Silbrig glänzen die Seen und Sümpfe der Pårekebene, die ich gestern durchquert habe. Der Pfad führt mich über hochmoorartiges Gelände leicht bergauf und es ist herrlich, hier barfuß zu laufen. Dann muss ich ein Schneefeld überqueren, unter dem sich wohl ein Bach verbirgt. Kein Problem! Doch kurze Zeit später wird's zum ersten Mal ernst. Der Fluss Säkokjåkkå führt ziemlich viel Wasser. Ich muss ihn durchwaten. Oberhalb der Watstelle stehen in einiger Entfernung zwei Zelte.
Ich steige in das knietiefe und recht kalte Wasser. Ohne größere Probleme meistere ich diese erste Bewährungsprobe. Das schafft Selbstvertrauen! Doch das war erst der Anfang.
Auf der anderen Seite des Flusses verliert sich der Trampelpfad schnell im steinigen Gelände. Vereinzelte Steinhäufen markieren noch die Gehrichtung zum Njåtjosvagge, dem Tal das auch mein heutiges Ziel sein soll.
Von Südosten her ziehen immer dichtere Wolken herein und da ich mich am Berg befinde, bin ich bald mitten drin in der Nebelsuppe. Die Wegmarkierung, also die vereinzelten Steinhäufen sind bald nicht mehr zu erkennen. Mit dem Kompass bestimme ich nun die ungefähre Gehrichtung, die ich einschlagen müsste, aber das ist nicht so einfach, da im Nebel ja keine Orientierungspunkte zu erkennen sind, nach denen ich mich richten könnte. Also gehe ich mal grob Richtung Südosten, um zum Pass über den Säkok zu kommen. Plötzlich stehe ich vor eine annähernd senkrecht aufragenden Felswand. In der Karte ist solch eine Wand eingezeichnet: Tjeuramåske, aber die sollte weiter nördlich liegen und außerdem ist sie rund 200 Meter hoch, also viel höher, als die hier, vor der ich nun stehe. Ein paar hundert Meter zurück wäre eine gute Stelle zum Zelten gewesen, an einem Bach. Den müsste ich eigentlich wieder finden können. Also versuche ich, wieder zurück zu gehen. Rechts erscheint nun ein Schneefeld, das ich vorhin nicht gesehen habe. Ich bin falsch, suche nach Anhaltspunkten. Da, ein großer Steinhaufen, eine Wegmarkierung! Da muss ich hin! Hinter dem Steinhaufen tut sich ein gähnender Abgrund auf, dessen Tiefe im Nebel noch nicht einmal zu erahnen ist. Instinktiv weiche ich einige Schritte zurück, setze mich am Steinhaufen erst mal hin. Gedanken sortieren. Jetzt bloß nicht durchdrehen! Keine Panik, genau überlegen. Wenn ich oberhalb Tjeuramåske bin, könnte der Abgrund besagte Felswand sein. Dann müsste ich nur westlich immer sanft bergab gehen, dann bin ich richtig. Sollte es nicht Tjeuramåske sein, ist es auch nicht falsch, westlich zu gehen, ich müsste jedenfalls irgendwann den Abhang zum Njåtjostal erreichen. Ich studiere genau die Karte. Dann gehe ich los, mit dem Kompass auf der Hand. Anvisieren kann ich immer nur Punkte, die wenige Meter vor mir sind, also Grasbüschel, markante Steine. Mühselig, aber ich komme vorwärts und nach kurzer Zeit geht es wie erwartet auch sanft bergab, über herrliche Wiesen, auf denen man herrlich barfuß wandern kann. Eine richtige Wohltat, zumal es trotz allem recht mild ist.
Der Nebel lichtet sich etwas und gibt für eine kurzen Moment den Blick frei. Ich stehe an der Talkante zum Njåtjostal. Weit unten erkenne ich den Fluss und einige Seen im Urwald des Njåtjosvagge. Ich befinde mich allerdings noch ein gutes Stück vor der Stelle, an der ich vermutete, zu sein. Egal, ich weiß jetzt, wo ich bin, nämlich im Geländeeinschnitt zwischen den beiden Gipfeln des Säkok. Wenn ich nun immer am Abhang entlang gehe, leicht bergauf, dann komme ich zum zweiten Pass. Der Nebel ist nun auch nicht mehr so dicht, also weiter. Das Gelände hier eignet sich allenfalls für ein Notbiwak, es ist felsig, Wasser gibt es keines. Solche Plätze finde ich überall, falls es wieder komplett zugeht. Nach kurzer Gehzeit komme ich an einen wunderschönen Teich mit Wollgras. Die Sicht ist inzwischen besser, es ist zwar immer noch neblig, aber man kann nun ein- zweihundert Meter weit sehen, und ich erkenne über mir einen Pass. Der Teich ist in der Karte eingezeichnet, der Pass über mir müsste der zweite Säkokpass sein. Alls Klar! Hinter dem Pass geht es hinunter ins Tal. Nach kurzem steilen Anstieg erreiche ich den Pass und dann kommt der erwartete Abstieg. Bald bin ich unterhalb der Wolkendecke, habe wieder freie Sicht. Die ersten Büsche erscheinen, das Vorwärtskommen wird schwieriger. Durch dichten Busch und Birkenurwald steige ich bergab. Nun ist es der dichte Urwald, der mir die Orientierung erschwert, aber ich muss schräg abwärts gehen. Der Wald lichtet sich, schon von weitem hat lautes Rauschen angekündigt, dass ich an einen Fluss komme. Ich muss ihn überqueren. Er hat keinen Namen, aber dafür ist die Strömung umso stärker. Zwei große Felseblöcke liegen im Wasser. Wenn ich da hinüberspringen könnte, würde ich noch nicht mal nasse Füße bekommen. Ohne Rucksack wäre das kein Problem, ein lockerer Sprung und ich bin drüben. Aber mit 30kg Gepäck auf dem Rücken ist das so eine Sache, mit den lockeren Sprüngen...
Unterhalb schäumen die Wassermassen, die sich zwischen den beiden Blöcken wie durch eine Düse pressen. Da möchte ich nicht reinplumpsen! Also entscheide ich mich für eine andere Stelle zum Übersetzen. Da muss ich zwar ins Wasser, aber die Strömung ist nicht ganz so reißend. Bis über die Knie reicht das kalte Wasser, die Strömung ist hart, aber es geht. Der Fluss ist ja nicht mehr als 2 Meter breit.
Weiter geht es durch dichtes Gestrüpp, eine gute Stunde kämpfe ich mich vorwärts, immer wieder Äste auf die Seite biegend, dann lichtet sich der Wald etwas und gibt den Blick frei auf saftige Wiesen. Mitten drin steht eine Hütte. Eine sogenannte "Renvaktarstugan" (Rentierhirten-Hütte). Diese Hütten sind den Ren-Züchtern vorbehalten und verschlossen. Es gibt mehrere davon im Sarek. Hier findet sich auch wieder ein schmaler, kaum erkennbarer Trampelpfad, dem ich nun folge.
Der nächste Fluss kündigt sich rauschend an. Es ist der Ruopsokjåkkå. Er entwässert den mächtigen Berg Pårtetjåkkå, mit seinen Gletschern. (Die samischen Wörter jåkkå für Fluss und tjåkkå für Berg sind leicht zu verwechseln) Doch hier im Tal ist die Strömung des Gletscherflusses nicht mehr so gewaltig und die Durchquerung ist sogar etwas leichter, als die des letzten Flusses.
Hinter dem Fluss schlage ich auf einer herrlichen Wiese mein Nachtlager auf und es gelingt mir sogar ein kleines Feuerchen zu entzünden, obwohl alles nass ist.
Das Panorama hier im Tal ist herrlich, die Gipfel der Berge mit ihren Gletschern verbergen sich allerdings über den Wolken, die langsam wieder dichter werden. Am späten Abend beginnt es zu regnen. Es regnet die ganze Nacht hindurch und auch am Morgen gießt es anhaltend in Strömen.
Gestern, im Nebel, habe ich meine Winterjacke verloren, die außen am Rucksack befestigt war. Hoffentlich werde ich sie nicht noch benötigen. Noch ist es relativ mild und ein Pullover mit Regenjacke reicht allemal. Aber das kann sich bald ändern.
Schon auf dem Weg von Kvikkjokk zum Säkok kam ich langsamer voran, als geplant, gestern im Nebel habe ich auch viel Zeit verloren und nun sitze ich erst mal im Regen fest. Ein Durchnässen der Kleidung möchte ich so früh auf der Tour noch nicht riskieren. Ich habe erst 36 km geschafft und noch ca 120 vor mir. Also bleibe ich erst mal im Zelt. Noch habe ich Zeitreserven. Außerdem ist auch nicht sicher, ob die folgenden Flüsse im Dauerregen watbar sind. So vergeht der Vormittag und es regnet und regnet - fürchterlich.
Am frühen Nachmittag nieselt es nur noch und ich breche auf.
Dichter Urwald stellt sich mir wieder in den Weg, einen Trampelpfad gibt es nicht mehr. Stunde um Stunde arbeite ich mich vorwärts, die nassen Zweige streifen ihre wässerige Last an mir ab, ich komme nur langsam voran. Dann ertönt wieder das Rauschen eines Flusses und bald stehe ich am Ufer und schaue in die Fluten, die doch wesentlich mächtiger und breiter sind, als die letzten Flüsse, durch die ich waten musste. Skaitatj-jåkkå und Palkat-jåkkå vereinigen sich hier, um weiter unten in den Njåtjosjåkkå zu fließen. Zwei rauschend Wasserläufe, die ich hinter mich bringen muss. Also, Hosen ausziehen, Schuhe habe ich ja ohnehin keine und dann rein ins nasse Vergnügen. Und jetzt darf sich mein eingangs erwähnter Kamerad zum ersten mal richtig bewähren. Sozusagen auf drei Beinen taste ich mich Schritt für Schritt hinüber, insgesamt wohl rund hundert Meter. Der zweite Strom ist etwas weniger breit, als der erste. Dazu kommen noch einige kleine Seitenarme.
Auf der anderen Seite steht Njåtjosstugan. Eine von zwei Hütten im gesamten Sarekgebiet, die geöffnet sein müsste. Sie ist es auch. Ich lasse mich erst mal in der Hütte nieder. Kurz nach mir treffen noch zwei schwedische Wanderer, aus der Gegenrichtung ein. Wir unterhalten uns eine Weile auf englisch.
Sie gehen am Abend noch weiter, ich bleibe in der Hütte. Lange brauchen sie, um den Fluss zu überqueren. Sie sind absolut unerfahren, es ist ihre erste Bergwanderung, und dann gleich der Sarek - auf diese Weise kommen jedes Jahr etliche Wanderer hier zu Schaden, manchmal endet es auch tödlich. Auch mein Weitergehen im Nebel gestern war leichtsinnig und riskant. Ich hätte gleich am Anfang zum Fluss umkehren müssen, wo die beiden anderen Zelte stand und abwarten. Es ging gut, aber man kann sich nicht immer auf den Schutzengel verlassen! Was wäre gewesen, wenn sich der Nebel nicht an der entscheidenden Stelle gelichtet hätte? Ich war ja ganz woanders, als ich dachte! Nun gut, ich habe daraus gelernt.
Nachdem die beiden Jungs im Dickicht verschwunden sind unterhalte ich mich noch mit einem weiteren Wanderer, der am Fluss zeltete und die Überquerung der beiden ebenfalls skeptisch beobachtete, immer bereit einzugreifen, falls einer im Wasser stürzt. Man sieht schon, ganz und gar einsam ist man nicht im Sarek.
Bei der Hütte gibt es auch eine kleine Wetterstation, die aber wohl nur ein oder zwei mal im Jahr abgelesen wird. Ich schaue zwischen den Latten hindurch und erkenne 23 Grad als Höchsttemperatur und -8 Grad als tiefste. Das repräsentiert wohl die Lage der letzten 4 Monate.
Ich bleibe heute Nacht in der Hütte, alleine. Nachdem ich die Hütte richtig schön warm geheizt habe, merke ich, dass ich doch nicht ganz alleine bin! Durch die Wärme aufgeweckt krabbeln einige Wildbienen schlaftrunken und vor Kälte noch flugunfähig am mit etlichen Sprüngen verzierten Fenster herum. Doch als das Ofenfeuer erlischt und die Wärme wieder entweicht, verkriechen sich auch die meisten Bienen wieder in ihrem Schlupfloch, das sich wohl irgendwo unter dem Fenster befindet. Die restlichen befördere ich mit einem Brett, auf das ich sie krabbeln lasse, zur Tür hinaus. In meinen Schlafsack hat sich jedenfalls keine verkrochen...
Am Morgen gießt es wieder, unablässig. Ganze drei Kilometer habe ich gestern geschafft, und heute schauts nicht besser aus. Regen, Regen, Regen. Das ist ja eine ganz tolle Stimmung, in dieser grandiosen Umgebung und es passt irgendwie auch hier her. Aber ich muss ja weiter, immer noch habe ich rund 120 km vor mir. Der Schnitt der letzten Tage war nur ganze 9km, das ist zu wenig. Ich habe noch 10 Tage Zeit.
Doch bei diesem starken Regen ist an ein Weitergehen nicht zu denken, ich möchte meinen Schutzengel nicht nochmals herausfordern.
So verbringe ich den Vormittag erst mal in der Hütte. Und am Nachmittag hört es auf zu regnen. Ich breche gleich auf. Die ersten zwei Kilometer geht es wieder durch dichtes Gestrüpp, wie gehabt. Für die zwei Kilometer bis zum Luottojåkkå brauche ich mehrere Stunden. Dort muss ich wieder ins Wasser, die Durchquerung ist fast noch etwas schwieriger (nach dem neuerlichen Dauerregen) , als die letzte vor Njåtjosstugan. Wieder leistet mir mein Kamerad Holzstab gute Dienste.
Nach dem Fluss geht es erst mal bergauf, die erste von drei Talschwellen ist erreicht. Von rund 650 Metern geht es auf die nächste Ebene, rund 800 Meter hoch, dann geht es ein Stück flach weiter, die Vegetation besteht nur noch aus recht niedrigen Sträucher, wie z.B. Heidelbeeren. Ich komme deutlich besser voran. Trotzdem genieße ich immer wieder den Ausblick zurück über die tiefer gelegene Ebene. Zwei Kilometer nur, dann geht es nochmals ca 50 Meter nach oben, an der rechten Talwand entlang. Ein botanisches Paradies, ganz gewiss. Man beachte die Lage nördlich des Polarkreises und dazu noch die Höhenlage. Anderswo auf gleicher Breite gibt es nur Schnee und Eis. Eine Vielzahl unterschiedlicher Pflanzen gedeihen hier auf diesen Wiesen am geschützten Südhang. Farne, Wiesenkräuter und die herrlichsten Blüten, und jetzt, Anfang September, blüht hier der Löwenzahn! Wenn nur noch die Sonne scheinen würde! Alles hier aufzuzählen wäre zuviel, aber es ist herrlich. Kleine Bäche sprudeln an der Felswand herunter und plätschern munter durch die Blumenwiese. Es ist wunderschön.
Ich eile weiter, jetzt kann ich endlich laufen, wie ich möchte, kein Geröll, kein Urwald, kein Nebel, nur laufen, barfuß. Weich und sanft gibt das nasse Gras bei jedem Schritt nach. Es Gras quitscht bei jedem Schritt, das Wasser quillt zwischen den Zehen hindurch, es ist kühl, erfrischend, aber nicht kalt. Ich lauf, nein ich schwebe fast, wie auf einer himmlischen Wiese - bin ich etwa schon dort?, Nein, nein, ich bin mitten im Sarek und jetzt geht es fast ganz eben am Strand dreier Seen entlang. Ein Zelt duckt sich irgendwo dort am Ufer zwischen die Felsen, doch ich ziehe weiter, wie im Rausch.
Am Ende der Seen geht es wieder steil nach oben, noch mal 100 Meter. Oben bin ich auf der Wasserscheide angekommen. Ich lege eine Pause ein, genieße noch mal die Aussicht über das Tal, das ich nun hinter mir habe. Vor mir liegt die Weite Padjelanta, eine Hochebene mit sanften Hügeln. Sogar die Sonne blinzelt kurz zwischen den Wolken hindurch.
Noch ein kurzes Stück, dann lasse ich es für heute gut sein. Immerhin 15km habe ich noch geschafft. Das stimmt etwas hoffnungsvoller. Direkt am See Skiejakjauratj errichte ich mein Lager, ein schöner, zufriedener Abend.
Doch das währt nicht lange, schon bald zieht wieder Nebel auf. In der Nacht beginnt es wieder zu regnen, es schüttet! Und es stürmt. Ich befinde mich hier genau auf der höchsten Stelle am oberen Talausgang. Rechts und links ragen steile Berge auf und der Wind pfeift hier, wie durch eine Düse. Der Sturm rüttelt erbarmungslos an der Zeltplane. Doch es hält. Ich habe es rein zufällig genau längs der Windrichtung gebaut. Die ganzen Tage war kein Sturm, ich habe diese Möglichkeit am Abend nicht in Erwägung gezogen.
Auch am Morgen toben die Wetter noch. Die Sichtweite draußen ist gleich Null! Ich sehe noch nicht mal das Seeufer, das nur ein paar Schritte vom Zelteingang entfernt ist. Der Regen prasselt mit Getöse auf die Zeltplane, sogar die allernotwendigsten Gänge nach draußen kosten große Überwindung. Aber manchmal muss es eben sein...
Die Stunden gehen dahin. Und es schüttet. Schon in Njåtjosstugan habe ich Möglichkeiten überdacht, die Tour zu verkürzen. Eine davon wäre, vom jetzigen Standort aus über Tarraluoppal und Tarrekaise zurück nach Kvikkjokk zu wandern. Nachdem nun heute wieder Stillstand herrscht, besteht bei unveränderten Witterungsverhältnissen kaum noch Hoffnung, die Tour wie geplant fortzuführen. Die Zeit wird einfach zu knapp. Es sind ja immer noch über 100km und nur noch 8 Tage. Ich entschließe mich für den Abbruch und den Rückweg über Tarraluoppal.
Erst zum Nachmittag legt sich das Unwetter.
Ich breche auf, Marschrichtung: Tarraluoppal! Zunächst geht es um zwei kleine Seen herum, Skiejakjauratj und Tjågnårisjauratj, dann über Wiesen. Ich muss einen Rentierzaun überklettern, dann geht es weiter in ein namenloses flaches Tal. Es ist herrlich zu gehen, über Wiesen, durch kleine Wasserläufe, eine Bilderbuchlandschaft. Am Fluss Vassjajåkkå schlage ich schon recht früh mein Lager auf, an einer Stelle, wo der Fluss einen kleinen See bildet. Ich habe nun Zeit, der Padjelantaweg, den ich morgen erreichen werde, ist markiert und es gibt in regelmäßigen Abständen bewirtete Hütten. Also keine Probleme mehr.
Am Abend kommt sogar die Sonne heraus. War es vielleicht voreilig, abzubrechen? Sollte das Wetter etwa jetzt besser werden? Es wird jedenfalls ein ganz schöner, sonniger Abend. Später kommen auf der anderen Flussseite andere Wanderer an und schlagen ihr Zelt auf, eine Frau und ein Mann, mit Hund. Es sind Deutsche. Das höre ich, wenn sie nach ihrem Hund rufen. Es ist eigentlich verboten, Hunde mit in den Nationalpark zu nehmen. Nur Schlittenhunde sind erlaubt, im Winter. Wenn sie erwischt werden, können sie eine saftige Geldbuße bekommen.
Sie bemerken mich nicht. Mein grünes Zelt hebt sich kaum von der Umgebung ab und steht ohnehin im Schutze eines Felsens. Die Frau ist nicht gerade kälteempfindlich. Sie zieht sich splitternackt aus und geht zum ausgiebigen Waschen in den Fluss. Die Lufttemperatur beträgt etwa 8°C! Ich bin nicht mehr der einzige, der barfuß im Sarek ist! Das heißt, genaugenommen, bin ich ja gar nicht mehr im Sarek, sondern im angrenzenden Padjelanta-nationalpark. Der Fluss bildet die Grenze. Die Badenixe ist somit innerhalb des Sareks.
Die Nacht wird recht frisch. Am Morgen wird bei strahlendem Sonnenschein in mitten einer wunderschönen Berglandschaft erst mal ganz gemütlich gefrühstückt und gesonnt. Die Berge spiegeln sich im Wasser des Sees.
Man möchte diesen friedlichen Ort nur ungern verlassen. Doch am späten Vormittag breche ich dann auf und erreiche gegen Mittag bei Tarralouppal den Padjelantaweg, dem ich für den Rest des Tages folge.
Viele Menschen teilen den Weg mit mir. Zwei ältere Schweden fragen mich, ob ich Probleme mit den Schuhen hätte, weil ich barfuß bin und boten mir ihre Hilfe an. "Nej, nej, jag går alltid barfota!" Sie lächeln und ziehen ihres Weges. Ich sehe sie später nochmal, als sie gerade am Lagerfeuer ihr Abendessen brutzelten. Kurze Zeit später errichte auch ich mein Nachtlager. Das Feuer brannte im nassen Holz gerade so lange, wie ich brauchte, eine Tasse Suppe zum Kochen zu bringen. Es begann auch wieder zu regnen.
Am Morgen ging es weiter Richtung Sommarlappa. Hier auf dem ausgetretenen steinigen Padjelantaweg ist es bei weitem nicht so angenehm, barfuß zu laufen, wie in der freien Wildnis des Sarek. Am Mittag erreichte ich die Hütte und plauderte mit der Wirtin. Sie erzählte mir, dass es in der Sturmnacht vorgestern etliche Zelte zerfetzt hat. Wettermäßig soll es in den nächsten Tagen deutlich kälter werden, der Jahreszeit entsprechend. Sie erzählt mir, dass zwei alte Männer vermisst werden und fragt, ob ich sie gesehen hätte. Ich erzählte von den beiden, denen ich gestern begegnet bin. "Nein, nein, die waren hier, nein, die Vermissten sind viel älter, so um die 75!" Die habe ich allerdings auch nicht gesehen. Während unserer ganzen Unterhaltung wetzt die ca 50jährige ein Küchenmesser. Schon ein seltsames Gefühl! Sie bietet mir frisch gepflückte Beeren an und empfiehlt mir noch einen schönen Platz zum Zelten, den ich bis abends erreichen müsste.
Ich nehme beides an, die Beeren und die Empfehlung und zelte am Abend bei leichtem Regen an einem wunderschönen kleinen See. Das Zelt steht etwa 20 Meter vom Ufer entfernt am Waldrand und ich brühe gerade Tee, als ich hinter dem Zelt plötzlich ein grunzendes Geräusch vernehme. Ich horche. Erneut höre ich dieses seltsame tiefe Grunzen. Dann ein mächtiges, schweres Trampeln. Der moorige Boden bebt unter schweren Schritten. Ein mächtiger dunkler Schatten beugt sich über das Zelt. Mein Herz trommelt bis zum Halse hoch. Eine riesige Nase schiebt sich langsam vor der geschlossenen Zeltplane in Richtung dem innerhalb stehenden Teekessel. Ich liege steif im Zelt, kann nur die Konturen eines riesigen Tieres durch die Zeltplane erkennen. Als die Nase fast das Zelt berührt, belle ich los wie ein Hund. Der Kopf schnellt nach oben, die Erde bebt, Erdklumpen platschen auf die Zeltplane, der Gigant flieht. Nach ein paar Minuten öffne ich vorsichtig die Zeltplane und sehe einen halbwüchsigen Elch, der am Ufer des Sees steht und erstaunt zu mir her blickt.
Als dann der Suchhubschrauber (wegen der beiden vermissten Senioren) über uns hinweg donnert, sucht der Elch endgültig das Weite.
Am Morgen wandere ich weiter. Nach kurzer Zeit sehe ich gleich neben dem Weg einen riesigen Elchbullen, mit 18 Enden! Wer sich auskennt, weiß, was das für ein kapitaler Bursche ist. Eine Traumtrophäe für Jäger. Ich beobachte ihn bestimmt 20 Minuten lang aus etwa 10-20 Metern Entfernung. Er stört sich überhaupt nicht an mir. Als ich ein kurzes Stück (vielleicht 200m) weiter gegangen bin, holen mich von hinten zwei Männer ein. Sie sind Jäger, Samen! Sie sprechen mich an, auf englisch, ob ich einen Elch gesehen hätte. Ich bin verwundert, gehe eigentlich davon aus, dass sie ihn auch gesehen hätten. "Ja, ich habe ihn gesehen!" "Wo?" Jetzt bin ich total verwirrt. Sie müssen ja fast über ihn gestolpert sein. "Gleich dort hinten!" Ich bereue diese Auskunft gleich wieder. "Wie groß war er? How many...?" Er bedeutet mit den Händen ein Geweih, um auszudrücken, was er meint. "Achtzehn!" Die beiden schauen sich an "Oh, det är en stora!" (das ist ein Großer!) "Wo ist er hin?" "Äh, er ist fort gerannt, dort runter zum Fluß!", lüge ich. In Wirklichkeit ist er genau entgegengesetzt Richtung Berg gezogen. Ich hoffe, dass sie ihn nicht finden. Was sind das für Flaschen!
Gegen Mittag erreiche die Hütten von Tarrekaise. Dort werde ich erst mal ganz energisch von einem halbgroßen Hund verbellt. Dann kommt eine älter Dame, die wohl die Wirtin ist, mit zwei Wassereimern vom Fluss hoch und lacht. "Gehen Sie doch rein, er bellt nur!" Sie spricht mich gleich auf Deutsch an. Ich bin etwas verdutzt. "Woher wissen Sie, dass ich deutsch bin?" "Das sieht man einfach, Schweden gehen gleich in die Hütte rein, Deutsche bleiben draußen, weil sie Angst haben, dass es was kostet!" Baff! Sie ist eine Frohnatur. Bestimmt schon an die 70. Sie ist begeistert, das ich barfuß laufe: "Das finde ich toll, wenn man das kann. Wir sind früher immer barfuß gelaufen, im Sommer. Das kannten wir gar nicht anders, machten alle so. Naja, jetzt bin ich 70, wenn man alt ist, geht das nicht mehr so, auch wegen der Kälte. Das ist wirklich gut! Gehen sie die ganze Strecke barfuß, auch in den Steinen?" "Ja, fast immer!" "Toll!" Man merkte richtig, wie der "Film" ihrer Jugendjahre an ihr vorbeizog. "Woher können Sie so gut Deutsch?" "Mein Mann ist aus Hamburg!" "Und Sie sind alleine hier in der Wildnis?" "Ja, jeden Sommer! Er bleibt lieber in Stockholm, braucht seine Dusche, seinen Fernseher. Und ich mag die Natur, ich fühle mich wohl hier, lerne jeden Tag andere Leute kennen, aus der ganzen Welt!" Sie führt mich hinter's Haus. "Sehen Sie, zum ersten Mal habe ich es diesen Sommer geschafft, eigene Kartoffeln zu ernten. Es war ein sehr heißer Sommer, wir hatten wochenlang um 30 Grad. Da kamen die Wanderer hier den Weg hoch, mit ihren schweren Rucksäcken, mit rotem Kopf und von Mücken geplagt. Sie hatten fast einen Hitzschlag. Aber die Deutschen kommen nicht rein, sie bleiben lieber draußen in der Hitze sitzen. Wenn man sie fragt, warum sie nicht rein kommen, fragen sie, was das kostet. So'n Quatsch. Das kostet natürlich nichts! Kommen Sie rein, ruhen Sie sich aus, ich habe es schön kühl gemacht, hier drin.!" Ich erzähle ihr von dem Elch gestern abend und dem heute vormittag und von den samischen Jägern. Sie lacht: "Ja es gibt viele Elche hier!" Dann erzählt sie mir, dass die Jäger bei Ihr wohnen. Den ganzen Sommer über ist ein Elchpaar mit Baby jeden Tag vor die Hütte gekommen zum Äsen. " Sie waren ganz zutraulich, hatten gar keine Scheu. Jetzt haben sie ihn abgeschossen. Sie weinte fast. Die saßen da drin, haben gesoffen und Karten gespielt. Dann kamen die Elche. Wenn der dumme Hund nicht gebellt hätte, hätten die Jäger die Elche gar nicht bemerkt, so besoffen waren die. Und dann haben sie den Bullen einfach vom Fenster aus abgeknallt. Das ist doch keine Kunst, das kann jeder!"
Sie ist gerade dabei, die Hütten winterfest zu machen, alles aufzuräumen. "Ende dieser Woche ist die Saison vorbei, dann kommt die Kollegin von Sommarlappa hier her und wir machen einen drauf! Dann wird erzählt, von all den komischen Typen, die den Sommer über hier waren. Da gibt's immer viel zu lachen! Und dann wandern wir zusammen runter nach Kvikkjokk. Das Gepäck wird vorher mit dem Hubschrauber geholt" "Dann werden sie sicher auch über den barfüßigen Typen lachen...?" "Ja, natürlich!", lacht sie, "ist doch nicht schlimm, aber schon ungewöhnlich!" Ich helfe ihr noch etwas, beim Aufräumen.
Dann wandere ich weiter. Am Ende des Sees Tarraure finde ich einen herrlichen Platz zum Übernachten. Und heute regnet es nicht. Es ist ein idealer Platz, um Abschied zu nehmen.
Am nächsten Tag erreiche ich den Bootsanleger am Anfang des Padjelantaweg, von wo aus zwei mal täglich ein Boot nach Kvikkjokk fährt. Ich muss warten, bis zum Morgen und übernachte am Bootssteg.
In Kvikkjokk habe ich noch einen Tag Zeit und nutze das herrliche Wetter zu zwei Kurzwanderungen in der Umgebung. Am Abend genieße ich die Abendstimmung auf dem Berg Sjnjerak. Es ist sehr kalt. Wolken ziehen auf, es beginnt zu schneien. Der lange Winter beginnt, hier heroben, in Sapmi, in Sameland, wie die Einheimischen ihr Lappland nennen.
Es war nicht voreilig, umzukehren, vor allem angesichts der Tatsache, dass ich ja im Nebel meine Winterjacke verloren habe.
Ich erkundige mich, ob die beiden vermissten Wanderer gefunden wurden. Man hat sie gefunden. Einer hatte sich im Sarek ein Bein gebrochen, der andere in der Aufregung eine Herzattacke erlitten. Sie wurden beide gerettet.
Der Mann, bei dem ich übernachte, zeigt mir eine Elchtrophäe von einem Elch, der gestern bei Tarrekaise erlegt worden ist. Er hatte 18 Enden.... Sie haben ihn also doch erwischt.